24,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Es ist die Geschichte einer beispiellosen Emanzipation. Der Blick der Heldin,der aufsässigen Tochter, ist unerbittlich; sie rekonstruiert das Leben des Vaters,um sich über sich selbst klar zu werden: Was hat Mimoun Driouch damals inder marokkanischen Provinz eigentlich so alles getrieben? Bloß Ziegen gehütet,die Cousine Fatma bezirzt und das tugendhafteste Mädchen des Dorfes geheiratet?Doch wieso hat sich Mimoun dann auf den Weg nach Spanien gemacht?Dort wird aus ihm ein erfolgreicher Kleinunternehmer, der es auf beleibteSpanierinnen abgesehen hat. Selbst als er die gesamte Familie nach…mehr

Produktbeschreibung
Es ist die Geschichte einer beispiellosen Emanzipation. Der Blick der Heldin,der aufsässigen Tochter, ist unerbittlich; sie rekonstruiert das Leben des Vaters,um sich über sich selbst klar zu werden: Was hat Mimoun Driouch damals inder marokkanischen Provinz eigentlich so alles getrieben? Bloß Ziegen gehütet,die Cousine Fatma bezirzt und das tugendhafteste Mädchen des Dorfes geheiratet?Doch wieso hat sich Mimoun dann auf den Weg nach Spanien gemacht?Dort wird aus ihm ein erfolgreicher Kleinunternehmer, der es auf beleibteSpanierinnen abgesehen hat. Selbst als er die gesamte Familie nach Kataloniennachkommen lässt, gehen die Frauengeschichten weiter - bis die Tochter sichnicht mehr länger den Mund verbieten lassen will: Je mehr der Roman sichnach Europa verlagert, desto stärker wird sie - und desto schwächer der vermeintlichübermächtige Vater.Najat El Hachmi verrät ihre vielschichtigen, eigenwilligen Figuren nie, stelltihre Schwächen aber schonungslos bloß. Jenseits aller Klischees und Stereotypenzeugen sie von der Komplexität der Welt, in der wir alle leben.
Autorenporträt
Najat El Hachmi, 1979 in Marokko geboren und in Katalonien aufgewachsen, hat erstmals 2004 mit dem vieldiskutierten Essay "Jo també sóc catalana" (Auch ich bin Katalanin) von sich reden gemacht. 2008 gewann sie mit "Der letzte Patriarch" überraschend den Premi Ramon Llull, den wichtigsten und höchstdotierten katalanischen Literaturpreis. Der Roman wurde bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2011

