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Weit bekannt ist die Anekdote, dass die Mafiadarsteller aus den Hollywoodfilmen ihre realen Vorbilder dahingehend beeinflusst haben, die Waffen schräg und nicht gerade zu halten. Und der Erfolg von Roberto Savianos Büchern über die Gomorrha und die Kinderclans zeugt von einem weit über Italien hinausreichenden Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an der Struktur und den Geschichten des organisierten Verbrechens. Aber wie viel Mafia erzählt die Literatur und wie viel Literatur steckt in der Mafia? Diese auf ethnologischer Feldarbeit und literarurwissenschaftlicher Theorie gründende Reflexion…mehr

Produktbeschreibung
Weit bekannt ist die Anekdote, dass die Mafiadarsteller aus den Hollywoodfilmen ihre realen Vorbilder dahingehend beeinflusst haben, die Waffen schräg und nicht gerade zu halten. Und der Erfolg von Roberto Savianos Büchern über die Gomorrha und die Kinderclans zeugt von einem weit über Italien hinausreichenden Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an der Struktur und den Geschichten des organisierten Verbrechens. Aber wie viel Mafia erzählt die Literatur und wie viel Literatur steckt in der Mafia? Diese auf ethnologischer Feldarbeit und literarurwissenschaftlicher Theorie gründende Reflexion liest die Werke der Briganten-Literatur, erzählt von den Paten, die ihre eigene Geschichte in Versform verfassen. Mafiakultur ist ein Sammelbegriff, der von einem Zusammenschluss außerhalb des Staates und abseits der Wohlhabenden handelt, von einer revolutionären Kraft, die auf konservativen Werten fußt: Familie, Liebe, Ehre und Rache, wo sie eben geboten ist. Es ist die Möglichkeit, die eigenen Verhältnisse zumindest in der Vorstellung zu überwinden und Teil einer Geschichte zu werden, deren Fortschreibung eng mit der Literatur über sie verbunden ist.
Autorenporträt
Ulrich van Loyen, 1978 in Dresden geboren, ist Ethnologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitet nach mehreren Stationen in Italien und Deutschland am Lehrstuhl für Medientheorie der Universität Siegen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Andreas Rossmann informiert sich mit dem Buch des Ethnologen Ulrich van Loyen über die Gründungsmythen der Mafia. Der Autor untersucht laut Rossmann in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Mafia und Literatur auf so anregende und nicht nur wissenschaftliche Weise, dass dem Leser laut Rossmann die ganze folkloristische Mentalität und die Ambivalenzen der kriminellen Vereinigungen Süditaliens und ihre Geschichte besser, wenngleich nicht gänzlich neu einleuchtet. Bedauerlich scheint dem Rezensenten das Fehlen einer Bibliografie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2021

Wie viel Literatur steckt in der Mafia?
Ulrich van Loyen hat in „Der Pate und sein Schatten“ untersucht, wie sich organisiertes Verbrechen und Erzählungen beeinflussen
Ein Huhn möchte der Mafia beitreten. Es geht zum Bürgermeister und sagt: „Ich möchte gern der Mafia beitreten.“ Der Bürgermeister erklärt ihm: „Es gibt keine Mafia.“ Darauf geht das Huhn zum größten Bauunternehmer der Region und sagt wieder: „Ich möchte gern der Mafia beitreten.“ Der Bauunternehmer sagt: „Es gibt keine Mafia.“ Schließlich wendet sich das Huhn an den Chefredakteur der örtlichen Zeitung und wiederholt seinen Wunsch. Der setzt sich mit dem Huhn ins Besuchereck, bietet ihm einen Espresso an, breitet die Arme aus und ruft: „Aber es gibt keine Mafia!“ Da kehrt das Huhn zurück in seinen Hühnerhof. Die anderen Hühner wollen wissen, ob es Erfolg gehabt hat. Das Huhn sagt: „Es gibt keine Mafia.“ Jetzt glauben die anderen Hühner alle, dass das Huhn bei der Mafia ist.
Diese Geschichte könnte ganz gut als Motto von Ulrich van Loyens Buch „Der Pate und sein Schatten“ dienen, in dem es um – ja was genau eigentlich geht? Gewiss um die Mafia; aber nicht um die Mafia als einen durch Recherche zu ergründenden Sachverhalt, sondern als Mentalität, als literarisches Konstrukt, als etwas, das sich wie bei einem Spiegelkabinett durch ineinander reflektierte Erwartungen und Reaktionen ergibt; als ein Phänomen, das sich, indem es sich offenbart, erst recht in ein Geheimnis hüllt.
Der Titel ist nicht glücklich gewählt. Klar, hier wird Nietzsche zitiert, „Der Wanderer und sein Schatten“, und damit eine bestimmte Tradition philosophischen Schreibens aufgerufen (zumal es in der Reihe „Die Fröhliche Wissenschaft“ erschienen ist). Doch wenn der Pate einen Schatten wirft, dann besteht kein Zweifel an seiner Körperlichkeit; es klingt wie eine Netflix-Serie der melodramatischeren Art. Tatsächlich aber entsteht dieser Körper erst durch Zuschreibungen; in gewisser Hinsicht also ist es der Schatten, der den Körper wirft. Die Morde und die Gewalt sind real genug; und doch haben sie, wie das Buch es sieht, ihre Wurzel oder mindestens ihre volle gesellschaftliche Präsenz in einer Phantasmagorie.
