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In 'Die Zweite Schuld' erstellt Fichte mit einer Mischung aus Tagebuchskizzen und Interviews ein Porträt des 1963 gerade gegründeten 'Literarischen Colloquiums Berlin', in dem arrivierte Schriftsteller mit jungen Autoren zum Werkstattgespräch zusammenkamen. Das LCB war weit mehr als ein erstes deutsches Literaturhaus. Hier traf sich die Crème de la Crème der internationalen Literaturszenen und rüttelte das selbstverliebte Wirtschaftswunder-Deutschland wach. Aber nicht die Institutsgeschichte steht für Fichte im Vordergrund, sondern die Menschen, die diese Institution mit Leben füllen. Durch…mehr

Produktbeschreibung
In 'Die Zweite Schuld' erstellt Fichte mit einer Mischung aus Tagebuchskizzen und Interviews ein Porträt des 1963 gerade gegründeten 'Literarischen Colloquiums Berlin', in dem arrivierte Schriftsteller mit jungen Autoren zum Werkstattgespräch zusammenkamen. Das LCB war weit mehr als ein erstes deutsches Literaturhaus. Hier traf sich die Crème de la Crème der internationalen Literaturszenen und rüttelte das selbstverliebte Wirtschaftswunder-Deutschland wach. Aber nicht die Institutsgeschichte steht für Fichte im Vordergrund, sondern die Menschen, die diese Institution mit Leben füllen. Durch seine Schilderungen der Machtverhältnisse, der menschlichen Verstrickungen und intimen Wünsche wirft Fichte einen Blick hinter die Fassade der Literaturgeschichte und bahnt sich Wege zu seiner eigenen Identität als Schriftsteller.
Autorenporträt
Hubert Fichte, 1935 in Perleberg geboren, wuchs in Hamburg auf, war Schauspieler, Schafhirte und Landwirtschaftslehrling. Seit 1963 lebte Fichte als freier Schriftsteller in Hamburg. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Romane 'Das Waisenhaus' (1965), 'Die Palette' (1968) und 'Versuch über die Pubertät' (1974), die ethnopoetischen Reiseberichte 'Xango' (1976) und 'Petersilie' (1980) sowie die mehrbändige 'Geschichte der Empfindlichkeit' (ab 1987). Hubert Fichte starb am 8. März 1986 in Hamburg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2006