Die Sprache der Befreiung
In ihrem Roman „Der letzte Patriarch“ erzählt die in Barcelona lebende Marokkanerin El Hachmi vom Untergang eines Gewaltherrschers
Für Mimoun ist die Frau etwas Heiliges. Notfalls muss sie unter Einsatz körperlicher Gewalt gemaßregelt und ihre Tugend mit aller Strenge bewahrt werden. Von klein auf wird der Sohn der Familie Driouch, die in einem marokkanischen Dorf zu Hause ist, von seinen älteren Schwestern gehätschelt und umgarnt und auf die zukünftige Rolle als Familienoberhaupt vorbereitet. Auch wenn er die Frauen liebt, achten wird er sie nicht. Wer Mimouns höchst eigenen moralischen Vorstellungen nicht entspricht, muss sich vorsehen. Harmlos ist es noch, wenn er unliebsame Frauen als Huren beschimpft. Das hindert ihn gleichwohl nicht daran, seine schier berstende Männlichkeit bei allen möglichen Gelegenheiten unter Beweis zu stellen. „Für Mimoun waren Frauen, die keine Selbstachtung hatten, die ihre Ehre nicht bewahrten, nichts weiter als das: Höhlen, in die man eindrang, um seinen Druck abzulassen.“ Der gutaussehende Mimoun, „dieser Elvis aus der marokkanischen Provinz“, findet reichlich Gelegenheit zur Druckentladung.
Mit anderen Worten: Mimoun ist ein potentes Scheusal, ein Tunichtgut, rücksichtslos und brutal, jähzornig und auf seinen eigenen Vorteil bedacht, ein Brudermörder und Frauenzüchtiger, der sehr klare Vorstellungen von seiner Lebensaufgabe hat. Gleich zu Beginn von Najat El Hachmis Roman „Der letzte Patriarch“ wird er in eine männliche Ahnenreihe gestellt, und es gehört zur Natur des Systems, dass die väterliche Linie fortgesetzt wird und auch Mimoun zu einem großen Patriarchen heranreifen soll. Dazu bedarf es einer Frau, die sich der zukünftige Herrscher über den Clan schon mit 16 ausguckt. Sie soll nur ihm gehören, seine Befehle ausführen und seine Kinder in die Welt setzen, bevorzugt Mädchen, weil, wie er sich ausmalt, diese ihren Vater bedingungsloser liebten als Jungs. Für Mimouns Frau und die Familie wird all dies zum grausamen „Martyrium“; der Begriff fällt häufig, und er stellt keine Übertreibung dar.
Das Martyrium, daran lässt Najat El Hachmi keinen Zweifel, hat seine Ursachen nicht allein in der charakterlichen Disposition Mimouns, sondern auch in der gesellschaftlichen Ordnung. In einem kürzlich erschienenen Essay in der Zeitschrift Lettre beschäftigt sich Rachid Boutayer mit dem Körper im Islam und dem Denken des 2009 gestorbenen marokkanischen Dichters und Soziologen Abdelkebir Khatibi. Das Weibliche, schreibt Boutayer unter Bezug auf Khatibi, bleibe aus Sicht der islamischen Theologie negativ besetzt. Weiblichkeit selbst werde in traditionellen Gesellschaften als eine Beleidigung, ein Übel betrachtet, die Frau gelte als Wesen, das kontrolliert, verschleiert, bisweilen geschlagen und manchmal verstoßen werden müsse.
Aus dieser Perspektive heraus entwickele sich notwendig ein Phallogozentrismus als „Krankheit des Männlichen“. Maskulinität bedeutet Macht, Misogynität drückt sich aus in der Verachtung des weiblichen Körpers. Die Sexualität der Frau ist abhängig von der des Mannes, von seinem Willen, seiner Gewalt. Mimoun leidet unter dieser Krankheit. Und er ist zugleich ein Opfer seiner eigenen Anmaßungen.
Die 1979 in Marokko geborene, in Spanien aufgewachsene und auf Katalanisch schreibende Najat El Hachmi erliegt nun aber gerade nicht der Versuchung, die Biografie eines patriarchalen Monsters ganz bruchlos zu konstruieren. Sie schildert den Aufstieg des Schulversagers Mimoun zum Patriarchen, der schließlich zum Arbeiten nach Spanien geht, um die Heirat mit der Auserwählten und später die Familie zu finanzieren, durchaus zwiespältig, zuweilen ironisch, kühl, sachlich. El Hachmi erzählt von Mimouns Kindheit in jenem marokkanischen Dorf, in dem die Welt der sechziger Jahre noch unveränderbar archaisch erscheint, auch wenn Mimouns Vater den Sohn gerne als erfolgreichen Schüler sehen würde.