Am besten betrachtet man dieses Buch als einen Essay, eine Textsorte also, die sich die Freiheiten der Assoziation und des Einfalls nimmt und dabei auf Eleganz nicht verzichten will. Denn sähe man es beispielsweise als eine soziologische oder historische Studie an, würde man vor allem seine Sprunghaftigkeit und diese als Mangel bemerken. Immer wieder setzt der Autor neu an. Davon hat man, wenn man es liest, in jedem Fall was, wenn auch nie ein Ganzes. Und wahrscheinlich ist dieses Verfahren ja wirklich die beste Art, einem Phänomen wie der Mafia, der Camorra oder der ’Ndrangheta – zwischen ihnen unterscheidet der Autor sorgfältig – irgendwie beizukommen. Ziemlich am Beginn heißt es: „Ethnologen haben jüngst von Mafiacraft gesprochen, von einer Art Fluidum, einer dunklen, sozial durch Gerüchte, Halbwahrheiten, Erzählungen präsenten Stimmung, in der und durch die die Mafia operiere. Aber was, wenn die Mafiacraft der Anfang ist, der Anfang der Mafia, der erscheint, als wäre er der Anfang von allem? Was, wenn am Anfang die große Erzählung steht, deren Eigenschaften wir erst verstehen müssen, bevor wir über die sich aus ihr ernährenden Körperschaften wirklich nachdenken können? Die folgende Darstellung versucht dieses Fluidum, diese Stimmung der Mafia zu historisieren.“
Nun ist die Mafia keineswegs bloß ein Fluidum und eine Stimmung. Und ob diese Umkehrung der klassischen Sichtweise von Basis und Überbau standhält, nämlich so, dass der erzählende Überbau die Basis wirklich zu „ernähren“ vermöchte, sei dahingestellt. Die modische Kategorie des „Narrativs“, so sympathisch sie in ihrer Offenheit nach allen Seiten erst mal klingt, steht in Opposition zur Wahrheit. Und um die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit ging es in den Prozessen, in denen mindestens die sizilianische Mafia seit den Neunzigern untergegangen ist. Es sind nicht unterschiedliche „Erzählungen“, die sich Staatsanwalt und Verteidiger um die Ohren hauen, sondern am Ende steht ein Urteil, das sich auf Beweise stützt. 10 000 Jahre Gefängnis wurden in einem der Riesenverfahren mit Hunderten Angeklagten verhängt, wobei die Lebenslänglichen naturgemäß in diese Summe noch gar nicht eingegangen sind. Erzählen und dichten durften dann freilich die Inhaftierten, und sie taten es mit einer Muße, welche ihnen in ihrer früheren „malavita“, dem anstrengenden Leben der Schurken (im Gegensatz zur lockeren Dolce Vita wird sie als ein Wort zusammengeschrieben), nicht zur Verfügung stand. Van Loyen zitiert ausführlich die Gedichte von Cutolo, der den Kokainhandel im Großraum Neapel revolutioniert hatte, als Star und Volksheld zusammen mit dem Fußballer Maradona aufgetreten und schließlich doch im Knast gelandet war, bewertet und interpretiert sie und erkennt ihnen, bei insgesamt mittelmäßiger poetischer Leistung, doch eine interessante Originalität zu, wenn Cutolo von seinem Hass auf das bittere weiße Pulver spricht.
Van Loyen sieht wenigstens die klassische Mafia offenbar als ein inzwischen erledigtes Gebilde an; es färbt seinen Ton ein wenig wehmütig. „Was auf neapolitanische Art geschieht – neben Essen und Lieben auch Rauben und Morden –, ist bereits als Kulturgut formatiert. Aus diesem Grund ist Verbrechen in Neapel zumindest dort, wo es öffentlich verhandelt wird, immer auch Folklore.“ Das erinnert an den Komponisten Stockhausen, der die Anschläge des 11. Septembers ein Kunstwerk nannte.
Gegen diese gemütlich amoralische Sichtweise stand die italienische Gesellschaft in den Neunzigern auf. Die Ermordung der Ermittler Falcone und Borsellino hatte eine breite Öffentlichkeit mobilisiert. Der Boss der Bosse, Totò Riina, genannt „die Bestie“, verurteilt wegen mindestens dreißig Morden, starb hochbetagt erst vor Kurzem nach einem Vierteljahrhundert in Haft.
Heute heißt der Flughafen von Palermo nach Falcone, während die Witwe Riinas, immer noch im alten Mafianest Corleone ansässig, in einer Straße wohnen muss, die nach einem Opfer ihres Mannes umbenannt wurde und wo bei Prozessionen die Statue der Madonna delle Grazie nicht mehr vor ihrem Haus verweilen darf – eine Toterklärung zu Lebzeiten.
Das ist knapp erzählt, vieldeutig und von einer emotionalen Kraft, die von keiner der interessierten Parteien vollauf kontrolliert werden kann. So sehen, jenseits des Narrativs, Geschichten aus, die etwas taugen.
BURKHARD MÜLLER
Der Kokainhändler Cutolo
wurde im Gefängnis
zum Dichter
Ulrich van Loyen: Der Pate und sein Schatten. Die Literatur der Mafia. Matthes und Seitz, Berlin 2021.
198 Seiten, 15 Euro.
Folklore und Horror: Mafia-Boss Salvatore Totò Riina, genannt „die Bestie“, während seines Prozesses in Neapel.
Foto: Imago/Granata
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