Die Erfindung des Literaturbetriebs
Eine kleine Sensation: Hubert Fichtes „Die zweite Schuld” ist eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik
Dieses Buch ist auf jeden Fall anders. Angekündigt als letztes Glied der auf neunzehn Bände angelegten „Geschichte der Empfindlichkeit”, des Lebenswerks des 1986 gestorbenen Hubert Fichte, erwartet man ein angemessenes Schluss-Stück. Doch „Die zweite Schuld” setzt nur das fort, was zuvor bereits überdeutlich wurde: aus dem Nachlass herausgegebene Textkonvolute, die sich von der literarischen Formgebung immer mehr entfernen und oft bloße Materialsammlungen sind. Fichtes Bedeutung allerdings ist im Lauf der Zeit immer größer geworden. Er ist ein Avantgardist der sechziger Jahre, der Themen und Formen ins Blickfeld rückte, deren Aktualität erst heute sichtbar zu werden scheint; nicht von ungefähr gilt Fichte als Kultautor der avancierten Pop-Moderne. Gesellschaftliche Randgruppen, Homosexualität, ethnologische Feldstudien in dem, was man „Dritte Welt” nannte und heute illustre Farbtupfer der „Globalisierung” abgibt - Fichte arbeitete in den zunächst immer unsichtbaren Zonen des Kapitalismus, er begann dort zu sezieren, wo die Abgründe kenntlich wurden. Neben den herausragenden Werken, dem vielversprechenden Roman „Die Palette”, der abseits politischer Oberflächlichkeiten die Dynamik der sechziger Jahre auf unvergleichliche Weise ins Bild setzte, oder „Detlefs Imitationen. Grünspan” gibt es kaum abgeschlossene Texte. Umso wichtiger ist die Sichtung des Nachlasses, der Ahnungen dessen erkennbar macht, was Fichte vorschwebte.
„Die zweite Schuld” trägt den Untertitel „Glossen”, und das hat mit dem so bezeichneten Genre feuilletonistischer Brillanz überhaupt nichts zu tun: für Fichte ist es eine Notbezeichnung für etwas, was vielleicht später einmal vollendet wird, aber vorerst nur eine Richtung angeben kann. Es sind Eingriffe in das Tagesgeschehen, in die literarische Diskussion. „Die zweite Schuld” besteht fast ausschließlich aus nicht vollständig ausgeführten Tonbandprotokollen von Gesprächen, die Fichte geführt hat. Oft gibt die Abschrift nur noch Stichworte wieder. Die Tonbänder selbst sind zerstört oder damals gleich wieder überspielt worden, wie eine knappe Notiz mitteilt.
Es handelt sich aber keineswegs nur um journalistische Fingerübungen für das Radio, das Medium, das Fichte seinen Lebensunterhalt sicherte. Es sind erste Ansätze zu einer Selbstvergewisserung. Fichte interviewte fast zwanzig Jahre später die Personen, mit denen er 1963/64 am soeben gegründeten Literarischen Colloquium Berlin (LCB) eine erste Textwerkstatt absolvierte, ein Vorläufer heutiger Creative-Writing-Kurse. Und trotz der fragmentarischen Form, trotz aller Vorläufigkeiten gibt das unschätzbare Einblicke in den sich entwickelnden Literaturbetrieb.
Grass und die Telefonseelsorge
Was damals Anfang der sechziger Jahre am Berliner Wannsee passierte, war das Betreten von Neuland: junge, unbekannte Autoren widmeten sich, ohne Anbindung an den traditionellen deutschen Geniegedanken, unter Anleitung von erfahrenen Schriftstellern den handwerklichen Aspekten des Schreibens. Berühmt wurde die Aufgabe, die Günter Grass den nachwachsenden Prosadichtern stellte: Sie sollten sich der „Telefonseelsorge” widmen. Initiator war Walter Höllerer, der Gründer des LCB: ein unermüdlicher Anreger und Kommunikator, der kurz vorher in den USA durch die Begegnung mit den Beatliteraten um Allen Ginsberg und Gregory Corso sein Erweckungserlebnis hatte und danach in West-Berlin zu einem Jürgen Klinsmann des Literaturbetriebs wurde. Zu der Werkstatt „Prosaschreiben” im LCB, einem der ersten Projekte in dieser von der Ford-Foundation großzügig finanzierten Institution, wurden neben dem völlig unbekannten Hubert Fichte auch die völlig unbekannten Nicolas Born, Hermann-Peter Piwitt, Hans-Christoph Buch, Ror Wolf, Peter Bichsel und andere eingeladen: prägnante Autoren der nächsten Jahrzehnte, deren Karriere hier begann.
