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Ein faszinierendes philosophisch-literarisches Gedankenspiel, das anregt, die Maximen des eigenen Lebens zu überprüfen.
Wie finden wir das wirkliche Leben? Im Rückzug in unberührte Natur? Nach dem Tod in der Unsterblichkeit? Durch das Leben unserer Kinder? Diese Fragen treiben auch den fiktiven Lyriker und Philosophen Moritz Brandt um. Sein Freund Aaron sortiert dessen Nachlass, stößt dabei auf Tagebücher und Essays, in denen Brandt über das wirkliche Leben nachdenkt. Je mehr er sich aber in diese Texte vertieft, desto häufiger fragt sich Aaron: Woher kommt der Wunsch, sich zu verwandeln,…mehr

Produktbeschreibung
Ein faszinierendes philosophisch-literarisches Gedankenspiel, das anregt, die Maximen des eigenen Lebens zu überprüfen.

Wie finden wir das wirkliche Leben? Im Rückzug in unberührte Natur? Nach dem Tod in der Unsterblichkeit? Durch das Leben unserer Kinder? Diese Fragen treiben auch den fiktiven Lyriker und Philosophen Moritz Brandt um. Sein Freund Aaron sortiert dessen Nachlass, stößt dabei auf Tagebücher und Essays, in denen Brandt über das wirkliche Leben nachdenkt. Je mehr er sich aber in diese Texte vertieft, desto häufiger fragt sich Aaron: Woher kommt der Wunsch, sich zu verwandeln, wirklich zu werden? Meisterhaft verknüpft Michael Hampe Erzählung und Reflexion, damit wir erkennen, wie uns die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit daran hindert, mit unserem Leben klarzukommen.
Autorenporträt
Michael Hampe, geboren 1961 in Hannover, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Psychologie und Biologie in Heidelberg und Cambridge. Nach Professuren in Dublin, Kassel und Bamberg ist er seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Er lebt in Freiburg und Zürich. Zuletzt erschienen: Tunguska oder Das Ende der Natur (2011), Die Lehren der Philosophie (2014) und Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben (2020).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2020

Was ist das wirkliche Leben?
Michael Hampe über die Wildnis

Michael Hampe, geboren 1961 in Hannover, lehrt seit 2003 Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Im bürgerlichen Sinne ist er ans Ziel wissenschaftlichen Lernens, Denkens und Schreibens gelangt, er ist Professor, Teil einer Institution, die Wissen nach besonderen Standards pflegt, verwaltet und generiert. Ginge es nur um die wissenschaftliche Karriere, könnte er mit seinem professionellen Los zufrieden sein. Er ist es nicht.

In der Zeit als Lehrer und Forscher in der Schweiz schrieb er zwei Bücher, in denen er sich mit Ideen beschäftigte, die im Alltag und in der Gegenwart eine Rolle spielen, "Das vollkommene Leben - Vier Meditationen über das Glück" und "Tunguska oder Das Ende der Natur". Beide Bücher verstand er als Beispiele für ein Projekt, das er, im Gegensatz zum "doktrinären Philosophieren", wie es seiner Erfahrung nach an den Universitäten geübt und gefordert wird, narrative Philosophie nennt.

Gedanken über diese Form des Philosophierens machte er sich in einem traditionell akademischen Buch, das den Titel "Die Lehren der Philosophie - Eine Kritik" trug und 2014 erschien. Die zweite Ausgabe wurde um Stellungnahmen von Kollegen erweitert. Die Philosophin Petra Gehring legte einen Finger auf eine schwache Stelle der Argumentation Hampes, die unkritische Verwendung einer zentralen Begriffswolke: "das Leben".

In Hampes Antwort auf die Einwände, die ebenfalls abgedruckt wurde, findet sich ein Hinweis auf den Begriffsrahmen seines intellektuellen Tuns und ein Ausblick in die Zukunft seines Denkens. Er sei, schrieb er, durch Whitehead, die Pragmatisten und Wittgenstein philosophisch sozialisiert worden. Doch er werde, angespornt durch die kollegiale Kritik, versuchen, jene "semantische Autonomie" gegenüber dem früh gelernten Vokabular zu erreichen, die für die Herausbildung einer nichtdoktrinären, narrativen Philosophie notwendig sei. Er wolle sich, das war sein letzter Satz, wieder melden, wenn er ohne den Begriff Leben und ohne den Begriff der Erfahrung auskomme.