Den Gefallen tut ihm der Aufsässige allerdings nicht. Stattdessen: Eskapaden und Verirrungen. Aber auch von der Doppelschneidigkeit dieses Aufwachsens berichtet El Hachmi mit wunderbarer Plastizität, ganz vertraut mit dem Geschilderten und sich doch auf Distanz haltend, manchmal heiter, manchmal brutal realistisch, immer aber nahe an ihren Figuren. Mimoun wird eben nicht nur zum Tyrannen erzogen, sondern ist selbst Opfer jener Strukturen, auf die er sich stützen möchte. Schläge sind auch für ihn an der Tagesordnung, und als Kind wird er wohl, auch wenn es nicht ausgesprochen ist, von einem Verwandten vergewaltigt. So entsteht zunächst nicht nur das Porträt eines Patriarchen, sondern das Bild eines Kreislaufs der Gewalt, innerhalb dessen der Patriarch selbst nur ein Getriebener ist.
Zwischen überbordender Liebe und unverhohlener Wut pendelt dieser labile Mimoun hin und her, und er ahnt vielleicht im Laufe der Zeit, dass er die ihm von der Tradition zugebilligte Rolle nicht ausfüllen kann, dass da etwas durcheinandergerät. Was das ist, erfahren wir im zweiten Teil des Romans: Die Familie folgt dem Vater, der in Spanien ungeniert mit „Christenfrauen“ zusammenlebt, in die Fremde. Nun rückt auch die Erzählerin selbst, Mimouns in den siebziger Jahren geborene Tochter, in den Mittelpunkt, und wir kommen dem immer näher, was schon Prolog und Titel des Romans suggerieren: „Tatsache ist, dass Mimoun das abrupte Ende dieser Erbfolge markiert.“
Es ist ein mitreißender Bildungsroman, der nun entsteht und in dem El Hachmi viel von ihren eigenen Erfahrungen unterbringen konnte. Die Ich-Erzählerin versucht, der „Hölle“ zu entkommen; sie rettet sich aus der ohnehin schwierigen Situation als Kind eines Despoten und einer Migrantenfamilie, die in einer fremden säkularen Welt gestrandet ist, in eine andere Sphäre: die Sprache. Zunächst studiert sie ein Wörterbuch von A bis Z, später kommt sie durch eine ihr zugewandte Lehrerin mit Literatur in Berührung. Sie liest Zadie Smith und Mercè Rodoreda, Faulkner und Goethe; sie lernt Musik zu verstehen und sehnt sich nach einem anderen Leben. Alles, was sie tut, wird zum Regelverstoß, aber sie nimmt die Prügel und die Vorhaltungen des Vaters gleichwohl auf sich. „Ich wusste nicht, ob ich es war, die sich veränderte, oder ob ich ihn nur mit jedem Tag weniger ertrug.“
Die neue Sprache, die Sprache überhaupt ist das Medium einer Flucht aus den zwanghaften Zusammenhängen. Die Ich-Erzählerin erkennt die Chance einer Selbstermächtigung, und sie nutzt sie. Es ist ein Bereich, in den der Vater nicht mehr vordringen kann, weil er die neuen Kommunikationsformen nicht beherrscht. Sein Gewaltcode funktioniert plötzlich nicht mehr. Zugleich weiß die Erzählerin, dass sie ihre Familie hinter sich lassen muss. Bleibt die Mutter noch sprachlos und duldsam, so findet die Tochter ihren Weg in die Freiheit – es ist ein radikaler Weg, wie man am Ende des Buches sieht. „Der letzte Patriarch“ beschreibt eine Revolte und endet mit einer Entmachtung.
Ohne diesem von Isabel Müller wunderbar übersetzten Roman zu viel aufbürden zu wollen, illustriert er doch auch, was in den letzten Wochen in Nordafrika geschieht: Die Aufständischen bedienen sich der Sprache, die zuvor lediglich ein Mittel der Unterdrückung war. Sie müssen dafür nicht mehr ins Ausland gehen, nach Frankreich oder Spanien. Man sollte weder die Rolle der Bildung noch die der Kommunikationsoptionen, die durch das Internet geschaffen wurden, bei diesen gewaltigen Umwälzungen unterschätzen. Die Vertreter des alten patriarchalen Systems – ob sie Mimoun heißen oder Mubarak oder Ben Ali – scheinen endlich ausgedient zu haben.
ULRICH RÜDENAUER
NAJAT EL HACHMI: Der letzte Patriarch. Roman. Aus dem Katalanischen von Isabel Müller. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2011. 346 Seiten. 22,90 Euro.
Den Aufstieg eines Monstrums
schildert dieser Roman zwiespältig,
zuweilen ironisch, kühl, sachlich
Najat El Hachmi (links) beobachtet, wie der Titelheld ihres Romans schon in jungen Jahren in die Fußstapfen der Patriarchen tritt. Da er ein moderner Patriarch werden soll, passiert er das Durchgangsstadium eines „Elvis aus der marokkanischen Provinz“.  Fotos: privat (links), Stephanie Sinclair/VII/Corbis
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2011