Fichtes Recherche zielt genau darauf: In welcher Atmosphäre, unter welchen Bedingungen fand die „Erfindung des Literaturbetriebs” damals statt? Seine Interviews, seine Fragestellungen zeigen, dass er keineswegs objektiv und distanziert an das Geschehen herantritt: Er ist Partei, er hat den Blick von unten, und der Titel „Die zweite Schuld” ist Programm. Es geht um die Schlüsselszene der LCB-Exerzitien für Fichte, sie kommt mehrfach vor. Günter Grass beurteilte als Schreibschulenleiter die Texte des Juden und Schwulen Joachim Neugröschel. Diese Texte waren nicht gut, räumt Fichte ein. Und Grass rechnete schonungslos mit ihnen ab. Wie er das allerdings tat, hatte für die Beteiligten einen unangenehmen Beigeschmack. Das erste Interview dieses Buches ist dasjenige mit Neugröschel, geführt 1978 in New York, wo Neugröschel als Übersetzer wohnte, und Fichte fragte ihn direkt: „Als der Grass Sie so verrissen hat, sagte der Buch: Das war ein Judenmord.” Neugröschel erwiderte aber bloß: „Hat er das gesagt?” Dieser zweite „Judenmord”, diese „zweite Schuld” der Deutschen, wird zum Leitmotiv der folgenden Interviews. Es ist bezeichnend, wie forciert Fichte Elfriede Gerstl, eine weitere Teilnehmerin jener Werkstatt „Prosaschreiben”, nach ihren frühen Erlebnissen als Pubertierende, als versteckte Jüdin in Wiener Dachkammern während des Zweiten Weltkriegs befragt, und wie sie stockend antwortet - auch auf bedrängende Fragen nach sexueller Bewusstwerdung.
Fichte fragt direkt, er fragt mit dem Hintergrund seiner eigenen Poetik, seiner eigenen Obsessionen, und es wird ein Generationskonflikt deutlich, wie man ihn bei denen, die Anfang der sechziger Jahre in den Literaturbetrieb hineinwuchsen, keineswegs vermuten würde: Alle Türen standen ihnen offen, ein Jahr später wurden einige von ihnen zum Treffen der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna eingeladen, sie waren durch die Teilnahme in der LCB-Werkstatt bereits Arrivierte, ohne dass sie das merkten. Aber sie lehnten Grass und andere Größen mit dem Impetus von Underdogs ab: Kein gutes Haar wird an John Steinbeck gelassen, damals so etwas wie Philip Roth und John Updike in einem, oder an Witold Gombrowicz, der ebenfalls einen Gastvortrag für die Teilnehmer der Schreibwerkstatt hielt. Selbst Uwe Johnson, kaum älter als die Protagonisten, aber schon berühmt, wird abgelehnt. Fichte befragt ebenfalls Piwitt, und zusätzlich gibt es in diesem Buch einige Text-Skizzen von ihm, die tagebuchartig jene Ereignisse der frühen sechziger Jahre festhalten und aus heutiger Sicht auch eine gewisse Klatschsucht befriedigen: die Bisexualität von Johannes Bobrowski oder das Auftreten des großen Schwulen Hans Werner Henze, mit den Augen des sich als klein empfindenden Schwulen Hubert Fichte gesehen.
Mit dem Furor der 68er
