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Am 10. Juli 1941 fiel die jüdische Bevölkerung der polnischen Kleinstadt Jedwabne einem Pogrom zum Opfer. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden in einer Scheune verbrannt. Nur wenige überlebten. Es war ein Verbrechen von unermesslicher Grausamkeit. Aber nur wenige Menschen wurden dafür zur Verantwortung gezogen. Was an diesem Tag tatsächlich geschah - und durch wessen Hand -, sollte mehr als sechzig Jahre lang im Dunkeln bleiben.
Erst das Buch Nachbarn (2000) des Historikers Jan T. Gross legte dar, dass es Polen waren, die in Jedwabne, geschützt von den deutschen Besatzern, ihre
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Produktbeschreibung
Am 10. Juli 1941 fiel die jüdische Bevölkerung der polnischen Kleinstadt Jedwabne einem Pogrom zum Opfer. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden in einer Scheune verbrannt. Nur wenige überlebten. Es war ein Verbrechen von unermesslicher Grausamkeit. Aber nur wenige Menschen wurden dafür zur Verantwortung gezogen. Was an diesem Tag tatsächlich geschah - und durch wessen Hand -, sollte mehr als sechzig Jahre lang im Dunkeln bleiben.

Erst das Buch Nachbarn (2000) des Historikers Jan T. Gross legte dar, dass es Polen waren, die in Jedwabne, geschützt von den deutschen Besatzern, ihre wehrlosen jüdischen Nachbarn umgebracht hatten - ein Schock für die polnische Gesellschaft und Auslöser einer erbitterten Debatte um das Tabu eigener Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung des Landes.

Die Journalistin Anna Bikont macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sie reist immer wieder nach Jedwabne. Sie spricht mit Überlebenden und mit Tätern, mit Dorfbewohnern, Historikern und Politikern. Sie durchforstet Prozessakten und Zeitungsarchive. So unerbittlich wie behutsam rekonstruiert sie nicht nur die Gewalttat und die Umstände, die sie ermöglicht haben - sie zeichnet zugleich das Porträt einer Stadt, die sich der Erinnerung bis heute verweigert.
Autorenporträt
Anna Bikont, geboren 1954 in Warschau, ist Journalistin und arbeitet für die Gazeta Wyborcza, eine der wichtigsten Tageszeitungen in Polen, deren Mitbegründerin sie 1989 war. Für ihre Auseinandersetzung mit den Verbrechen in Jedwabne und Radzi¿ow wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2011 erhielt sie den Europäischen Buchpreis anlässlich der französischen Ausgabe von Wir aus Jedwabne. 2017 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg und hatte die Siegfried-Unseld-Gastprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin inne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2020

Skrupelloser Mord an den Nachbarn
Akribische Aufklärung: Anna Bikont dokumentiert drei polnische Judenpogrome des Jahres 1941

Die Warschauer Journalistin Anna Bikont hat sich an ein schwieriges Thema mit gründlichen Recherchen herangewagt. Ihr Buch, im polnischen Original bereits 2004 erschienen, war eine Reaktion auf den Bericht "Nachbarn", den vier Jahre zuvor der Historiker Jan T. Gross vorgelegt hatte. Er enthüllt darin die Wahrheit über den Judenmord im nordostpolnischen Jedwabne, die Tatsache also, dass das Massaker, das dort am 10. Juli 1941 stattfand und bei dem nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung ums Leben kam, nicht von den Deutschen, sondern von den Polen verübt wurde. Etwa die Hälfte der männlichen Einwohner der Kleinstadt, so Gross, habe sich aktiv an dem Verbrechen beteiligt, jüdische Nachbarn erstochen, erschlagen oder in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt.

Die Zahl der Opfer betrug nach der Schätzung von Gross 1600 Personen. Sie wurde zwar später in einer Schätzung des Instituts für nationales Gedenken nach unten auf zwischen 300 und 400 korrigiert, doch an der Wirkung der Enthüllungen änderte das nicht viel. Es gab zwar manche, die Gross' Befunde anzweifelten, doch das sorgte nur zusätzlich dafür, dass sein Buch eine der heftigsten polnischen Debatten der Nachkriegszeit auslöste.