Jetzt ist ein dritter Versuch in der Reihe narrativen Philosophierens erschienen, er handelt von der Wildnis, der Seele und dem Nichts, und der Begriff Leben spielt immer noch eine zentrale Rolle. Ist der dritte Band zu früh erschienen oder die Hoffnung auf semantische Autonomie zerstoben?

Das Buch ist eine Art Zwischenmeldung Hampes darüber, wie weit er gekommen ist in seinem Versuch, den Begriff Leben auszuhebeln und aufzulösen. Dafür schaffte er sich, wie ein Naturwissenschaftler, einen Rahmen, der enger ist als das ganze Leben: die Idee vom wirklichen Leben. Eine letzte, überzeugende Antwort zu Petra Gehrings Einwand legt er mit diesem Buch deshalb nicht vor. Aber Hampe ist ein Philosoph im traditionellen Sinne. Er wird ganz sicher eine umfassende Theorie nachreichen, die sich dem Problem stellt und den wissenschaftlichen Standards von Begründungen genügt.

Wie seine beiden Vorgänger zeichnet sich "Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts. Über das wirkliche Leben" durch eine Konstruktion aus, die auf wenige gestalterische Bestandteile zurückgreift, Rahmenhandlung, analytische Gespräche und Essays, die Anlass zu weiteren analytischen Gesprächen geben. Hampe schreibt keine Romane. Das macht sein Kollege Peter Bieri unter dem Künstlernamen Pascal Mercier. Bei Hampe geht es zu wie auf der Bühne eines Theaters, wo die Schauspieler sich nicht bewegen und beim Aufsagen des Textes in die Luft starren. Experimente müssen kontrolliert ablaufen.

Ein Mann und ein weibliches Exemplar der Künstlichen Intelligenz, er heißt Aaron, sie Kagami, unterhalten sich in einem Haus in Zürich. Draußen herrscht, so wird berichtet, west-östlicher Krieg. Der Mann isst und kocht gerne, er hat sein wirkliches Leben darin gefunden, dass er es sich gutgehen lässt. Dennoch sitzt er an einer Biographie. Er schreibt über einen Dichter, der Philosophie in England studierte und sich Gedanken über die Wildnis, die Seele und das Nichts machte, über gängige Modelle der Idee vom wirklichen Leben. Der Dichter wird nicht alt. Nach den drei Essays stirbt er an Krebs.

Der Mann und die Maschine reden über die Tagebucheinträge und die Aufsätze des Dichters sowie über die Kommentare einer Professorin, die den jungen Philosophiestudenten in England unter ihre Fittiche nahm. Alle Texte werden aus einem Archiv gezogen, das von der Künstlichen Intelligenz verwaltet wird.

Viele Bekannte aus dem wirklichen Leben kommen vor, Kant, Michael Krüger, Spinoza, Wittgenstein, und viel Bekanntes, die geliebte Natur in ihrer Lebensfeindschaft, die Wissenschaft mit ihren tödlichen Allgemeinbegriffen, die Weisheit mit ihrer wärmenden Nähe zum Leben, der große Tod und die noch größere Angst vor dem Ichverlust, die Kunst als Ausdruck des Individuellen, des Einzelnen, und der Buddhismus mit seiner Vorstellung von der Wiederkehr der Lebensenergie. Hampes Versuche, der universitären Philosophie zu entkommen, hängen in den drei Bänden an einem akademischen Skelett, sie brauchen die ständige Referenz auf die Größen des Fachs, das Referat von Traditionsbeständen, die Inszenierung von philosophischen Streitgesprächen und Erklärungen in eigener Sache, die auf Distanz zur Wissenschaft und auf Verwandtschaft mit der Kunst pochen. Hampe bleibt, auch als narrativer Philosoph, Akademiker.

"Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts" ist ein Geflecht von Kommentaren. Die Figuren haben Gedanken, aber niemand weiß, warum es in ihrem Kopf gerade so und nicht anders zugeht. Das Leben als Passion und Schweigen zerfällt in viele Worte und alte Begriffe, in Essays, Tagebucheinträge und Kommentare. Über den Mangel an Existenzgefühl als den dunklen Grund des Denkens kann auch eine eingestreute Reflexion darüber, dass eine Biographie eine Vorstellung vom Ich ihres Helden gut gebrauchen könne, nicht hinwegtäuschen.

Aaron wird im Garten vor seinem Haus sterben, niedergestreckt von einer Rakete, die eine Drohne auf ihn abgeschossen hat. Als hätte den Autor der Mut vor seinen Gedanken verlassen, legt der letzte Satz des Buches die Verantwortung für den ganzen Text, für Einwände wegen seiner Schwächen und Unbeholfenheiten, in die Hände der weiblichen Maschine, die ihn aufgeschrieben und in ihrem Archiv gespeichert haben soll. Spricht aus diesem Versteckspiel die Hoffnung, dass für Maschinen, die als Autoren auftreten, andere Maßstäbe der Kritik gelten könnten als für Autoren, die Menschen sind?

Hampe, der auch Biologie studierte, erwartet von sich als Philosoph mehr als die Beherrschung eines Wissensbereichs. Die Souveränität, mit der er sich dort bewegt, bildet die Grundlage einer akademischen Tätigkeit, zu der die Publikation von wissenschaftlichen Büchern wie "Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus" und "Kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs" gehören. Fern der universitären Beschränkungen auf bestimmte Denkweisen und Darstellungsstile möchte er eine selbständige, von fachlichen Zwängen befreite Stimme entwickeln, um dem gerecht zu werden, was er unter einer sinnvollen Funktion der Philosophie versteht.

Welchen Nutzen hat die Philosophie, wenn sie sich nicht mit einer wissenschaftlichen Existenzform begnügen möchte, durch die ihr Überleben in der Universität gesichert ist? Hampes bisherige Antworten ließen sich vielleicht so zusammenfassen: Die Philosophie nützt dem Leben, insofern das Leben nicht nur gelebt, sondern auch als solches gedacht sein will, um zu sich selbst zu finden, zu einer Lebenseinsicht und Lebenshaltung, wie weit sie auch in den Kosmos reichen mag. In der narrativen Philosophie verbinden sich das Leben (das Individuelle und Einzelne, das auf eine bestimmte Weise und nicht anders ist) und die Philosophie (die gedachte Individualität und Einzelheit, wer, was und wie sie ist) in pädagogischer Absicht, um als Text und Vortrag lehrreich für andere zu sein. Die üblichen Allgemeinheiten, vor denen Hampe warnt, dienen seiner Ansicht nach dazu, das Individuelle und Einzelne in Begriffen untergehen zu lassen, denen die akademischen Philosophen die Herausbildung und den Erhalt ihres Fachs verdanken. Hampe sucht für das, was ihm vorschwebt und was er sagen möchte, nach neuen Formen, nach neuen Beschreibungen. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, ist schwer.

Der letzte Satz aus den Nachträgen zu den "Lehren der Philosophie" wartet noch auf seine Erfüllung, die der erste Satz einer wirklichen Geschichte sein wird, in der gleichsam die Begriffe durch Verben, die Restbestände des Allgemeinen durch individualisiertes Handeln ersetzt worden sind, das Leben durch leben, die Erfahrung durch erfahren. Die Seele wird verschwinden, der Geist, die Wirklichkeit, die Natur, der Mensch, der ganze auf Stabilität zielende Apparat, den auch eine Maschine wie Kagami zu beherrschen gelernt hat. Bis es so weit ist, werden noch viele Leser, die die nötige Geduld und Konzentrationsfähigkeit für philosophische Exkursionen mitbringen, Michael Hampes Bücher mit Gewinn gelesen haben.