Die Hälfte des Buches aber - und das ist vom Herausgeber keineswegs kenntlich gemacht, es gibt weder ein Inhaltsverzeichnis noch kommentierende Anmerkungen, es wird einfach unbearbeiteter Text weitergegeben -, die Hälfte des Buches besteht aus einem mehrtägigen Interview mit Walter Höllerer, dem damaligen Literaturpapst. Fichte arbeitet sich förmlich an ihm ab. Höllerer gilt ihm und seinen Interviewpartnern als der herausragende Vertreter des Establishments, der Altvorderen; Höllerer hatte damals eine Funktion, die höchstens mit der späteren von Marcel Reich-Ranicki zu vergleichen ist. Er schien alle Fäden in der Hand zu halten. Fichtes Interview mit Höllerer, trotz der oft enigmatischen Verkürzungen und auf Schlagworte reduzierten Wiedergabe im vorliegenden Text, ist eine Sensation. Die Atmosphäre, die äußerst zeitverhafteten Turbulenzen der sechziger und siebziger Jahre werden auf ungewohnte Weise deutlich.
Fichte setzt Höllerer mit dem ganzen Furor der 68er zu: Er fragt nach seinem Aufwachsen im Nationalsozialismus, nach Arrangements des Durchkommens im Krieg, nach der sexuellen Entwicklung, nach der akademischen Karriere und den Verbiegungen, die diese mit sich bringt. Und das Erstaunliche ist: Höllerer, obwohl vehement in die Defensive gedrängt, schneidet im Laufe dieses langen Gesprächs zusehends besser ab als Fichte. Höllerer war kein Genießer der Macht, sie floss ihm aufgrund seines kommunikativen Talents eher zu. Und wie er - „redlich” ist ein merkwürdig passendes Wort dafür - auf Fichtes Fragen eingeht, eine kleine autobiografische Porträtstudie entwirft und nebenbei auch ein Profil der Generation, die in die junge Bundesrepublik hineinwuchs und sie prägte: das ist ungeheuer spannend. Äußerst instruktiv ist die Auseinandersetzung über Höllerers Gedicht „Der lag besonders mühelos am Rand”, ein Kriegsgedicht über den Fund einer Leiche, das damals in vielen Lesebüchern abgedruckt wurde. Fichte wirft ihm aufgrund der distanzierten Schilderung Zynismus vor, Menschenfeindlichkeit, Verdrängung von Diktatur und Schuld. Höllerer setzt sein ästhetisches Prinzip der formalen Distanz dagegen, der für ihn einzigen Möglichkeit, die konkrete Erfahrung in etwas Allgemeineres zu übersetzen, also in Sprachkunst. Allein diese Auseinandersetzung zwischen Fichte und Höllerer, im Jahre 1982 geführt, ersetzt ganze akademische Abhandlungen über Kunst und Moral.
Und es wird auch Höllerers spezifisches Problem deutlich: Durch seinen Enthusiasmus für die sich entwickelnde Mediengesellschaft, durch seine vielfältigen Aktivitäten der literarischen Vermittlung gerieten seine primärliterarischen Impulse immer mehr in den Hintergrund, ohne dass es ihm zunächst bewusst wurde. Dabei war Höllerer mit seinem Lyrikdebüt „Der andere Gast” 1952 in einem Atemzug mit den Debütanten Paul Celan und Ingeborg Bachmann genannt worden. So ist der Abschluss von Hubert Fichtes „Geschichte der Empfindlichkeit” ein außergewöhnliches Zeitdokument geworden, eine Quelle ersten Ranges. Durch die merkwürdig lässige und vorläufige Edition erkennt man erst auf den zweiten Blick, welcher Schatz in dieser „Zweiten Schuld” verborgen liegt.HELMUT BÖTTIGER
HUBERT FICHTE: Die zweite Schuld. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit, Band 19. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 339 S., 22,90 Euro.
Hubert Fichte zusammen mit Peter Rühmkorf. - 1964 im Literarischen Colloquium Berlin, Carmerstraße. - Und der Schriftsteller 1960 im ländlichen Montjustin mit Schaf.
Fotos: Leonore Mau (2); C.v.Alvensleben, alvensleben.com
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2006

