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Ein editorisches Ereignis: die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers »Strahlungen«
Die Tagebücher, die Ernst Jünger zwischen 1939 und 1948 führte, sind das Dokument eines Ausnahmezustands. Die vorliegende Edition bietet sie in der Originalfassung und erlaubt eine neue Auseinandersetzung mit den weltberühmten Aufzeichnungen.
Jüngers eigenhändig publizierte Tagebücher der Kriegs- und Nachkriegsjahre umfassen insgesamt sechs Teile: »Gärten und Straßen«, »Das erste Pariser Tagebuch«, »Kaukasische Aufzeichnungen«, »Das Zweite Pariser Tagebuch«, »Kirchhorster Blätter« sowie »Jahre der
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Produktbeschreibung
Ein editorisches Ereignis: die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers »Strahlungen«

Die Tagebücher, die Ernst Jünger zwischen 1939 und 1948 führte, sind das Dokument eines Ausnahmezustands. Die vorliegende Edition bietet sie in der Originalfassung und erlaubt eine neue Auseinandersetzung mit den weltberühmten Aufzeichnungen.

Jüngers eigenhändig publizierte Tagebücher der Kriegs- und Nachkriegsjahre umfassen insgesamt sechs Teile: »Gärten und Straßen«, »Das erste Pariser Tagebuch«, »Kaukasische Aufzeichnungen«, »Das Zweite Pariser Tagebuch«, »Kirchhorster Blätter« sowie »Jahre der Okkupation« (später »Die Hütte im Weinberg«). Sie erschienen in den Jahren 1942, 1949 und 1958 als literarisierte Überarbeitungen der Originaltexte. In der dreibändigen Edition werden die ursprünglichen Aufzeichnungen aus der Handschrift ohne die geringste Auslassung wiedergegeben und durch einen umfangreichen Stellenkommentar sachlich erläutert. Zugleich werden alle nachträglichen Bearbeitungen sichtbar gemacht. So kann erstmals nachvollzogen werden, wie Jünger seine Notate stilistisch schärfte oder durch Fakten und Verweise anreicherte, um für seine Leserschaft nicht nur als Chronist der Zeitgeschichte, sondern als deren Interpret in Erscheinung zu treten. Zugleich wird deutlich, mit welch stilistischer Brillanz Jünger seine präzisen Beobachtungen zu fassen wusste und welchen Einfluss der reiche Lektürehintergrund des Homme des Lettres auf seine Reflexionen ausübte.

»Ein Tagebuch hat kein Thema; es hat kaum eine Form. Es spiegelt die erste, noch unabgeschlossene Berührung mit der Wirklichkeit; darin liegt seine Begrenzung und sein Reiz.« Ernst Jünger, Jahre der Okkupation.
Autorenporträt
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901¿1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914¿1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919¿1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936¿1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939¿1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946¿1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966¿1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Rezensent Helmut Böttiger staunt über die Konjunkturen, die Ernst Jünger wieder einmal ins Augenmerk des Feuilletons spülen. Er selbst hätte ihn spätestens seit Klaus Theweleits "Männerfantasien" für erledigt gehalten. In den Tagebüchern "Strahlungen" tritt ihm Jünger als Besatzungsoffizier in Paris entgegen, der das Kriegerisch-Heldische nicht mehr so freudig besingt wie in früheren Schriften, sondern in elegischem Ton. Die preußische Aristokratie hat abgedankt, ihren Untergang findet Jünger fürchterlicher als das Schicksal der europäischen Juden, wie Böttiger mit Schaudern bemerkt, weil unwiderruflich. Jüngers Härte und Kälte bekommt der Rezensent hier mit derselben Wucht präsentiert wie seine existenziellen Einsichten, gepaart mit Ausflügen ins Pariser Kulturleben und viel "schwarzem Kitsch". Der historisch-kritischen Edition verdankt er gleichwohl interessante Erkenntnisse über die stilistische Sorgfalt, mit der Jünger an seinem heroischen Selbstbild arbeitete.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2022