Wie ein Lamm am Seil

Najat El Hachmi zeigt in ihrem autobiographischen Roman, wie man einen Patriarchen stürzen kann - mit den Mitteln der Literatur.

Von Ernst Osterkamp

Es gibt Bücher, von denen man sich gleichsam wider Willen fesseln lässt: ein sicherer Beweis dafür, dass sie zu den besten gehören. Da wirft einem ein günstiges Geschick einen Roman auf den Tisch, an dem man im Buchhandel achtlos vorübergeschaut hätte: ein arabischer Verfassername, den man nicht kennt, darunter das Gesicht einer dunkelhaarigen jungen Frau, dann ein Titel, wie er plakativer nicht sein könnte: "Der letzte Patriarch". Sieht aus wie ein feministischer Thesenroman aus dem Maghreb. Wenn man dann, vom Pflichtgefühl getrieben, die erste Seite liest und erfährt, dass die Geschichte eines Mimoun erzählt werden soll, der der letzte Patriarch seiner Familie gewesen sei, denn "keiner seiner Söhne würde sich mehr mit dem autoritären Geist identifizieren, der ihm vorausgegangen war, keiner von ihnen würde versuchen, seine diskriminierenden und diktatorischen Verhaltensmuster nachzuahmen" - fragt man sich angesichts dieser dröhnenden Programmatik nur noch verstört: "Verlag Klaus Wagenbach, quo vadis?" und legt den Band beiseite.

Und dann greift man doch noch einmal nach dem Buch, überspringt schaudernd die erste Seite und beginnt gleich mit der Erzählung, deren Einstieg nicht konventioneller sein könnte, denn der Roman setzt ein mit der Geburt des letzten Patriarchen, des lange ersehnten ersten Sohns einer marokkanischen Dorffamilie: "Er hieß Mimoun, der vom Glück Gesegnete, weil er nach so vielen Frauen geboren worden war." Auch dieser Satz klingt plakativ, aber das muss er auch, denn er spiegelt die stabile Geschlechterhierarchie in einer Welt, in der die patriarchalische Ordnung - begünstigt auch durch den Analphabetismus, der in Marokko bis heute rund vierzig Prozent der Bevölkerung betrifft - nie in Frage stand.

Aber: die Geburt Mimouns wird im ersten Kapitel nicht - männlich - als ein Faktum konstatiert, sondern sie wird aus der Perspektive der Gebärenden als ein eminent körperliches Geschehen vergegenwärtigt, und so gerät der Leser gleich mit den ersten Sätzen des Romans unwiderstehlich in den Bann eines Erzählens, das sich durch eine ungeheure Konkretheit und Sinnlichkeit auszeichnet und damit seine eigene Programmatik mühelos dadurch überspielt, dass es dichteste Lebensrealität gestaltet.

Die Mutter Mimouns steht mit dem Hahnenschrei auf, vollzieht ihre morgendlichen Waschungen, pflückt Feigenkakteen, wobei "ein dicker Tropfen Schweiß ihre Wangen hinunterrann", dann backt sie das Brot für ihre Familie, bis sie plötzlich bemerkt, "dass ihre Hosen feucht waren von einer undefinierbaren beigen Flüssigkeit". Die Wehen setzen ohne Ankündigung ein: "Großmutter kauerte sich hin und hielt sich an dem Seil fest, das von der Decke herunterhing. Sie sah sich die aus Baumstämmen geschlagenen Balken an - was für große Holzwurmlöcher! Jedes von einer anderen Farbe. Sie hob den Kopf, um zur anderen Seite zu schauen, während sie ihre Knie mit aller Kraft umklammerte und zu pressen begann. Es sah aus, als würde sie am Seil hängen, wie ein Lamm." Wie ein Lamm am Seil: in diesem Buch wird nicht allein sinnlich und sachlich, sondern auch gänzlich unsentimental erzählt. Nicht zuletzt daraus zieht der Roman seine verstörende Kraft.