EBERHARD RATHGEB

Michael Hampe: "Die Wildnis, die Seele, das Nichts: Über das wirkliche Leben". Hanser Verlag, 304 Seiten, 26 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.05.2020

Höhere Existenz
Philosophie ist mehr als nur ein Fach: Michael Hampe sucht nach neuen Wegen,
um wieder über die ewigen Fragen reden zu können
VON BURKHARD MÜLLER
Wie wäre heute Philosophie zu treiben? Das heißt, Philosophie verstanden nicht als Fachdisziplin wie Mietrecht oder Leichtbautechnik, sondern als die systematische Diskussion und Darlegung, was Menschen sind, sein sollen, brauchen und erkennen können, also das, was schlechthin alle angeht? Die gegenwärtige Universitätsphilosophie, daran lässt Michael Hampe, Professor für Philosophie an der ETH Zürich, in seinem Nachwort keinen Zweifel, bekommt das jedenfalls in ihrer akademischen Ausdifferenzierung nicht oder nicht mehr hin; es müssen, meint er, andere Diskursformen her, damit die Fragen, die nie aufgehört haben wichtig zu sein, überhaupt wieder angemessen verhandelt werden.
Hampe, Jahrgang 1961, dankt seiner Hochschule, dass sie ihm ein Freisemester gewährt hat, damit er dieses Buch schreiben konnte. Mit anderen Worten, um tun zu können, wofür er bezahlt wird, Philosophie, muss er sich von diesem Beruf befreien; er darf das Wesentliche seiner Profession nur als Hobby ausüben. Hampe hat schon einmal versucht, aus dieser Sackgasse herauszukommen. In „Tunguska oder das Ende der Natur“ hatte er vier verschiedene Wissenschaftler in einem postapokalyptischen Niemandsland zusammengeführt und miteinander reden lassen, dazu einige Essays eingestreut und mit einem Text geschlossen, in dem er, der Autor, recht behielt und alles Vorherige mehr oder weniger überflüssig machte. Das war, trotz einiger guter Einfälle und Formulierungen, formal sehr unbefriedigend, weil eine echte Vielstimmigkeit auf diesem Weg nicht zu erzielen ist.
Jetzt versucht er es nochmals und anders. Wieder verlegt er die aktuelle Situation in die nahe Zukunft einer Krisenzeit, wo man selbst im eigenen Garten nicht vor Drohnenangriffen sicher ist, und wieder führt er vier Stimmen ein. Aber diese Stimmen sind diesmal nicht nur inhaltlich unterschiedlich gewichtet (in „Tunguska“ hatten einige nur Unfug erzählen dürfen), sondern substanziell getrennt. Im Zentrum steht Moritz Brandt, abgebrochener Philosophiestudent, Lyriker, Boxer, Asket, der in verschiedenen Lebensstufen Texte über die Conditio humana verfasst hat und inzwischen an einem Hirntumor gestorben ist. Dass er Boxer und Lyriker zugleich sei, wird mehr behauptet als gestaltet, es soll wohl eine gewisse zäh-sensible No-Nonsense-Mentalität auch für seine intellektuellen Bestrebungen beglaubigen. In seiner Jugend zeigt er einen rebellischen Zug, der sich in einer eigenwillig maulenden Rechtschreibung niederschlägt. „Imgrunde is dies ganze Gerede von Stufn der höhern Existenz, unserer Beseeltheit, die die Tiere vermeintlich nich habn, dem noch nich wirklichn und dem wirklichn Lebn, der Überlegnheit der Menschheit mit ihrer Sprache, ihrm kulturelln Lebn, ein riesngroßer Quatsch, Streber-Religion“. „Vermeintlich“ neben „nich habn“
- irgendwas gelangt hier nicht zur Bindung des überzeugenden Gesamthabitus.