Schreiben Sie mal 'ne Glosse
Die Schuld ist immer zweifellos: Nachgelassenes von Hubert Fichte

Das Kreuz mit der Erfahrung in der modernen wissenschaftlichen Welt ist die numerische Unzulänglichkeit jeder Empirie. Niemand ist "Sechs-Komma-so-und-so-viel-Milliarden". Der erste, der ein Gedicht mit "150 Millionen" betitelte, war der russische Revolutionsdichter Wladimir Majakowski. Damit glaubte er den Autorennamen geschrieben zu haben. Majakowski ist an der unaufgelösten Spannung zwischen dem subjektiven Faktor und der Gemeinschaftspraxis der frühen Sowjetunion zerbrochen. Das Individuum konnte nicht das gesellschaftliche Wesen werden, das die positiven Erlösungswissenschaften in Aussicht gestellt hatten. Die Wissenschaften und die Philosophie haben nur die Antworten der geoffenbarten Religionen widerlegt und durch das Periodensystem, die kopernikanische Welt ohne Himmel und das Atom ersetzt.

Die Fragen der Religionen haben die Wissenschaften unberührt gelassen. Dadurch sind die Menschen der Moderne in eine zweideutige Situation gebracht worden. Die Antworten der Wissenschaften haben ihre Grenzen; die Aussagen der Religionen sind unglaubhaft geworden. Für eine Literatur, für die Geschichte zuerst die Bewegung der Sprache ist, ist das eine komplizierte Konstellation, solange ihre Protagonisten die Wissenschaft nicht einfach ignorieren und trotzdem weiterhin an der sozialen Praxis der Sprache interessiert sind. Denn Religion war (oder ist) soziale Praxis im Ritual.

Es sind im deutschen Sprachraum vor allem zwei Autoren, nämlich Franz Kafka und Hubert Fichte, die in dem Spannungsfeld von subjektivem Ich und Außenwelt in der Alltagssprache jene Mischformen entdecken, die noch nicht Wissenschaft und nicht mehr Religion sind, aber ständig bedroht, von einer Seite kolonisiert zu werden. Daß sie beide jüdisch sind, ohne im Sinne ihrer Religion religiös zu sein, ist dabei kein Zufall.

Während aber Kafka vor allem in seinen Tiererzählungen aus dem Weltinnenraum der domestizierten Umwelt des modernen naturwissenschaftlichen Versuchs spricht - man kann zum Beispiel die Erzählung "Forschungen eines Hundes" als einen ruhigen, vernichtenden Kommentar eines sprechenden Tieres aus Pawlovs Lernlaboratorien lesen -, redet Fichte vom Weltaußenraum. "Aber ich wollte nicht nur weg. / Ich wollte auch wohin. / Ich wollte in die Welt. / Europa war mir kaum groß genug." So beschreibt Fichte in dem 1987 postum erschienenen Roman "Hotel Garni" seine Lage in der Bundesrepublik 1954.

"Hotel Garni" ist der erste Band des von Fichte auf neunzehn Bände angelegten, 1973 begonnenen Zyklus "Die Geschichte der Empfindlichkeit". Die teils Fragment gebliebenen Bücher der Empfindlichkeit sind jetzt mit dem gerade erschienenen Band "Die zweite Schuld" zum Abschluß gekommen. Daß "Die zweite Schuld" erst zwanzig Jahre, nachdem Fichte 1986 im Alter von fünfzig Jahren gestorben war, erscheinen konnte, hing mit einer Sperrfrist zusammen, die der Autor selbst festgelegt hatte.

Die vorliegenden siebzehn Bände bringen Fichtes verschiedene Formen der sprachlichen Weltverarbeitung zu einem gültigen Ausdruck. Polemiken, Kritiken, Glossen, Interviews gehören dabei genauso zu seinen Praktiken wie die mild-leichte Erzählung in dem Roman "Eine glückliche Liebe". "Die zweite Schuld" ist aber nicht nur der Abschluß eines literarischen Projekts, das noch in seinen poetischsten Feinstverästelungen dem Materialismus der Welt verpflichtet bleibt; sie markiert auf eine manchmal beklemmende Art den Grund für Fichtes Flucht in die Welt. Das ist wörtlich zu nehmen. Fichte hat 69 oft längere Reisen unter anderem in die Karibik, nach Brasilien, Afrika und New York unternommen. Begleitet wird er auf den Fahrten von der Fotografin Leonore Mau. Mau ist 1961, als sie sich endgültig für Fichte entscheidet und ihre beiden Kinder und ihren Mann deswegen verläßt, neunzehn Jahre älter als der bekennende Homosexuelle Fichte. Das Paar - das in der "Geschichte der Empfindlichkeit" zu Irma (Leonore) und Jäcki (Hubert) wird, ohne daß Vorbild und Abbild ineinander aufgehen - bildet sozusagen das Substrat der Empfindlichkeit. Darauf wächst sich das Material der Welt zum Text der Empfindlichkeit aus. Denn die Welt kommt über die Haut in den Körper, nicht über den Geist. Fichte geht einmal so weit, zu sagen, es sei nicht das Denken gewesen, das ihn in die Welt trieb, sondern allein sein homosexuelles Interesse an den Körpern. Und seine Geschichten sind voll von den Ernten seiner homosexuellen Spaziergänge, die er auch nach der Verbindung mit Mau nicht aufgibt. Seine Berichte aus den Klappen und Sexkinos der Welt sind allerdings nie feucht. Sie haben nichts von der Blut-und-Hoden-Romantik der einschlägigen Literatur. "Es gibt ein Verhaftetsein der Avantgarde an Blut und Boden", schreibt Fichte und meint es kritisch.

