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Leonid Breschnew war von 1964 bis 1982 Vorsitzender der KPdSU und prägte fast zwei Jahrzehnte lang die Entwicklung der Sowjetunion. Anders als im Westen lange behauptet, war Breschnew kein "Hardliner" oder "Restalinisierer", sondern hatte selbst unter Stalin gelitten und so viel Leid gesehen, dass er "Wohlstand für alle" zur Generallinie der Partei erklärte. Das Grauen, das er im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, ließ ihn den Ausgleich mit dem Westen suchen. Breschnew mimte den westlichen Staatsmann und wurde von seinen Partnern als einer der ihren akzeptiert. Doch als 1974 Georges Pompidou…mehr

Produktbeschreibung
Leonid Breschnew war von 1964 bis 1982 Vorsitzender der KPdSU und prägte fast zwei Jahrzehnte lang die Entwicklung der Sowjetunion. Anders als im Westen lange behauptet, war Breschnew kein "Hardliner" oder "Restalinisierer", sondern hatte selbst unter Stalin gelitten und so viel Leid gesehen, dass er "Wohlstand für alle" zur Generallinie der Partei erklärte. Das Grauen, das er im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, ließ ihn den Ausgleich mit dem Westen suchen. Breschnew mimte den westlichen Staatsmann und wurde von seinen Partnern als einer der ihren akzeptiert. Doch als 1974 Georges Pompidou starb und Willy Brandt sowie Richard Nixon zurücktraten, sah sich Breschnew vor dem Trümmerhaufen seiner Entspannungspolitik. Denn, was im Westen niemand ahnte, im Kreml gab es keinen politischen Kurswechsel. Stress und Schlaflosigkeit führten Breschnew in eine Tablettensucht, die seine Friedensbemühungen weiter ruinierte: Den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 entschied eine Politbüro-Troika ohne ihn. Ein "Mensch in seiner Zeit": Die Osteuropahistorikerin Susanne Schattenberg legt, basierend auf zahlreichen bislang nicht zugänglichen Quellen, die erste wissenschaftliche Biographie über Leonid Breschnew vor - zu seinem 35. Todestag im November 2017.
Autorenporträt
Susanne Schattenberg ist Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2018

Der Schattenmann
Eine betont freundliche Biographie zur Karriere des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew

Leonid Breschnew war - nach Lenin, Stalin und Chruschtschow - zwischen 1964 und 1982 der vierte Führer des Sowjetstaates. Die Bilanz dieser knapp zwei Jahrzehnte blieb innen- wie außenpolitisch ambivalent. In seine Amtszeit fiel der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei (1968) und dessen nachträgliche Rechtfertigung durch den Leitsatz von der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten (Breschnew-Doktrin). Wesentlich auf Breschnew ging auch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zurück, sein größter außenpolitischer Erfolg; ihre 1975 in Helsinki unterzeichnete Schlussakte schrieb den territorialen Status quo in Europa fest. Die damit eingeleitete Entspannung dauerte allerdings nur wenige Jahre. Die Stationierung neuer sowjetischer Mittelstreckenraketen und der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan (1979), der Nato-Doppelbeschluss, das Scheitern der Abrüstungsgespräche (1982) und die Stationierung der neuen amerikanischen Pershings (ab 1983) leiteten eine neue Phase des Kalten Krieges ein.

In der Innenpolitik distanzierte sich die neue Führung, als sie im Oktober 1964 Chruschtschow stürzte, von dessen Aktionismus, vor dem kein Amtsinhaber und keine Institution mehr sicher gewesen waren, auch die Partei nicht. "Vertrauen in die Kader" hieß die neue Devise, sie suchte auch diejenigen zurückzugewinnen, denen Chruschtschows Absetzbewegungen von Stalin zu weit gingen. Breschnew gerierte sich als Primus inter Pares in einer "kollektiven Führung", zumindest bis die eigene Macht gesichert war. Obwohl man sich in Helsinki auf die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtet hatte, war und blieb das Verhältnis zu "Andersdenkenden" repressiv: Sie wurden schikaniert, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, in psychiatrische Kliniken eingewiesen, in die Provinz verbannt oder abgeschoben und ausgebürgert. Diese Dissidenten störten die Pflege einer sowjetpatriotischen Erinnerungskultur, die die Revolution, die forcierte Industrialisierung und die Kollektivierung zu Vorbedingungen für das Überleben des Landes im Zweiten Weltkrieg und seinem Aufstieg zur Weltmacht erklärte. Zusammengenommen bestimmten sie den Festtagskalender.

Für all dies stand auch Breschnew in Person, seit 1966 wieder mit dem Titel eines "Generalsekretärs", seit 1976 auch "Marschall der Sowjetunion" und seit 1977 nominelles Staatsoberhaupt. Mit seinen Maßanzügen, als Uhrensammler, begeisterter Hobbyjäger, als Liebhaber schneller Autos und verwegener Fahrer schien er mitunter für eine neue, weltoffene Sowjetunion zu stehen. In seiner Garage standen, wie man wusste, auch westliche Luxusmarken (Rolls-Royce, Cadillac, Lincoln Continental, Citroën-Maserati, Mercedes). Seine mediale Allgegenwart wurde seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend zur Belastung, da sie nun vor allem den rapiden körperlichen und geistigen Verfall, als Folge von Krankheit und Tablettensucht, dokumentierte. Als höchster Repräsentant des Gemeinwesens wurde sein Siechtum zum Sinnbild für den Zustand des Staates, starr und aufgedunsen. Im Rückblick der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sollte man von diesen Jahren als "Zeit der Stagnation" sprechen.