Als trüge er alles mit Fassung
Im Maschinenraum der "Strahlungen": Die historisch-kritische Ausgabe von Ernst Jüngers Tagebüchern gibt den Blick auf eine hochgradig inszenierte Prosa frei

Beträchtlich ist das Engagement, das Klett-Cotta um das Werk des 1998 im hundertdritten Lebensjahr gestorbenen Ernst Jünger betreibt: Briefwechsel, Biographien, Neuausgaben - wenige Verlage pflegen Nachlass und Nachruhm ihrer Autoren derart aufwendig. Dem steht freilich auch ein ungebrochenes Interesse des Publikums gegenüber. Kein Jahr verstreicht ohne neue Bücher, Dissertationen, Aufsätze oder Symposien zum Werk dieses deutschen Jahrhundertzeugen. Jüngers im hohen Alter aufgestellte Behauptung, er wäre gern ein "poète oublié", ein vergessener Dichter also, hat sich auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod nicht erfüllt.

Nun erscheint, mehr als sieben Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, eine historisch-kritische Ausgabe der "Strahlungen", der Jünger'schen Tagebücher von 1939 bis 1948. Ein monumentales Unterfangen von fast 2400 Seiten, von denen gut 700 allein auf Anmerkungsapparat und Register entfallen. Das wirkt einschüchternd, aber auch vielversprechend. Kaum ein Werk der deutschen Nachkriegsliteratur wurde (und wird bis heute) heftiger angefeindet, kaum eines ist aber auch vehementer verteidigt worden als dieses voluminöse Journal, dessen erster Teil, "Gärten und Straßen", noch von Joseph Goebbels persönlich zum Druck freigegeben wurde, wenn auch nur widerwillig.

Der zweite Teil, der Jüngers Aufzeichnungen aus Paris sowie Russland und der Ukraine umfasst, wäre vom Regime niemals freigegeben worden, hätte dem Verfasser im Fall einer Entdeckung vielmehr gefährlich werden können. Er erschien erst 1949 und sorgte sofort für Aufsehen. Eine besonders umstrittene Passage, die berüchtigte "Burgunderszene" vom Mai 1944, wurde sogar von der Unterhaltungsbranche aufgegriffen: Die Szene, in der Jünger beschreibt, wie er als Offizier der deutschen Besatzungsmacht vom Dach seines Hotels aus weintrinkend einen amerikanischen Bombenangriff auf Paris beobachtet habe, spielte Harald Schmidt im Fernsehen mit Playmobilfiguren nach.

Nun also die Gesamtausgabe mit allen Streichungen, Änderungen und nachträglichen Ergänzungen, die sich aufgrund der im Literaturarchiv in Marbach verwahrten Handschriften sowie eines in Privatbesitz befindlichen Teilkonvoluts noch rekonstruieren ließen. Das Resultat bestätigt, was aus Analysen einzelner Einträge dieses Werks schon bekannt war: Jünger wollte, dass seine Tagebücher wie ein unmittelbar in und aus ihrer Zeit heraus entstandenes Werk wirken, mit jeweils am Abend des Geschehens oder am Morgen danach notierten Eindrücken. Im Vorwort der Erstausgabe betonte er diesen Anspruch durch die Behauptung, die "Versuchung", den Text durch nachträgliche Retuschen zu "klären", sei naheliegend gewesen, doch habe er davon abgesehen, "da ich dem Leser eine Idee des Ganzen vermitteln will".

Das ist die wohl größte Übertreibung dieses an Übertreibungen nicht armen Buches. Denn Jünger retuschierte, was das Zeug hielt. Tausende Sätze wurden gestrichen, umgestellt, verändert oder hinzugefügt, ganze Passagen verschwanden oder kamen erst Jahre später hinzu. Alle Textarbeit geschah stets im Dienste des Scheins: Auch was erst lange nach Kriegsende am heimischen Schreibtisch entstand, sollte wirken, als wäre es in einem Pariser Hotel 1941 oder nach einem Spaziergang in Kiew 1943 notiert worden.