Erzählt wird er aus der Perspektive der Tochter Mimouns, was der Leser aber erst nach rund 150 Seiten erfährt, als sie das Kunststück fertigbringt, auch von ihrer eigenen Geburt zu erzählen. Bis dahin aber konzentriert sich die Erzählung ganz auf die Lebensgeschichte des Vaters, der sich das Programm verordnet hat, ein großer Patriarch zu werden, dem aber seine Tochter das Schicksal auferlegt, der letzte Patriarch zu sein - und diese Tochter ist schon deshalb stärker als ihr brutal gewalttätiger, saufender, wahllos begattungswütiger Vater, weil sie es versteht, sich selbst und damit dem Leser die Existenz dieses Patriarchen in seiner ganzen inneren Schwäche und seelischen Kläglichkeit im Prozess des Erzählens begreiflich zu machen. Sie gewinnt, indem sie sein Leben erzählt, förmlich die Souveränität über diesen die Familie mit archaischen Ehrbegriffen tyrannisierenden und für sich selbst jede - vor allem sexuelle - Freiheit beanspruchenden Vater und kann deshalb die Geschichte dieses Familienmartyriums auch mit großer innerer Freiheit und Gelassenheit, ohne Selbstmitleid, ja mit Ironie und Heiterkeit erzählen.

Najat El Hachmi, 1979 in Marokko geboren und in Katalonien aufgewachsen, legt ihrem 2008 erschienenen und mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Roman, den Isabel Müller nun aus dem Katalanischen glänzend ins Deutsche übertragen hat, stilistisch den Gestus des mündlichen Erzählens zugrunde. Das war auch deshalb eine kluge Entscheidung, weil die Tochter Kindheit und Jugend ihres Vaters und damit die Pathogenese dieses Patriarchen selbst nur aus Erzählungen und Vermutungen rekonstruieren kann. So gewinnt die Erzählung ihre Lebensfrische und Direktheit, die noch gesteigert wird durch die von staunenswerter Empathie zeugende Fähigkeit der Autorin, sich ungerührt in die befremdlichsten männlichen Seelenlagen hineinzudenken.

Ein Patriarch wird Mimoun durch die Selbstverständlichkeit von Gewalt in seinem dörflichen Alltag: seelischer, körperlicher und sexueller Gewalt, die ihm in seiner Jugend - die Erzählerin vergegenwärtigt dies in schockartig sich verdichtenden Episoden - zugefügt wird. Ein Patriarch wird Mimoun aber auch dadurch, dass er, ein Virtuose in der Funktionalisierung der Opferrolle, die ihm zugefügte Gewalt zur Rechtfertigung der narzisstischen Brutalität einzusetzen versteht, mit der er seiner Umgebung, insbesondere seiner Mutter und seinen Schwestern, seinen Willen aufzwingt. Das klingt modellhaft, verliert aber alle Schematik durch die Lebensnähe, die Najat El Hachmi ihrer Erzählung verleiht. Kaum hat er seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht, schlägt Mimoun blindwütig auf seine geliebte jüngere Schwester ein, wenn er, für den "die Welt voller Huren war", glaubt, dass sie gegen seine Ehrbegriffe verstoßen hat. Schon als Sechzehnjähriger sucht sich Mimoun die Frau aus, von der er sicher ist, dass er sie wird "zähmen können", und deren Leben er konsequent in ein Martyrium verwandelt, weil er sehr bald auch sie zu einer "Hure" erklärt, denn dies gibt ihm die Rechtfertigung für seine zahllosen sexuellen Eskapaden.

