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Das Werk des französischen Soziologen und Philosophen Gabriel Tarde gehört zu den internationalen Wiederentdeckungen der letzten Jahre. Nach seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung liegt nun auch seine außergewöhnliche Programmschrift Monadologie und Soziologie erstmals in deutscher Sprache vor. Im Jahre 1893 erschienen, stellt Monadologie und Soziologie die wohl konsequenteste wissenschaftstheoretische Weiterentwicklung der Gesetze der Nachahmung dar. In einer erstaunlich aktuellen Interpretation der Leibnizschen Monadenlehre wird die außerordentliche aktuelle sozialtheoretische Relevanz…mehr

Produktbeschreibung
Das Werk des französischen Soziologen und Philosophen Gabriel Tarde gehört zu den internationalen Wiederentdeckungen der letzten Jahre. Nach seinem Hauptwerk Die Gesetze der Nachahmung liegt nun auch seine außergewöhnliche Programmschrift Monadologie und Soziologie erstmals in deutscher Sprache vor. Im Jahre 1893 erschienen, stellt Monadologie und Soziologie die wohl konsequenteste wissenschaftstheoretische Weiterentwicklung der Gesetze der Nachahmung dar. In einer erstaunlich aktuellen Interpretation der Leibnizschen Monadenlehre wird die außerordentliche aktuelle sozialtheoretische Relevanz von Tardes Werk sichtbar. Das Vorwort von Bruno Latour, der in seinen Werken immer wieder Bezug auf Tardes Arbeiten nimmt, unterstreicht die Bedeutung von dessen Werk für die zeitgenössische soziologische Forschung.
Autorenporträt
Gabriel Tarde (1843-1904) war Professor für Philosophie am Collège de France in Paris. Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2010

Von Schlafwandlern
und Händeschüttlern
Universeller Wiederholungszwang: Gabriel Tarde wird
als soziologischer Klassiker für unsere Zeit gefeiert
Die „Tausend Plateaus“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari sind zum poststrukturalistischen Kultbuch avanciert. An einer Stelle des Buches machen die Autoren, die sich als Anti-Soziologen gerieren,einen Kniefall vor einem lange in Vergessenheit geratenen Soziologen: Sie schreiben eine Hommage an Gabriel Tarde (1843-1904). Nur im Anschluss an Tarde, sagen sie, sei eine radikale Neuerfindung der Soziologie als einer „Mikro-Soziologie“ möglich, die sich genau für die Unwahrscheinlichkeit dessen interessiert, was konkurrierende Soziologien als „soziale Tatsachen“ oder „kollektive Vorstellungen“ in stabilen gesellschaftlichen Strukturen verankert sehen. Denn es ist doch gerade die soziale Regelmäßigkeit, die erst einmal erklärt werden muss und nicht immer schon vorausgesetzt werden kann.
Gabriel Tarde geht es um „die kleinen Nachahmungen, Gegensätze und Erfindungen, die eine Materie unterhalb der Vorstellung bilden“. Mit diesem Programm machen Deleuze und Guattari ernst – bis hin zu stilistischen Nachahmungen Tardes. Ein Blick in Tardes nun auf Deutsch erschienenen Essay zur „Monadologie und Soziologie“ zeigt es: Gabriel Tarde ist der Großvater der poststrukturalistischen Philosophie. Seine von der deutschen idealistischen Tradition beeinflusste Philosophie der Differenz und Wiederholung wird emphatisch gegen jegliche Tradition und insbesondere gegen den Hauptfeind in Stellung gebracht – die Hegelsche Dialektik.
Ebenso emphatisch feiert in den letzten Jahren der Soziologe Bruno Latour die erfinderische Sozialtheorie Tardes, den er explizit als „nicht vollkommen respektablen Großvater“ seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“ vereinnahmt. Auch Latour legt großen Wert darauf, dass das „Mikro“ der Mikro-Soziologie Tardes richtig begriffen wird. Mit ihm soll man begreifen, dass sich die großen Strukturen nur aus der Vielzahl des unendlich Kleinen erklären lassen, dass das Makro nur eine „leichte Erweiterung“ des Mikro ist. Dabei wird aber gerade nicht der rational handelnde Mensch in den Fokus gerückt – der universelle Wiederholungszwang unterläuft gerade die Logik einer Eingrenzung des Sozialen auf das menschliche Bewusstsein und lässt für Latour auch noch die Dichotomie von Natur und Gesellschaft irrelevant werden.