Die Zusätze erklären sich natürlich auch aus der Genese des Buches, denn erst vom Frühjahr 1945 an konnte Jünger gefahrlos offen schreiben. Hinzu kommt, dass er ein nahezu manischer Umschreiber seiner Texte war. Die Assoziationsmaschine Jünger stand niemals still, manche Notate der "Strahlungen" liegen in bis zu acht Fassungen vor. Am Anfang stehen mitunter nur stichwortartige Einträge auf losen Blättern, oft in Eile notiert. Dann folgen ausformulierte Übertragungen in Notizbücher und darauf wiederum umfangreiche Abschriften auf Büttenpapier. Nur wenige Notate blieben dabei unbearbeitet. Jünger raffte, strich, schmückte aus.

Oft erstaunt, wie offen sarkastisch er sich schon in den ursprünglichen Einträgen über Hitler (den er in den Aufzeichnungen nur leidlich als knebelnden Teufel namens "Kniébolo" maskiert) oder Goebbels ("Grandgoschier") auslässt. Unverhohlen ist auch die Genugtuung, als Jünger vom Attentat auf Heydrich erfährt: "Die Nachricht durchflammt gleich einem trüben Freudenfeuer die Hölle, die er schuf." Trotzdem bemüht er sich im Sommer 1942 um eine Entsendung als Kriegsberichterstatter des Regimes in den Mittelmeerraum oder den Nahen Osten. Das bleibt erfolglos, er wird stattdessen an die Ostfront entsandt und erlebt dort die Stalingrad-Wende mit.

Es gibt Dutzende bisher unveröffentlichte Notate in dieser Ausgabe, mit denen sich in den üblichen Zitatschlachten um diesen Autor belegen ließe, dass er das NS-Regime verabscheute. Das Arsenal steht indes auch der Gegenseite der Jünger-Verächter offen, so durch einen zuvor unpublizierten Eintrag vom Juni 1940. Ein gefangener schwarzer Soldat soll einen deutschen Landser gestoßen haben und dafür exekutiert werden. Jünger als höchster anwesender Offizier hat zu entscheiden. "Es handelte sich um einen Riesenkerl, schwarz und mit den Stammesnarben im Gesicht, der unbeholfen der Zelle, in die man ihn eingesperrt hatte, entstieg. 'Wie kommst du dazu, einen deutschen Soldaten zu schlagen, du sollst erschossen werden. Antworte'", notiert Jünger über seine Begegnung. Der Gefangene erwiderte demnach in schlechtem Französisch, den Deutschen aus Angst gestoßen zu haben, da er gehört habe, dass Deutsche sogar Kindern die Hände abhackten. "Indem er dies sehr schwer verständlich hervorstammelte, sah er wie ein Menschenfresser aus, und ich bemerkte, dass die beiden biederen Niedersachsen, die hinter mir mit fertig gemachten Gewehren standen, ihn mit Widerwillen betrachteten. Indessen schien mir die Ähnlichkeit mit einem großen Schimpansen noch sprechender, und gleich diesen Affen hinter ihren Käfiggittern schien dieser Mensch hier äußerst fehl am Ort." Er könne es seinen Soldaten kaum verübeln, wenn sie den Gefangenen töten wollten. "Indessen muss ich von mir doch mehr verlangen, da ich vermute, ein wenig höher auf der Stufenleiter der Gerechtigkeit zu stehen", notiert er und beschreibt, wie es ihm durch allerlei Finten gelang, dem Mann das Leben zu retten. Der Eintrag schließt: "Wenn die Leute den Neger erschlagen hätten, wäre die Sache in Ordnung gewesen, nicht aber, wenn ich zugestimmt hätte."

Im Nachkriegsteil der Tagebücher wird die eigene Rolle bei der eben zu Ende gegangenen Katastrophe gedeutet und ins rechte Licht gerückt. Jünger scheint erschüttert, als er den Bericht einer Auschwitz-Überlebenden hört, schwächt seine Emotionen für die veröffentlichte Fassung aber wieder ab. Deutsche Verbrechen werden nicht geleugnet, aber der SS oder namenlosen "Lemuren" angelastet. Die Wehrmacht bleibt sauber. So wird ein Grundstein zur Legende von der "sauberen Wehrmacht" gelegt, die bis zu den Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 an weitgehend unwidersprochen blieb. Diese Tendenz dürfte maßgeblich zum frühen Publikumserfolg der "Strahlungen" beigetragen haben.