Der Lebensweg dieses Mimoun führt von seinem marokkanischen Dorf nach Spanien, wo er sich nach manchen durch seine Labilität begründeten Rückschlägen eine Existenz als kleiner Bauunternehmer aufbaut, so dass er auch seine Familie nachholen kann. Das hindert ihn aber nicht daran, weiterhin seine dörflich-archaischen Ehrbegriffe rigoros an seiner Familie zu exekutieren und zugleich sexuelle Verhältnisse zu anderen Frauen zu pflegen und dies seiner Frau auch gelegentlich mit Nacktphotos von sich und seinen Geliebten zu beweisen: "Ich hätte sie auch fast gesehen, wenn Mutter nicht gesagt hätte: He, das ist nichts für deine Augen. Es war eine Lehrerin, die mich lieber mochte als alle anderen Kinder und die uns ständig bemutterte, weil das zu ihrem Beruf gehörte." Das sind so die Schocks aus dem Alltag einer Familienhölle, und dass Najat El Hachmi von ihnen ohne jede Wehleidigkeit berichtet, ist Teil ihrer literarischen Strategie zur Entzauberung des Patriarchen.

Eindringlich erzählt Najat El Hachmi davon, welche Verstörungen und Orientierungskrisen aus der Kollision der dörflich-islamisch-marokkanischen und der städtisch-säkular-spanischen Kultur für die Erzählerin erwachsen. Vor allem aber zeigt sie im zweiten Teil des Romans, wie sich aus der Friktion der Kulturen das eigensinnige und aufmüpfige Ich der Erzählerin formt, für die es kein Zurück mehr in die Rituale eines archaisch-dörflichen Patriarchats geben kann. Am Ende schlägt sie den Patriarchen in einer riskanten Episode, die geeignet ist, dem Leser den Atem stocken zu lassen, für immer mit dessen eigenen Mitteln: mit der Gewalt der Sexualität. Mit der Kraft ihres eigenen Begehrens allerdings.

Ein wunderbares, ein notwendiges Buch. Es kommt gerade zur rechten Zeit. Die Patriarchendämmerung, die Nordafrika und die gesamte arabische Welt erfasst hat, geht auch an Marokko nicht vorüber. Dies Buch einer jungen Autorin trägt aus sehr persönlicher Perspektive dazu bei, dem Leser den Sturz der Patriarchen begreiflicher zu machen.

Najat El Hachmi: "Der letzte Patriarch". Roman.

Aus dem Katalanischen von Isabel Müller. Wagenbach Verlag, Berlin 2011. 346 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fast hätte der Rezensent Ernst Osterkamp, berichtet er, dieses Buch gleich wieder beiseite gelegt. Allzu schlicht in seinen Gegenüberstellungen und seiner Patriarchatskritik kam es ihm auf den ersten Seiten vor. Das aber wäre, versichert er, ein großer Fehler gewesen. Sehr nachhaltig nämlich hat ihn die Lektüre am Ende beeindruckt. Geschildert wird darin ein marokkanisch-islamischer Mann der wirklich ganz alten, und das heißt: allerübelsten Schule. Er betrügt seine Frau, behandelt sie schlecht und zeigt ihr schon mal Nacktfotos von sich und einer Geliebten. An der Furchtbarkeit dieses Patriarchen bestehe natürlich gar kein Zweifel, umso erstaunter zeigt sich der Rezensent allerdings, mit welcher Konkretheit zum einen und welchem Understatement, ja, welcher "Ironie" und "Heiterkeit" das Unglaubliche hier aus der Perspektive seiner Tochter geschildert wird. Nur so könne gelingen, was hier gelingt: Die Wiedergewinnung der Souveränität der Tochter gegenüber dem Scheusal, das ihr Vater ist. "Wunderbar", lobt der Rezensent und rät dringend zur Lektüre.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Najat El Hachmi steht als Metapher dafür, dass die Politik noch zu retten ist." Avui "Der Roman besticht durch eine schnörkellose Sprache und einen schnellen Rhythmus." El Mundo