Den Rahmen zu diesen Texten – teils durchgearbeitete Essays, teils Briefe oder Tagebucheinträge – bildet der Plan seines alten Freundes Aaron, über den Weggefährten Moritz eine Biografie zu schreiben. Aaron, ehrgeizlos aber feinsinnig, ein Schlemmer und nicht schlank, hat sich in schlimmer Zeit mit hinlänglichen Vorräten in seiner Züricher Wohnung verschanzt. Ihm zur Seite steht Kagami, jüngere, weit fortgeschrittene Schwester der Automatenstimme Siri, die höflich wie eine bezahlte Gesellschafterin mit ihm Diskussionen über Philosophie und Moritz führt. Sie hat jederzeit alle „Archive“ zur Verfügung; dies besitzt für den Roman (und um einen solchen handelt es sich trotz allem) den Vorzug, dass Quellenangaben ohne Fußnoten als dialogische Beiträge ins Geschehen des Buchs hereingeholt werden können. Kagami würde jeden Turing-Test bestehen, oder allenfalls zusammen mit Aaron durchfallen; und es ist nicht ganz ersichtlich, welche zusätzliche Dimension Hampe sich durch Einbau dieser KI versprochen hat. Schließlich gibt es auch noch Moritz’ alte Mentorin Dorothy Cavendish aus Cambridge, philosophische Christin, deren Stimme am Rande mitzirpt wie der Grillo Parlante bei Pinocchio.
Diesem Rahmen kommt konstituierende Bedeutung für das zu, was Hampe vorhat. Zweifellos empfiehlt es sich bei einem Werk, das den Titel trägt „Die Wildnis, die Seele, das Nichts: Über das wirkliche Leben“, nicht allzu geradlinig naiv auf die Themen zuzusteuern, sondern sie irgendwie zu perspektivieren. Das „wirkliche Leben“, um Gottes willen! Gibt es ein anderes? Alle Tiere führen es, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Nur der Mensch kriegt das offenbar nicht hin; aber auch wenn er 80 Jahre lang unglücklich gewesen sein sollte, war dieses Unglück bestimmt nicht weniger wirklich, als das Glück es gewesen wäre.
Von den drei Großthemen verdienen zwei genauere Beachtung. Die Wildnis als drittes wäre besser unterblieben. Sie taugt nicht zum schmerzlichen Scheidewasser des authentischen Lebens, weil sie längst nicht mehr das große Außen, sondern nurmehr das kleine Innen des bedrohten Schutzgebietes darstellt; und wer sie, erfüllt von postpubertärem Reinigungsbedürfnis, aufsucht, sorgt höchstens für ihre weitere Schrumpfung und Vermüllung.
Aber wie steht es mit der Seele? Da gibt es den griechischen Thymos, der den physischen Mut als Inbegriff der Lebenskraft nimmt, neben dem Pneuma, der das Wesentliche in den Hauch des Atems setzt, und dazu Nous, die Einsichtsfähigkeit. Bis sich aus dem allen die erlösungsfähige unsterbliche Seele amalgamiert, vergeht viel Zeit, ehe sie sich dann unter der Attacke der säkularen Wissenschaft wiederum aufzulösen beginnt. Das alles stellt Moritz auf fassliche, zuweilen ironisch aufmüpfige Weise dar, und man liest es gern und leicht. So können Platon, Kant und die Bibel auf je einer halben Seite ins Visier treten, ohne dass es zu dogmatischen Aushärtungen käme. Wenn Moritz sagt, das Verhältnis Leib-Seele sei aus der Anschauung des Ochsenwagens gewonnen, der nicht mehr weiterfährt, nachdem man den Ochsen ausgespannt und in den Stall geführt hat, so mag das erst mal buchstäblich verkehrt sein; aber es enthält doch einen Gedanken zum möglichen Ursprung einer keineswegs selbstverständlichen Idee. Das Fahrlässige solcher Gedankengänge erfährt im Anschluss seine Relativierung durch Aaron und Kagami, die ihrerseits eine recht lässige Form des Dialogs praktizieren, wie er sich eben so beim Gemüseschnippeln ergibt. Das hat durchaus seinen intellektuellen Reiz. Vielleicht kommt man den großen Themen nur bei oder nahe, indem man sie zweimal nacheinander, situationell versetzt, auf kleine Weise behandelt, ähnlich wie sich die räumliche Tiefe des Sehens aus der ein wenig verschobenen Parallaxe der beiden Augen ergibt.