Im Rückblick zeigt Jünger sich erleichtert, dass eine potentiell folgenschwere Begegnung ausgefallen war. "Herr Hitler würde sich freuen, Sie einmal persönlich sprechen zu können. Die Gelegenheit ergibt sich wahrscheinlich schon in allernächster Zeit, bei einer Durchfahrt durch Leipzig im Auto", hatte Rudolf Heß dem Pour-le-Mérite-Träger des Ersten Weltkriegs 1926 geschrieben. Wegen einer Änderung der Reiseroute kam es nicht zu dem Besuch. "Bestimmt hätte er Unheil gebracht", fügt Jünger nachträglich unter dem Datum des 2. April 1946 ein. Dass er sich in den Zwanzigerjahren selbst um eine Begegnung mit Hitler bemüht und bei einem Aufenthalt in München dazu das "Braune Haus" aufgesucht hatte, vertraute er 1966 seinem damaligen Sekretär Heinz Ludwig Arnold an: "Da war Hitler aber nicht da, ich traf bloß den Hess, der machte mir aber einen ziemlich wirren Eindruck damals schon." Diese Episode fehlt in den "Strahlungen", denn sie hätte nicht zur Inszenierung gepasst.

Was ist das alles nun? Wer sich wochenlang durch Tausende Seiten liest, auf denen Literatur und Zeitgeschichte, Brillanz und Kitsch, Kühle und Pathos zu einem untrennbaren Klumpen verwoben sind, wird sich wohl öfter fragen, ob es das alles wert ist. Tatsächlich ist diese zweihundert Euro teure Ausgabe für ein normales Zeitbudget und eine Leserschaft, die sich nicht beruflich mit Germanistik oder Geschichte befasst, eine Zumutung. Doch wird wohl ohnehin kaum jemand alle drei Bände von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Sie strotzen aber dermaßen vor zeitgeschichtlichen Trouvaillen und Querverweisen, stupenden Beobachtungen und aphoristisch verkürzten Skizzen, dass man sich immer wieder festlesen kann, dabei oft verblüfft oder belehrt, manchmal beeindruckt, mitunter auch abgestoßen sein wird. Fazit: Dass der Zeitzeuge Jünger alles mit Fassung trug, ist falsch. Aber unbedingt wollte er so wirken, als trüge er alles mit Fassung. Zumal er die bei Bedarf aktualisieren konnte. MICHAEL MARTENS

Ernst Jünger: "Strahlungen". Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939 -1948).

Hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth

Kiesel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 3 Bd., zus. 2388 S., Abb., geb., 199,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»[Strahlungen] strotz[t] [...] vor zeitgeschichtlichen Trouvaillen und Querverweisen, stupenden Beobachtungen und aphoristisch verkürzten Skizzen, dass man sich immer wieder festlesen kann, dabei oft verblüfft oder belehrt, manchmal beeindruckt, mitunter auch abgestoßen sein wird.« Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. September 2022 Michael Martens FAZ 20220924

