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Maria Tumarkin schreibt »berauschende, wunderschöne Essays, über Traumata, die Kontinuität der Vergangenheit und die Unzulänglichkeit von Sprache.« (The New Yorker)
Neun Jahre ist Maria Tumarkin unterwegs, als Kulturkritikerin und Historikerin, vor allem als begnadete Zuhörerin. Sie spricht mit Familien, die mit den Folgen des Suizids ihrer Kinder leben müssen, mit einer Anwältin, die das Erbe kolonialer Macht im Justizsystem bekämpft, mit einer Großmutter, die gezwungen war, ihren Enkel zu entführen. Maria Tumarkin schreibt über das Jetzt und das Damals, darüber, wie unsere Vergangenheit,…mehr

Produktbeschreibung
Maria Tumarkin schreibt »berauschende, wunderschöne Essays, über Traumata, die Kontinuität der Vergangenheit und die Unzulänglichkeit von Sprache.« (The New Yorker)

Neun Jahre ist Maria Tumarkin unterwegs, als Kulturkritikerin und Historikerin, vor allem als begnadete Zuhörerin. Sie spricht mit Familien, die mit den Folgen des Suizids ihrer Kinder leben müssen, mit einer Anwältin, die das Erbe kolonialer Macht im Justizsystem bekämpft, mit einer Großmutter, die gezwungen war, ihren Enkel zu entführen. Maria Tumarkin schreibt über das Jetzt und das Damals, darüber, wie unsere Vergangenheit, die eigene und die der Gesellschaft, unsere Gegenwart formt. Einfühlsam, furchtlos und mit überraschender Leichtigkeit führt sie uns an die dunkelsten Orte der Geschichte: in schwarz verhängte Klassenzimmer, Gefängnisse und Flüchtlingslager, mitten in uns selbst hinein.
Autorenporträt
Maria Tumarkin, geboren in der Ukraine, lebt als Schriftstellerin und Kulturhistorikerin in Melbourne, Australien. Sie schrieb bisher vier Bücher. Für Gewissheiten, ihren jüngsten Essay-Band, erhielt sie den 2018 Melbourne Prize for Literature's Best Writing Award und den hochdotierten 2020 Windham Campbell Prize.

Claudia Voit, geboren 1991, ist Literaturübersetzerin aus dem Englischen. Sie hat in Bamberg, Düsseldorf und Kalifornien Germanistik, Anglistik/Amerikanistik und Literaturübersetzen studiert. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021