Aber diese Tiefe sollte man nicht mit Schärfe verwechseln. Die Tiefenoptik, die wirklich die ganze metaphysische Landschaft des Abendlands und Asiens wie von einem Gipfel aus in den Blick bekommt, geht auf Kosten der Schärfe im Einzelnen. Hier entscheidet sich das Schicksal des Buchs. Es ist veranlasst von einem Ernst, den es ganz zu Recht vor dem grundsätzlichen Stellenwert seiner Gegenstände empfindet. Aber indem es die Fülle der Antworten, die jemals darauf gegeben wurden, wie bei einer Parade vorführt, wird es diesem Ernst doch wiederum untreu. Diese Fragen verlangen durchaus eine Antwort, und zwar eine Antwort. Man sollte Kants Beweis für die Unsterblichkeit der Menschenseele nicht darlegen, ohne dazu urteilend Stellung zu beziehen. Und die Feststellung, dass dem Europäer jene Art von nirvanahafter Unvergänglichkeit, wie die indischen Religionen sie versprechen, keinen Trost zu spenden vermag, verdiente gewiss eingehendere Untersuchung: Wie kann es sein, dass in dem einen Kulturkreis die Bewahrung, in dem anderen die Auslöschung des Individuums als der Güter höchstes gilt? Hier steckt sehr viel, worauf es sich lohnen würde zurückzukommen.
Hampes Buch ist von seiner Anlage deutlich überlegter als der „Tunguska“-Vorgänger. Wo dieser durch seine Rechthaberei gesündigt hatte, da belässt das neue Buch allzu viel in der Schwebe. Die Frage drängt sich auf, ob man es bei diesen Themen überhaupt richtig machen kann, und zu vermuten ist: schwerlich. Es stellt, das ist sein erhebliches Verdienst, die großen Dinge wieder zur Diskussion; aber es glaubt, Diskussion sei schon genug. Dabei tut Wahrheit not. Seine Schwächen sind nicht unsympathisch und vielleicht unumgänglich. Trotz ihrer und vielleicht auch ihretwegen ist es ein bemerkenswertes Werk geworden.
Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben. Hanser München 2020. 412 Seiten, 26 Euro.
Auch eine KI namens Kagami
diskutiert mit, sie klingt
wie Siris jüngere Schwester
Wenn man die ganze Metaphysik
des Abendlandes diskutiert,
leidet die Tiefenschärfe
Dankt seiner Hochschule für das Freisemester: der Philosoph Michael Hampe.
Foto: DIE NEUE VERNUNFT, Daria Stratma
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensent Eike Gebhardt scheint etwas frustriert angesichts der radikalen Ergebnisoffenheit dieses philosophisch-narrativen Experiments. Ohne richtige Handlung, "irgendwo zwischen Erzählung und Reflexion", so Gebhardt, schreibt der Autor und Philosophie-Professor hier über einen verstorbenen Dichter, dessen Aufzeichnungen über das "wirkliche Leben" und dessen Biografen. Dem Setting einer zukünftigen, in zwei Blöcke zerfallenen Welt 2039 scheint dabei einzig atmosphärische Bedeutung zuzukommen, meint der Rezensent skeptisch; dafür erfährt er "1001 folgenlose Details" eines Frühstücks. Eher wachsende konzentrische Kreise sieht er in diesem Roman als Tangenten, die sich irgendwo treffen, und das passe im Grunde ja auch zum philosophischen Anspruch, gesteht er ein. Trotzdem hätte er sich wenigstens über ein kleines Fazit gefreut.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Hampes Text hilft zu erkennen, wie uns die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit daran hindert, mit unserem Leben wirklich klarzukommen." Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk Kultur, 30.04.20

"Elegant und schlüssig ... ein schönes Buch" Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung, 15.05.20

"Ein bemerkenswertes Werk" Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 14.05.20

"Klassische Philosophie in Reinkultur" Kirstin Breitenfellner, Falter, 11.03.20

"Einer der kreativsten unter den sensiblen Philosophen der Gegenwart" Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 29.03.20

"Eine aufregende Reise" Gregor Dozauer, Tagesspiegel, 28.03.20

"Ein beeindruckender Gedankentanz", Wolfgang Popp, Ö1, 09.05.20