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2022

Neuausgabe der „Strahlungen“: Ernst Jüngers Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1948
Selbstbild
mit Käfer
Auch die Dinge in seiner Nähe betrachtete
er aus großer Ferne: In seinen Notizen scheint
die Distanz zwischen Ernst Jünger und der ihn
umgebenden Welt unüberbrückbar
VON KURT KISTER
Ernst Jünger ist 1998 in seinem 103. Lebensjahr gestorben. Er hat nahezu das gesamte 20. Jahrhundert bewusst erlebt, und in seinem umfangreichen, vielfältigen Werk spiegeln sich die Brüche des Jahrhunderts der Ideologien wider. Im Ersten Weltkrieg war er als Stoßtruppführer und mit mehr als einem Dutzend Verwundungen einer der jüngsten Träger der höchsten preußischen Tapferkeitsauszeichnung, des Pour le Mérite. Als Infanterieleutnant gehörte er zu jenen, die, statistisch gesehen, den Krieg eigentlich nicht überlebten.
Das trug zu Jüngers Gefühl bei, anders zu sein als die Anderen. Mit dieser Sozialisation entwickelte sich sein Selbstbild zuerst als „Krieger“, dann als Alleiner, als Waldgänger, als Bibliomane, als einer, dessen Abenteuer mit der Zeit mehr und mehr in seinem eigenen Kopf stattfanden. Weil er aber auch ein unablässig Schreibender war, widmete er sich lebenslang Tagebüchern oder Tagebuchähnlichem.
Jüngers produktiver, introvertierter Narzissmus faszinierte möglicherweise auch viele Leser, die selbst introvertiert waren, ohne allerdings jene besondere Art des Auserwähltseins zu spüren. Jünger war ein bekennender Elitist, der sich stets zu Gute hielt, gegen das zu sein, was man damals die öffentliche Meinung nannte und heute den Mainstream nennt.
Wer Jünger liest, zumal seine Tagebücher von „In Stahlgewittern“ (erstmals erschienen 1920) bis zum letzten, fünften Band der Reihe „Siebzig verweht“ (1997), erliest sich ein Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts. Der Stil verändert sich, wenn auch nicht grundlegend. Naturbeobachtungen, Philologisches und Philosophisches, historische Assoziationen, Grammatikalisches und verfremdete Privatissimi bilden das Gerüst, von dem aus Jünger auf die Zeitläufte blickt. Er ist, vielleicht mit Ausnahme des ersten Kriegstagebuchs, der den Dingen enthobene Beobachter, der selbst das, was in seiner Nähe passiert, aus einer Ferne sieht. Das ist eine Haltung, die allem widerspricht, was heute gerne unter Haltung verstanden wird.
Idealtypisch, vielleicht auch erschreckend ist das in zwei Szenen in den Pariser Tagebüchern nachzulesen, die Jünger in allen Fassungen nicht grundsätzlich überarbeitet hat. Das eine ist die Hinrichtung eines zum Tode verurteilten deutschen Deserteurs in Paris; das andere ist die berüchtigte Burgunderszene, in der Jünger über seine Assoziationen bei einem alliierten Bombenangriff im Mai 1944 schreibt, den er vom Dach des Pariser Hotels Raphael aus beobachtet („die Stadt ... lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blumenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird“). Burgunder-Szene wird die Passage genannt, weil Jünger auf dem Dach ein Glas Burgunder in der Hand hielt, in dem Erdbeeren schwammen.
In der alten Bundesrepublik, als Ernst Jünger noch umstritten war, galten solche Passagen den einen als Beweise kaltblütigen, mordsreaktionären Dandytums; die anderen sahen in Jünger den Vertreter des geistigen Widerstands, der mit seiner Ästhetik den Lemuren und Herren der Schinderhütten entgegentrat, wie Jünger in metaphysischer Verklausulierung die Nazis in seinem 1939 erschienenen Parabelbuch „Auf den Marmorklippen“ nannte.
Die Burgunder-Szene ist überdies ein gutes Beispiel dafür, wie sich in den Jahren nach Jüngers Tod die Philologen, Germanisten und Jüngerologen des Werks bemächtigt haben. Jünger gewinnt wohl nicht an Lesern hinzu, wohl aber an Experten und einigen Expertinnen. Das übrigens ist auch das Schicksal ganz anderer Schriftsteller aus dem vergangenen Jahrhundert, mögen sie Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann oder Uwe Johnson heißen. Historisch-kritische Ausgaben sprechen nur bereits Interessierte an.