An derselben Stelle in dem New-York-Band "Die schwarze Stadt" bezeichnet Fichte den homosexuellen und von der Schönheit der nationalsozialistischen Soldaten faszinierten Schriftsteller Jean Genet als "auschwitztrunken", überführt er Susan Sontag der Leni-Riefenstahl-Liebe und kritisiert den Komponisten Hans Werner Henze für seine Kuba-Begeisterung. Henze, schreibt Fichte, fühle sich in Kuba "trotz der Zwangslager für Homosexuelle" wohl. Das "Kontingenzgeschöpf" (Rainald Goetz) Hubert Fichte weiß, daß staatliche Formationen einen wie ihn - homosexuell, unehelich geboren und nach der nationalsozialistischen Theorie Halbjude - jederzeit abholen können. Deshalb schockiert ihn auch die Berliner Mauer nicht, als er in den Ostteil der Stadt fährt, um den Schriftsteller Johannes Bobrowski zu besuchen.

Von Staaten erwartet Fichte nichts anderes, egal, ob sie sich sozialistisch nennen oder von Sozialdemokraten geführt werden. "Ich kann die Schwulen nicht ausstehen", kommentiert der "Biedermann Heinemann" in der "Bild"-Zeitung die Abschaffung des Paragraphen 175 durch Willy Brandt. In Fichtes Worten ist Brandt "ein riesenhafter unbeweglicher stummer Mann, der sich durch die Intrigen schiebt". Die Politik in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren kommt nur über die Zeitungen, die Fichte liest oder in denen er schreibt, in "Die zweite Schuld". Die wie Günter Grass in die Politik eingreifenden Kollegen sollen Fichte mit ihren "Trivialmythen" in Ruhe lassen. Ein Schriftsteller kann in Sachen Politik nicht mitreden, weil man "an die Informationen gar nicht rankommen" könne, entgegnet Fichte dem kritischen Kollegen Hermann Peter Piwitt. Piwitt war 1963 wie Fichte Teilnehmer eines mehrmonatigen Schreibkurses für junge Schriftsteller am Literarischen Colloquium in West-Berlin unter der Anleitung von Walter Höllerer, Günter Grass, Peter Weiss und anderen.

Die literarische Szene in West-Berlin und die Gruppe 47 in den Jahren von 1963 bis 1965 bilden den Hintergrund der "Zweiten Schuld". In unmittelbarer Nähe des Horror-Orts der Wannsee-Konferenz, auf der die Ausrottung der europäischen Juden beschlossen wurde, und in zeitlicher Nähe der Auschwitz-Prozesse bezieht sich der Titel "Die zweite Schuld" natürlich auch auf den Nationalsozialismus. Darin schwingt aber noch etwas anderes mit, das für Fichte programmatisch ist. Der Gegenbegriff zur zweiten Schuld ist die zweite Naivität - eine in der Münchner Boheme um Erich Mühsam und Roda Roda nach dem Ersten Weltkrieg umgehende Forderung an den Schreiber. Man müsse sich eine zweite Naivität aufbauen, um wieder unmittelbar zum sprachlichen Ausdruck zurückzufinden, hieß es. Fichtes Titel sagt dazu: Nein, das geht nicht. Wenn man einmal weiß, wie die Bohnen in die Schoten kommen, kann man dahinter nicht zurückgehen.

