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Szilárd Borbély, der vor einigen Jahren mit seinem Roman Die Mittellosen international Aufsehen erregte, gilt als der bedeutendste ungarische Lyriker seit 1989. Erstmals liegen nun zwei Gedichtzyklen auf Deutsch vor: Zustandsbeschreibungen eines wahrnehmungssensiblen Ich, das in ruhigem Parlando über sich und seine Umgebung reflektiert (Berlin-Hamlet), und ein formstrenges Brevier von Trauergedichten, die auf ein ungesühntes Verbrechen eine Antwort suchen (Leichenpomp).
Ein mitteleuropäischer Flaneur streift durch das aufgerissene, im Umbruch begriffene Berlin der neunziger Jahre, sein
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Produktbeschreibung
Szilárd Borbély, der vor einigen Jahren mit seinem Roman Die Mittellosen international Aufsehen erregte, gilt als der bedeutendste ungarische Lyriker seit 1989. Erstmals liegen nun zwei Gedichtzyklen auf Deutsch vor: Zustandsbeschreibungen eines wahrnehmungssensiblen Ich, das in ruhigem Parlando über sich und seine Umgebung reflektiert (Berlin-Hamlet), und ein formstrenges Brevier von Trauergedichten, die auf ein ungesühntes Verbrechen eine Antwort suchen (Leichenpomp).

Ein mitteleuropäischer Flaneur streift durch das aufgerissene, im Umbruch begriffene Berlin der neunziger Jahre, sein Blick folgt dem Flugzeug über der Hermannstraße im Landeanflug auf Tempelhof, verirrt sich im Gewirr bunter Rohrleitungen über den Ausschachtungen, im Wald der Kräne am Potsdamer Platz. Gattungsbezeichnungen wie Allegorie, Brief, Epilog und Fragment, Zitate aus Shakespeare-Sonetten, aus Benjamins Passagenwerk und Kafkas Briefen an Felice verbannen die Stadtansichten in die Kulisse - esist ein urbaner metaphysical poet, besessen vom Gedanken der Vergänglichkeit.
Der gewaltsame Tod der Eltern, die einem Raubmord zum Opfer fielen, und die Vernichtung der ungarischen Juden wurden zu Borbélys Lebensthema. In Leichenpomp greift er auf dichterische Formen katholischer Frömmigkeit und auf chassidische Legenden zurück, um dem Unerträglichsten einen Ausdruck abzuringen, der jegliche Erlösungsbotschaft verneint.
Autorenporträt
Borbély, SzilárdSzilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat im nordöstlichsten Winkel Ungarns geboren, debütierte 1988 als Lyriker und veröffentlichte rund ein Dutzend Gedicht- und Prosabände. Er war Hochschullehrer in Debrecen und übersetzte Lyrik aus dem Deutschen und Englischen, u.a. von Monika Rinck, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Mit seinem Romandebüt Die Mittellosen hat er sich an die Spitze der ungarischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Im Februar 2014 nahm er sich das Leben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.01.2020

Ich kenne das Ganze, diese alte Leier
In den Abgrund schauen: Der Band „Berlin Hamlet“ versammelt in kluger Auswahl Gedichte des ungarischen Schriftstellers Szilárd Borbély
Das Kind wird nicht erzogen, sondern abgerichtet. Macht es einen Fehler, flucht man und schimpft es aus. Schnell wird zugeschlagen. Wie bei den Tieren, wenn sie nicht gleich gehorchen. Die Stöcke lehnen an der Wand, damit sie immer zur Hand sind. Die Peitsche hängt an einem Nagel – und sie wird benutzt. In seinem Roman „Die Mittellosen“ (2013, dt. 2014) hat der 1963 geborene ungarische Schriftsteller Szilárd Borbély das Dorf seiner Kindheit als Gemeinschaft der Gewalt, voller Grausamkeit, Angst und Neid gezeigt. Die archaische Bauernwelt im Nordosten Ungarns zeichnet er nicht in Form eines Einzelporträts, sondern als Beispiel für die ungarische Gesellschaft überhaupt, die bis heute nicht verstehe, wozu die Demokratie gut sei: „Deshalb spricht die ungarische Gesellschaft auch heute die Sprache der Aggression, verehrt die Stärke, die Gendarmenohrfeige, die Kopfnuss, die Maulschelle.“
Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weshalb Borbély den Strukturen der Gewalt nachgeht, der eng mit dieser allgemeinen Frage verknüpft ist. Am Tag vor Weihnachten des Jahres 2000 wurden seine Eltern Opfer eines brutalen Raubüberfalls. Die Täter brachen ins Haus ein, ermordeten die Mutter mit einer Axt und einer Eisenstange und verletzten den Vater schwer. Die Ermittlungen wurden bewusst einseitig geführt, die Täter schließlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Eigentlich hatte Borbély nie über den Mord schreiben wollen, zu tief hatten sich das Leiden, die Traumata und die Erniedrigung eingebrannt, zu persönlich schien ihm die Erfahrungen zu sein. Für eine Weile konnte er sich mit Arbeit ablenken, in Debrecen unterrichtete er Alte Ungarische Literatur. Doch eine „größere Kraft“ habe ihm, notiert er einmal, gleichsam gegen seinen Willen die Hand geführt. So entstanden, weit vor dem Roman „Die Mittellosen“, die Gedichte seines Bandes „Halotti Pompa“ (2004; dt. „Leichenprunk“), die man jetzt in einer klug komponierten Auswahl zusammen mit den Gedichten des Bandes „Berlin Hamlet“ (2003) auch auf Deutsch lesen kann. Als Borbély sich im Februar 2014 in Debrecen, wo er an der Universität Literaturwissenschaft lehrte, das Leben nahm, war er einer der wichtigsten ungarischen Dichter der Jetztzeit. Er war auch Übersetzer aus dem Englischen und Deutschen.
An ihrer Oberfläche wirken seine Gedichte oft wie Gegenwartsprotokolle. In „Berlin Hamlet“ wandert ein ruheloser Sprecher durch das Berlin kurz vor der Jahrtausendwende. Eine Stadt, die einer „neuen Epoche“ entgegenblicken soll, tatsächlich aber aufgerissen scheint angesichts der vielen Baustellen mit Baggern und Kränen. Dann wieder ist er am Flughafen Schönefeld unterwegs, hält in frei rhythmisierten Langzeilen die Menschen an den Haltestellen fest, die landenden und startenden Maschinen, „Lichter am schmutzfarbenen Himmel“, die überblendet werden mit Bildern aus der Geschichte. Sein Material ordnet Borbély gerne nach Ähnlichkeiten an, wodurch die Gedichte eine diagnostische Ebene bekommen. So spürt der Sprecher in der Außenwelt wie in sich selbst eine „unausfüllbare Leere“.
Doch im Untergrund der Texte rumort die Tradition. Der Sprecher dreht und wendet die Worte und bewegt sich durch ein „Labyrinth der Stimmen“. Hamlet’sche Gedanken schießen ihm durch den Kopf, Zeilen und Atmosphären aus Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ oder aus Gedichten von Attila József und Ernő Szép. Andere Gedichte scheinen fast ganz aus den Briefen Kafkas an Felice Bauer zusammengesetzt zu sein. So gelingt Borbély eine gleichermaßen skeptische wie vielstimmige poetische Wahrnehmung, die etwas fühlbar macht von seiner Weltsicht, aber auch von den Brüchen der Gegenwart, die ihm begegnete, und von den Untiefen der Erinnerung.
Wie zerklüftet diese Erinnerung ist, wie sie immer wieder in Katakomben schrecklicher, unverarbeiteter Erfahrungen führt, zeigt Borbély in seinem Band „Leichenprunk“. Um überhaupt die Bildsplitter des Überfalls auf seine Eltern in die Sprache holen zu können, verwendet er motivische und formale Filter, greift dabei weit in die Geschichte zurück. „Sequenzen zur Karwoche“ heißt das erste Kapitel, womit schon angedeutet wird, dass die Gedichte sich an die Jesusgeschichte anlehnen.
Andernorts benutzt er die Erzählung von Amor und Psyche, schließt Versatzstücke aus beiden Traditionen mit Gedanken über die Ewigkeit und mit ganz konkreten Bildern kurz, mit Details vom Tatort, Nahaufnahmen der verletzten Körper, Szenen aus dem Gerichtssaal.