Latour wird nicht müde, die universelle Relevanz dieses kleinen, aber radikalen Perspektivenwechsels zu betonen. Mit „Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen“ erscheint jetzt in deutscher Übersetzung auch sein Plädoyer für Tarde als Begründer einer neuen Politischen Ökonomie, die in seinen Händen zu nichts weniger als der einzigen interessanten sozialwissenschaftlichen Alternative zur Marx’schen Analyse des Kapitalismus gerät.
Schon ist von einer regelrechten „Tardomanie“ die Rede. Auffällig ist allemal, dass es bei der gegenwärtigen Neuentdeckung nie nur um die Würdigung eines zu Unrecht vergessenen Klassikers geht – zumindest für die Soziologie geht es hier ums Ganze.
Gabriel Tarde soll als ein origineller Erfinder eines heute relevanten Denkens etabliert werden, das, in Latours Worten, eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft ermöglicht. Nicht ungelegen kommt, dass sich dabei auch eine dramatische Geschichte als Urszene der Soziologie erzählen lässt. Am Anfang der akademischen Institutionalisierung des Faches gegen Ende des 19. Jahrhunderts steht nämlich eine erhitzte Debatte zwischen Tarde und Émile Durkheim, in der unter anderem auf dem Spiel stand, wovon denn die Soziologie überhaupt eine Wissenschaft sein sollte. Als ihr Gewinner ging bekanntlich Durkheim hervor. Mit ihm konnte sich die Soziologie von der Psychologie abgrenzen und wurde zur Wissenschaft des Sozialen, dessen Tatsachen sich nach dem berühmten Wort Durkheims wie Dinge behandeln lassen. Was aber wäre anders gelaufen, wenn der Streit anders ausgegangen wäre? Was birgt die Zukunft der Soziologie an Möglichkeiten, wenn die Kontroverse noch einmal aufgerollt wird?
In Tardes „Gesetzen der Nachahmung“ kann man den Versuch nachlesen, die Welt als Produkt eines universellen Wiederholungszwangs zu erklären. Es ist eine gerade für zeitgenössische Theoriedebatten plausible Idee – Wiederholung ist die Quelle ebenso von Ähnlichkeit wie von Veränderung –, die Tarde schon 1890 bis ins Detail ausbuchstabiert. Wenn sie sich im Physikalischen als Schwingung und im Organischen als Vererbung zeigt, macht sich die Wiederholung im Sozialen als Nachahmung bemerkbar: „Die Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus.“
Diese Idee mutet zunächst simpel an. Doch Tarde bekommt damit die suggestive Dynamik von Nachahmungspraktiken in den Blick: etwa die Sprache, die Gesetzgebung oder auch das Händeschütteln. Ganz abgesehen vom Inhalt dieser Phänomene entpuppt sich die Wiederholung als die Form sozialer Ereignisse, aus der sich nicht nur ein Ordnungs- und Strukturaufbau ableiten lässt, sondern auch noch dessen Fragilität: „Die Wiederholung gibt es also um der Variation willen.“ Dass sich all dies mit einer traumwandlerischen Sicherheit einstellt, weist darauf hin, dass die Nachahmungspraktiken zunächst gar keine bewusst handelnden Individuen voraussetzen. Obwohl Sigmund Freud später den Begriff der Nachahmung als missverständlich, weil zu sehr an eine bewusste Wiederholungshandlung gemahnend, ablehnt, nimmt Tarde schon die psychoanalytischen Motive des Wiederholungszwangs und der unbewussten Identifikation vorweg. Regelmäßigkeit kann sich weitgehend ohne das Wissen der Beteiligten einstellen; konsequent vermutet Tarde ihren Motor in „Überzeugung“ und „Begehren“.