Diskrete
Wucht
Maria Tumarkins außergewöhnliche
Essays über das Gewöhnliche
VON THOMAS STEINFELD
Fünf Essays enthält der schmale Band der australischen Autorin Maria Tumarkin. Sie handeln von Katastrophen im Leben einzelner Menschen. Der erste dieser Essays gilt einer Schülerin, die im Alter von 16 Jahren Selbstmord beging, aus Gründen, die sich weder ihrer Familie noch ihren Freunden noch ihren Lehrern erschließen: Sie bringt sich um, aus vagen Motiven, und lässt Dutzende von Vertrauten zurück, die Jahre brauchen, um mit dem Ereignis auch nur halbwegs zurechtzukommen. Am Ende des Textes liest die Autorin in Aufzeichnungen der Toten, die aus einer Art Tagebuch zu stammen scheinen: „Es ist so leicht, Tinte oder eine Aufnahme zu löschen. Ich wusste nicht, dass es so einfach sein könnte, ein Leben zu löschen, du warst nicht einmal ein Fehler.“
Wenn dieser Schluss erreicht ist, weiß der Leser längst, dass die Zeilen nicht erfunden sind. Er hat auch gelernt, dass der Kummer eine gewöhnliche Befindlichkeit ist und es nur einer kleinen Abweichung bedarf, um ein Leben aus der Bahn zu werfen. Und er hat sich daran erinnert, was Heranwachsen bedeutet, an ein Leben, in dem es für nichts und niemanden eine angemessene Form zu geben scheint, im Kleinen und erst recht im Großen.
Spektakulär sind alle Ereignisse, denen Maria Tumarkin nachgeht, die 1989, im Alter von 15 Jahren, die Ukraine verließ, nach Australien auswanderte und heute an der Universität von Melbourne „kreatives Schreiben“ unterrichtet: Auf die Recherchen zum Selbstmord eines Teenagers folgen ähnliche Untersuchungen zu einer Kindesentführung, zu Abstürzen in Drogen und Verbrechen, zu einem Flüchtlingsschicksal sowie zum Überleben nach dem Holocaust. Gemeinsam ist diesen Essays, dass die Autorin zwar den Schrecken in seiner ganzen Größe erfassen, an der existenziellen Wucht der geschilderten Ereignisse aber nicht partizipieren will.
Maria Tumarkin verweigert sich dabei dem Melodram, dem parasitären Verhältnis zum Schicksal, dem Auskosten von Gefühlen. Sie bleibt diskret, auch wenn es nichts zu geben scheint, das sie nicht ausspricht. Sie schreibt ihre Texte, als würde sie lediglich festhalten, was ihr – und manchmal auch ihrem jeweiligen Gegenüber – in den Sinn kommt, wenn sie über ein schreckliches Ereignis nachdenkt. Erst bei der zweiten oder dritten Lektüre bemerkt der Leser, wie viel Kunst sich in einem Ton verbirgt, aus dem das Gemachtsein verschwunden scheint. Was zur Folge hat, dass sich beim Lesen nie die Gewissheit eingestellt, man kenne jetzt, was ein anderer, fremder Mensch tatsächlich durchgemacht hat. Man ahnt es nur, mit einer in Gedanken aufgelösten Empathie.
„Axiomatics“ lautet der originale Titel des Buches. Gemeint sind damit fünf „Gewissheiten“, Gemeinplätze oder „Axiome“, denen Allgemeingültigkeit für das Ganze und Große des Lebens zuzukommen scheint. Es sind Sätze wie: „Die Zeit heilt alle Wunden“ oder „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Selbstverständlich sind diese Sätze nicht falsch. Richtig sind sie aber auch nicht, mit der Konsequenz, dass die Essays wie Untersuchungen daherkommen, in denen erwogen, verworfen und gebilligt wird, in denen Gewährsleute und Experten herbeigerufen werden und in denen nicht zuletzt eine offensichtlich gründliche, wenngleich wiederum nur diskret vorgetragene literarische Bildung hinzugezogen wird, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Manchmal ist es, als habe Maria Tumarkin bei Sören Kierkegaard das Zweifeln gelernt und sich bei David Foster Wallace erkundigt, was geschieht, wenn man rigoros ehrlich ist. Und in der Art, wie die einzelnen Elemente eines Essays zusammengefügt werden, sieht sich der Leser an die Collage-Techniken erinnert, die Swetlana Alexijewitsch in ihrer dokumentarischen Prosa benutzt. Nur, dass letztere in ihren Texten nicht von sich selbst spricht, während Maria Tumarkin aus ihrem Autorinnen-Ich keinen Hehl macht, samt einer Herkunft aus Osteuropa, die dafür sorgt, dass ihr der Alltag in Australien auch nach 30 Jahren nicht selbstverständlich erscheint.
Maria Tumarkins Essays besitzen ein Gegenüber: die Schreckensgeschichten aus dem wirklichen Leben, die man auf Englisch „real-life Stories“. Es gibt dieses Genre, weil die Publizistik dem Gesetz des schärferen Reizes gehorcht und das Leben nie so gegenwärtig zu sein scheint, wie wenn das Blut spritzt und die größten Gemeinheiten begangen werden – darin eingeschlossen das eigene Leben, das um so lebenswerter erscheint, je gründlicher andere Leben zerbrechen. Der Erbaulichkeit des Gruselns setzt Maria Tumarkin eine Zurückhaltung und Umsicht entgegen, in der die Einzigartigkeit, das Prekäre und auch das Gewöhnliche eines jeden Lebens um so schärfer hervortreten: in der Schwierigkeit zum Beispiel, in einer Schule zu trauern, in der Unmöglichkeit, ein improvisiertes Denkmal abzuräumen, in der Verlegenheit, überhaupt eine Sprache für den Schmerz zu finden.