"Die zweite Schuld" ist voll von Invektiven gegen "philosophisch, expressionistisch, dadaistisch, konstruktivistisch hochgestylten Klatsch". Der Gewalt des Expressionismus fühlt sich Fichte nicht gewachsen. Er geht von ein paar Essentialia aus, die er weder neutralisieren noch einklagen will und kann. Sie sind da und heißen: Es gibt ein Gewissen, und deshalb kann man Schuld nicht diskutieren, nur anerkennen. Genauso weiß er, daß das Ich kein Denkgegenstand ist und in seiner Subjektivität keinen Zugang zum Absoluten hat. "Ich bin für Ichs", schreibt er an den Anfang der "Zweiten Schuld". Das hat aber weniger mit den Aufspaltungen der Identität in verschiedene Interessen- und Berufsmuster zu tun als mit einer Fundamentalkritik an einer aufgeweichten Auffassung der christlichen Religion.

Deshalb geht Fichte hinter die christliche Erfahrung zurück und findet sein Programm bei Herodot formuliert. "Magie, Religion erscheinen bei ihm als Gegenstand der Forschung", schreibt er über Herodot und meint sich selbst. Daher sucht er die Rituale der synkretistischen Religionen und ihrer Kulte zu verstehen und reist nach Afrika, in die Favelas Südamerikas und in die haitianischen Gemeinden New Yorks. Das Schwanken zwischen der Logik des magischen Weltbildes und der Logik des Weltbildes der Naturwissenschaften hält Fichtes Schreiben in einer permanenten Irritierbarkeit. Alles ist immer im Werden. Und dieses Werden ist griechischer Natur; so, wie das Tier-Werden in Kafkas Erzählungen mehr mit dem materialistischen aristotelischen Werden-Begriff zu tun hat als mit den Mythologien, die man dort anzutreffen sucht.

Jüdisch ist im Griechischen an Fichte wie Kafka "der anarchische Impetus gegenweltlicher Gottesvergewisserung in einer gottverlassenen Welt", wie Aleida Assmann einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt hat. Das ist, wenn man es mit Sprache zu tun hat, anstrengend, weil "Formen entstehen, wie sie die Gezeiten im Watt hervorrufen, für ein paar Stunden. Und die Tide nimmt sie wieder zurück." (Fichte) Vielleicht kann man sich deshalb weder Kafka noch Fichte alt und weise vorstellen. Der Schönheit schadet das nicht.

CORD RIECHELMANN

Hubert Fichte: "Die zweite Schuld". Glossen. Hrsg. von Roland Kay. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 339 S., geb., 22,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Helmut Böttiger sagt "wow!" Erst scheint es gar nicht so sicher, ob ihm dieser letzte Band von Hubert Fichtes postum veröffentlichter mächtiger "Geschichte der Empfindlichkeit" überhaupt gefallen hat. Schließlich erkennt er in in der "zweiten Schuld" zunächst eine "bloße Materialsammlung", herausgeberisch ungepflegt sozusagen, und die im Untertitel angekündigten Glossen sucht Böttiger auch vergebens. Bei Fichte ist eben alles anders. Doch nicht schlechter. Böttiger wühlt sich durch die fragmentarischen Tonbandprotokolle und Interviews und entdeckt schließlich nicht nur "Ansätze zu einer Selbstvergewisserung", sondern auch "unschätzbare Einblicke" in die Frühzeit des deutschen Literaturzirkus. Direkt und subjektiv geht das vonstatten und enthüllt - Böttiger traut seinen Augen kaum - einen frühen Generationenkonflikt zwischen Fichte und Grass. Das große Interview mit Walter Höllerer ist für Böttiger nichts weniger als "eine Sensation", ein Vademekum über Kunst und Moral. Das Buch als Ganzes erscheint ihm dann auch als "außergewöhnliches" historisches Dokument und erstrangige Quelle.

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