Mit Tarde muss sich die Soziologie ins Lehrbuch schreiben lassen, dass das Heterogene und nicht das Homogene entscheidend ist. Dass sein zentrales Motiv der schlafwandlerischen Wiederholung in heutigen Debatten so viel Anklang findet, mag sich aber mehr als einer theoretischen Mode verdanken, die sich von einem überkommenen Strukturalismus abgrenzen will, ohne auf die Alternative einer Handlungstheorie zu verfallen, die das Soziale aus den Motiven von Akteuren ableitet. Aus der Perspektive Tardes muss ist gegen ein strukturalistisches Modell einzuwenden: Die schlafwandlerischen Wiederholungen im Verhalten der Menschen lassen sich nicht als konkrete Verwirklichung einer abstrakten, überzeitlichen und widerspruchsfreien Struktur deuten, welche ihnen gleichsam von oben ihre Regeln diktieren kann. Umgekehrt können die Wiederholungen aber nicht umstandslos aus dem Wissen, dem Bewusstsein oder den Interessen der einzelnen Subjekte erklärt werden.
Besonders eindrucksvoll sind die Überlegungen Tardes, wenn sie sich der Stadt, der Mode und dem demokratisierten Publikum zuwenden. Tarde fragt sich etwa, woher die Gepflogenheit des Händeschüttelns kommt. Sie erweist sich als das Ergebnis eines Wiederholungsstrahls, der zunächst von oben nach unten verläuft und die Massen die Höflichkeit der guten Gesellschaft kopieren lässt, nicht ohne jedoch eigensinnige, demokratische Effekte zu zeitigen. „Die höflichen Verhaltensweisen überwinden die Distanz besser als die Eisenbahn, und zwar nicht nur die unter den Beamten und Offizieren, sondern auch zwischen den Klassen, die sich mit der Zeit durch das viele Lüften des Hutes und Händeschütteln annähern. “
Fast ist es die Geburt der „demokratischen Gesellschaft“ aus dem wiederholten Händeschütteln, was Tarde hier beschreibt. Trotz der Zeitgebundenheit lesen sich die „Gesetze der Nachahmung“ an solchen Stellen wie eine vorweggenommene Analyse des global village – sie wird unter dem Eindruck zeitgenössischer massenmedialer Technologien und Formen um so plausibler. Dass über große Distanz wiederholt wird, ohne dass dahinter ein Weltgeist oder auch nur bewusste Einzelentscheidungen auszumachen sind, daran haben wir uns gewöhnen müssen.
Mit Gabriel Tarde könnte man sehen, dass die Bedeutung der allgegenwärtigen Massenmedien nicht darin liegt, der verblendeten Welt den Stempel des Immergleichen aufzuprägen, sondern dass sie als Durchlauferhitzer für Wiederholungspraktiken funktionieren, die global ähnliche Formate etablieren und eben dadurch Möglichkeiten zur Veränderung und Kreativität bereitstellen. In der Tat erweist sich dann letztlich Tardes Entwurf einer alternativen Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts gerade deshalb am Anfang des 21. als so aktuell, weil er Ideen für ein Unterfangen anbietet, das sich die Soziologie bisher allzu halbherzig zugemutet hat: nämlich die Beschreibung der Gesellschaft auf die Effektivität ihrer Massenmedien zu gründen. Wiederholungen und Differenzen ernst zu nehmen, das könnte hier tatsächlich einen Neuanfang ermöglichen. MARTIN STEMPFHUBER
GABRIEL TARDE: Die Gesetze der Nachahmung. Aus dem Französischen von Jadja Wolf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 400 Seiten, 14 Euro.
GABRIEL TARDE: Monadologie und Soziologie. Mit einem Vorwort von Bruno Latour. Aus dem Französischen von Michael Schillmeier und Juliane Sarnes. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 153 Seiten, 8,50 Euro.
BRUNO LATOUR, VINCENT LÉPINAY: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 120 Seiten, 14,90 Euro.
Es herrscht „Tardomanie“
– sie gilt dem Großvater der
poststrukturalischen Philosophie
Der französische Soziologie Gabriel Tarde (1843-1904) Foto: oh
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