Ihre Intensität erhalten die Gedichte indes vor allem durch das Spiel mit überlieferten Formen. Religiöse Kirchen- und Volkslieder, mittelalterliche Formen wie die Sequenz, Texte der Mystiker, Schriften aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Scheinbar Altbekanntes – aber Borbély denkt die Zusammenhänge anders: „Ich kenne das Ganze, diese alte Leier. Doch wenn wir diese Leier etwas drehen, umstimmen, dann erklingt sie wieder. (…) Und wenn wir noch ein bisschen weiter drehen, werden die Bedeutungen oder Verbindungen dieser Texte wieder erlebbar.“ So findet er nicht nur eine Gestalt für seine eigene Geschichte, sondern lädt auch die mittelalterliche und barocke Tradition neu auf, macht fühlbar, wie eng Sein und Nichts zusammenhängen oder wie das Verhältnis von Sprache und Körper aussieht.
Heike Flemming hat in ihren Übersetzungen die strengen Gefüge aus Metrum und Reim immer wieder andeutungsweise nachgebildet: „Als du noch im Körper lebtest / und wie ich auf Straßen liefst / und du noch vor Menschen bebtest, / da du in ihnen auf Böses stießt.“ Da die Ausgabe leider nur einsprachig ist, kann man beim Lesen nicht sagen, ob sich die unreinen Reime (so reimt sich hier zum Beispiel „Jünger“ auf „Zunge“ und „gesenkt“ auf „Gratisgetränk“) einer Entscheidung der Übersetzerin verdanken oder schon im Original angelegt sind. Trotzdem folgt man den Übersetzungen gerne. So wie Flemming in „Berlin Hamlet“ gut den Rhythmus der Langzeilen und die Zeilensprünge einholt, trifft sie in „Leichenprunk“ die bisweilen weit verzweigten Sätze oder den Kontrast von hymnischer Form und nüchterner Sprache.
Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung fügte Borbély dem Band ein drittes Kapitel hinzu, das den Titel „Chassidische Sequenzen“ trägt. Darin lässt er die großen Gestalten des ungarischen Chassidismus auftreten, Eisik Taub von Kalew oder Mosche Teitelbaum, und bringt Ideen der mystischen Tradition der Kabbala mit Materialien über den Holocaust in Ungarn zusammen. In einer harten Schnitttechnik zieht er Momente chassidischer Erzählungen in die Verse ein, imaginiert dabei zugleich, auf der Grundlage von historischen Abhandlungen, Bilder aus den Konzentrationslagern.
„Berlin Hamlet“ ist ein ebenso verstörendes wie beeindruckendes Buch. Dazu trägt auch der kleine Prosatext „Nebenstränge eines Verbrechens“ bei, der sich im Anhang findet. Borbély versucht hier die Geschehnisse des Überfalls auf seine Eltern noch einmal von einer anderen Warte aus zu rekonstruieren und markiert auch die bewussten Fehlleitungen der Ermittlungen. In einer ihrerseits bewusst nüchternen, detailgenauen Sprache analysiert er die „fremde, teilnahmslose“ Sprache der Obduktionsberichte, beschreibt die Fotos in den Ermittlungsakten und beobachtet, wie sein eigener Körper reagiert: „Er registrierte die Kühle des kalten Schweißes über seinem Mund.“
Zugleich sind diese Notate ein großartiges Beispiel dafür, wie man ein Verbrechen als Text liest. So leuchtet zwischen den Zeilen Szilárd Borbélys Verständnis von Literatur auf, das darauf abzielt, den „inneren Spannungen“, den Brüchen, Widersprüchen und Leerstellen eines Textes nachzuspüren. Mit ihrer kühlen Sprache, mit ihren unterschiedlichen Perspektiven und Einsprengseln fremder Stimmen führen die „Nebenstränge“ jene Idee von Relativität vor, die sie umkreisen: „Die Wahrheit gibt es ebenso wenig wie die eine Interpretation. Mehrere Modelle können gleichzeitig gültig sein und eine Erklärung für das Geschehene bieten.“
NICO BLEUTGE
Der Sprecher dreht und
wendet die Worte, geht durch ein
„Labyrinth von Stimmen“
Im dritten Kapitel des Buches
treten die großen Gestalten des
ungarischen Chassidismus auf
Dichter, Erzähler, Übersetzer: Szilárd Borbély.
Foto: Lenke Szilágyi
Szilárd Borbély:
Berlin Hamlet. Gedichte.
Zweisprachig. Aus dem Ungarischen und mit
einem Nachwort von
Heike Flemming.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019. 206 Seiten,
24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Berlin Hamlet ist ein ebenso verstörendes wie beeindruckendes Buch.« Nico Bleutge Süddeutsche Zeitung 20200123