Die ganze "Bandbreite und Widersprüchlichkeit" dieses Lebens zu erfassen und sein "noch stark vom Kalten Krieg geprägtes Bild" aufzubrechen, es zu entdämonisieren und an den gutaussehenden, schlanken, smarten Breschnew vor seiner Krankheit zu erinnern ist das erklärte Ziel der neuen großen Biographie von Susanne Schattenberg. Die Autorin hat dazu umfangreiche Archivbestände in Moskau durchgesehen und auch jene Stätten aufgesucht, wo Breschnews Karriere begann: in der Ukraine, in Moldau und Kasachstan. Bewundernswert. Selbst wenn in Moskau noch erhebliche Bestände nicht freigegeben sind, ergeben die hier zusammengetragenen Materialien ein relativ dichtes Bild.

Worauf es der Autorin ankommt, macht sie schon in der Einleitung klar: Sie vergleicht den Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 mit der Amtsübergabe des Berliner Bürgermeisteramtes von Wowereit an Michael Müller im Jahr 2014: Auch das ZK der KPdSU wollte einen, "der nicht mehr so die Klappe aufreißt", auch hierbei sei es "weniger um konkrete politische Inhalte als um einen Politikstil" gegangen; der vorsichtige, auf Konsens bedachte Breschnew schien daher der richtige Nachfolger. Die Kapitel über dessen Karriere, vom Landvermesser in den Jahren der Massenkollektivierung bis zum Ersten Parteisekretär in Moldau und Kasachstan in der Nachkriegszeit, versuchen zu zeigen, dass schon damals Hetze und Gewalt Breschnews Sache nicht waren; er habe eingesehen, dass man weiterkam, wenn man die Mitarbeiter mitnahm, statt sie nur abzustrafen (wie Stalin) oder zu entlassen (wie Chruschtschow), wenn man sie mit sachlichen Argumenten überzeugte.

Das sei auch sein Stil in den folgenden Jahren geblieben, "Vertrauen und Fürsorge" bestimmten sein "Herrschaftsszenario", alle sollten "in Ruhe leben und arbeiten können", "Anhebung des Volkswohlstandes" wurde zur "Generallinie der Partei". Sein Bemühen, möglichst viele mitzunehmen, schloss "Zugeständnisse an die Hardliner" ein. Schließlich habe er "wenig Interesse an den Abtrünnigen", wenig Verständnis für ihre Anliegen gezeigt und die "Schmutzarbeit ganz dem KGB" überlassen. Sie störten sein außenpolitisches Renommee, wenn er den "Staatsmann" mimte. Dies brachte ihm den Vorwurf der "Restalinisierung" ein, für Schattenberg zu Unrecht.

Ist Breschnews Schauspielertum der Schlüssel zum Verständnis? Dass er schon vor seiner Erkrankung kein großer Redner gewesen war, die vom Beraterteam verfassten Rechenschaftsberichte mehr schlecht als recht verlas, sie sich vorher vorlesen ließ, lässt daran zweifeln. Was war an ihm überhaupt authentisch? Richtig ist, er wurde nie zu den "Hardlinern" im Kreml gezählt, aber an jenen von jeher konsensorientierten Fachmann vermag man nicht so recht zu glauben. Mit einer solchen Grundeinstellung hätte man im stalinistischen System, in den mörderischen Jahren der Kollektivierung, des Hungers und der Parteisäuberungen, als Landvermesser, Fabrikdirektor und Parteisekretär keine politische Karriere gemacht. Ähnliches gilt für die Behauptung, beim Sturz Chruschtschows 1964 sei es nicht um Inhalte, nur um einen Wechsel im Politikstil gegangen. Ging es im Kern nicht vielmehr um die Sicherung der Herrschaft der Partei und der Privilegien ihrer Führung? Nachdem die Wirtschaftspolitik Chruschtschows gescheitert war, Versorgungsengpässe zu Preiserhöhungen, Protesten und Unruhen geführt hatten? Chruschtschow in seinem Reformeifer in nur fünf Jahren zwei Drittel des Ministerrates, des Parteipräsidiums, der Parteigebietssekretäre und die Hälfte des Zentralkomitees ausgetauscht hatte? Schließlich auch die Einheit und Ausnahmestellung der Partei zur Disposition zu stellen schien? Zielten nicht die Devise "Vertrauen in die Kader" und die neue Wirtschafts- und Sozialpolitik genau darauf? Auf dem schmalen Grat zwischen Herrschaftssicherung einerseits und den Konsuminteressen der Bevölkerung andererseits einen Weg zu finden? Und lag hierin nicht das Problem, die "Widersprüchlichkeit" der Breschnew-Jahre? Es waren die Widersprüche der Zeit, das Erbe eines Regimes, das, durch Gewalt entstanden, auf sie angewiesen blieb, auf sie nicht verzichten konnte und wollte. Menschenrechte? Schon, aber nicht in den nächsten 20, 30 Jahren. Insofern lagen auch die Breschnew-Jahre im langen Schlagschatten Stalins.

HELMUT ALTRICHTER

Susanne Schattenberg: Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins.

Böhlau Verlag, Köln 2017, 661 S., 39,-[Euro].

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