Jüngers Tagebücher von den Stahlgewittern über die Strahlungen bis zu Siebzig verweht sind auch Zeugnisse dessen, wie das Jahrhundert den Autor verändert. Der junge, noch nicht ganz selbstsichere „Held“ wird in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren zum nationalistischen Analytiker, der gerne, wie er es bei Nietzsche gelesen hat, mit dem Hammer philosophiert. Jünger war kein Nazi, aber dass die Nazis sich auf ihn berufen haben, auch wenn er dies nicht mochte, kommt nicht von ungefähr. Sein großer Essay „Der Arbeiter“ von 1932, auch eine späte Quintessenz seiner Kriegswahrnehmungen, entwarf eine Maschinenwelt, in der jener neue Typus des Arbeiter gewordenen Kriegers dominierte. Dieses Buch ist keine soziologische Analyse, sondern Geschichts- und Gesellschaftsbetrachtung eines Mannes, der ein autoritäres Menschenbild pflegte und Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ gelesen hatte.
Für Jünger war „Arbeit“ ein Synonym für die technische, entbürgerlichte Welt. Heute hört sich das wie Mumbojumbo an; damals aber war es eine nahezu programmatische Schrift der gebildeten Rechten. Bei Klett-Cotta ist 2001 ein hochinteressanter Sammelband erschienen, herausgegeben von Sven Olaf Berggötz, der Jüngers politische Aufsätze zwischen 1919 und 1933 enthält. Sie machen deutlich, warum der Leutnant a.D. als einer der wichtigsten Ideengeber jener Rechten galt, die sich nicht unbedingt hinter dem Hakenkreuz versammelten, die aber die Nazis auch nicht unbedingt verwerflich fanden.
In den Dreißigerjahren wurde aus dem Theoretiker gewordenen Krieger, der nie ein politischer Aktivist war, dann ein Reisender, ein Sammler, ein Leser und Schreiber, der sich in Distanz zu der ihn umgebenden Welt begab, die nun voller Hakenkreuze war. Die Natur wurde ihm mehr und mehr zu dem, was davor die Politik für ihn war.
Jünger war irgendwie auch grün und Zeit seines Lebens ein sehr ernsthafter Entomologe; seine Kenntnisse über die vielfältige Welt der Käfer schien bisweilen sein Interesse an Menschen zu übersteigen (davon zeugt auch sein ebenso präzise wie überlegt geschriebenes Buch „Subtile Jagden“ von 1967). Keines seiner Tagebücher kommt ohne Käfersequenzen aus.
Die Tagebücher, die jetzt in der historisch-kritischen Neuauflage erschienen sind, stammen aus der Zeit des ungeheuer belesenen, ästhetischen Reaktionärs Ernst Jünger. Sie beschreiben das sich täglich erneuernde Chaos des Krieges nach dem deutschen Überfall auf Frankreich 1940 („Gärten und Straßen“), sie sind Ausdruck des moralischen und militärischen Zusammenbruchs in Russland („Kaukasisches Tagebuch“) und sie erzählen vom Geschlagensein, derer, denen zu wenig bewusst ist, dass sie die Schläger waren („Jahre der Okkupation“).
Vor allem aber zeichnen die beiden Pariser Tagebücher ein Bild der deutschen Besatzung in Frankreich, der Kollaboration, der Jahre des frankophilen Hauptmanns Ernst Jünger, der, auch geschützt durch seinen Pour le Mérite, mit deutschen Offizieren und Verschwörern speist, mit Picasso diskutiert und mit französischen Rechten trinkt.
In der alten Bundesrepublik lautete die immer wieder gestellte Frage, die zur Identität dieses Staates gehörte, den es auch nicht mehr gibt: Wie konnte das sein, wie konnte das geschehen? Wer Ernst Jünger liest, lernt vielleicht einen Teil der möglichen Antworten kennen.
Dass sich die Nazis auf ihn
beriefen, was er nicht mochte,
kommt nicht von ungefähr
Jünger diskutierte mit
Picasso und speiste mit
deutschen Offizieren
Ernst Jünger: Strahlungen. Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939-1948). Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 2388 S., 200 Euro.
Produktiver Narzissmus: Ernst Jünger.
Foto: Sven Simon/Imago/United Archives
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