Eine Geschichte ist Vera Wasowski gewidmet, einer Polin, die das Ghetto von Lwòw (oder Lwiw oder Lemberg) überlebte, die in den Fünfzigern mit Roman Polánski und Andrzej Wajda befreundet war und in den Sechzigern, des wachsenden Antisemitismus wegen, nach Australien ging. Eigentlich wollte Maria Tumarkin ihre Biografie schreiben: „Vera sagt, sie habe keine Lust, den Leuten zu erklären, wie sie ist, aber sie erzählt es ihnen doch; sie lässt andere an ihrer Geschichte teilhaben, sie macht sich die Mühe zu sprechen und vielleicht wünscht sie sich, es sei nicht notwendig, aber zugleich gibt es ihr Energie, oder vielleicht kommt es ihr quasi automatisch über die Lippen. Womöglich spricht sie aber auch, um eine andere Wahrheit zu schützen.“ Die Biografie entsteht. Aber Vera Wasowski schreibt sie selbst, oder besser: Ein Ghostwriter verfasst sie, in ihrem Namen. Maria Tumarkin hingegen schreibt einen Essay darüber, wie und warum es ihr nicht gelingt, zur Autorin einer Biografie zu werden: „Wer überlebt, weiß, dass die Entscheidung zwischen Erzählen und Schweigen die Wahl zwischen Pest und Cholera ist; beides ist gleichermaßen hoffnungslos.“ In der Folge misst der Essay den Abstand zwischen den Möglichkeiten, aber auch zwischen den Unmöglichkeiten aus, das Leben eines solchen Menschen in einer Geschichte zu ergreifen.
Zum scheinbar improvisierenden Duktus dieser Prosa gehören lange Sätze, Wiederholungen, Einschiebungen und Exkurse. Es ist, als wären diese Texte schnell und mit großer Intensität des Schreibens entstanden. Ersteres stimmt mit Sicherheit nicht: Maria Tumarkin scheint manchmal Jahre für einen solchen Essay zu brauchen. Sie wechselt das Genre, innerhalb desselben Texts, sie geht von der Reportage zum Interview und von dort zur philosophischen Abhandlung über. Das falsche Pathos der kurzen, oft unvollständigen Sätze, die allzu häufig verwendet werden, um dem angeblich Unsagbaren eine kommunikative Form zu verleihen, ist ihr fremd.
Vermutlich verachtet sie die Coolness als eine Haltung, die sich, weil sie eine Spielart der Besserwisserei ist, der Erfahrung verweigert, statt sie zu gestalten. Maria Tumarkin kann hingegen sagen, was zu sagen ist, in einer Sprache, die unauffällig, elastisch und virtuos ist und vor keinem Seelenzustand zurückweicht, während sie auf die Konventionen des Erzählens verzichtet. Sie nimmt den Leser nicht an der Hand, sie kommt ihm nicht entgegen, sie will es niemandem leicht machen. Vermutlich findet sie gerade deswegen eine Gestalt für das am schwierigsten zu Gestaltende: für das Einfache und Naheliegende.
Sie verweigert sich dem
Melodram, dem Auskosten
von Gefühlen
Maria Tumarkin:
Gewissheiten.
Aus dem Englischen
von Claudia Volt.
Hanser Berlin Verlag,
Berlin 2021.
256 Seiten, 24 Euro.
Hier entsteht ein Buchcover: Die Vordrucke werden vorgeschnitten,
in die Maschine eingezogen und mit Heißklebefolie überzogen.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensent Joachim Hildebrandt kommt den Menschen, von denen Maria Tumarkin erzählt, "zum Greifen nah" und fühlt sich selbst umso mehr von ihren Geschichten ergriffen. Es sind traurige, teils erschreckende Geschichten über Suizid bei Jugendlichen zum Beispiel oder über die Erfahrungen einer Holocaust-Überlebenden und deren Folgen - reale Geschichten, die gerade durch ihre sprachliche Schlichtheit und Direktheit eine besondere Prägnanz gewinnen und für die sie fast ein ganzes Jahrzehnt lang recherchiert, mit Hinterbliebenen, Traumatisierten, Überlebenden und Geflüchteten gesprochen hat. Doch bei aller Bedrücktheit wohnt ihnen allen auch eine "gewisse Leichtigkeit" inne, lesen wir. Es ist eben nicht nur ein Buch über den Umgang mit Leid, Verlust und Trauma, das die australische Kulturhistorikerin hier geschrieben hat, sondern auch ein Buch über die Hoffnung, so der berührte Rezensent.

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"Spektakulär sind alle Ereignisse, denen Maria Tumarkin nachgeht ... Maria Tumarkin kann sagen, was zu sagen ist, in einer Sprache, die unauffällig, elastisch und virtuos ist und vor keinem Seelenzustand zurückweicht, während sie auf die Konventionen des Erzählens verzichtet." Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 19.10.2021

"Die Schicksale der Menschen, die Tumarkin interviewt hat, schildert sie ganz schmucklos und mit großer Kraft. Und doch bleibt da immer eine gewisse Leichtigkeit, auch am schmerzhaftesten Punkt. ... Uns als Leser ergreifen diese Geschichten, weil wir in ihnen den Menschen, deren Schicksale Tumarkin beschreibt, zum Greifen nah kommen." Joachim Hildebrandt, Deutschlandfunk Kultur, 02.12.2021