Anna Bikont zweifelte nicht, sie wollte es aber ganz genau wissen. Gleich nach dem Erscheinen von "Nachbarn" begann sie mit ihren eigenen akribischen Recherchen. Es gibt wohl nicht einen Ort, eine involvierte Person, ein Archivdokument, einen Zeitungsartikel, die sie nicht unter die Lupe genommen hätte. Sie reiste mehrmals nach Jedwabne und in die benachbarten Städtchen Wasosz und Radzilów, wo ähnliche Pogrome stattfanden, aber auch an andere Orte in Polen sowie nach Israel, Costa Rica und in die Vereinigten Staaten, um mit Tätern, Augenzeugen, Überlebenden und den wenigen Polen, die ihnen halfen, zu sprechen. Dazu interviewte sie etliche Historiker, Politiker und Juristen. Das Bild, das sie auf Basis dieser Gespräche zeichnet, ist doppelt erschreckend. Zum einen wegen der Skrupellosigkeit der Täter, die keine Hemmungen hatten, ihre Nachbarn zu jagen, zu quälen und zu morden, deren Häuser zu plündern oder sich anzueignen. Zum anderen wegen der Haltung der heutigen Bewohner von Jedwabne, die in ihrer Mehrheit die Ereignisse von damals (soweit sie überhaupt bereit waren, über sie zu sprechen) beharrlich bestritten oder verdrehten und die Schuld weiterhin den Deutschen oder den Juden selbst gaben.

Um Letzteres verständlich zu machen, geht Bikont weiter in die Vergangenheit zurück. Sie thematisiert den spezifischen polnischen Antisemitismus. Seit eh und je von der katholischen Kirche geschürt, hatte er in Jedwabne auch noch eine aktuelle politische "Rechtfertigung" zur Hand: Soeben war die sowjetische Herrschaft über die Region zu Ende gegangen, und den Juden wurde vorgeworfen, mit dem NKWD kollaboriert und dadurch zu den massenhaften Deportationen von Polen nach Sibirien beigetragen zu haben. Die Autorin räumt auch mit der Behauptung auf, vor Gross' Buch seien die Fakten über Jedwabne nicht bekannt gewesen, indem sie an den Prozess erinnert, der den Tätern im Mai 1949 vor dem Kreisgericht in Lomza gemacht wurde. Es gab gut zwanzig Angeklagte, von denen zwölf schuldig gesprochen wurden - was aber nichts an der Tatsache änderte, dass der Mord in den folgenden Jahren weiterhin den Deutschen zugeschrieben wurde.

All das berichtet Anna Bikont, indem sie unzählige individuelle Geschichten erzählt. Jene, die ihr besonders wichtig erscheinen, erhalten eigene Kapitel, die anderen sind eingebettet in "Aufzeichnungen", wie sie die Buchpartien nennt, die eine Mischung aus Tagebuch und Arbeitsbericht sind und weit über die Hälfte des Umfangs ausmachen. Diese Partien stellen allerdings auch das erste der beiden Probleme dar, die der Leser mit dem Buch - das zwar im Untertitel eine viel weitere Perspektive verspricht, sich tatsächlich aber auf die drei Pogrome konzentriert - haben könnte. Denn will man die vielen Einzelschicksale, die auf die "Aufzeichnungen" verteilt sind und deshalb oft in Fortsetzungen daherkommen, genau verfolgen, muss man dabei viel Überflüssiges in Kauf nehmen.

Das zweite Problem ergibt sich aus der langen Zeitspanne, die zwischen der Originalausgabe und der deutschen Übersetzung liegt. Es ist in Polen wieder notwendig geworden, sich mit diesen Pogromen auseinanderzusetzen. Das liegt an den antisemitischen und fremdenfeindlichen Tönen, die bestimmte Gruppen pflegen, und den beharrlichen Versuchen der regierenden PiS-Partei, die polnische Geschichte umzuschreiben. Aber auch - was hierzulande nicht bekannt ist - an neuen Publikationen, die zeigen, dass die Ereignisse, die Gross und Bikont schildern, nur die Spitze des Eisbergs waren. So hat beispielsweise der Publizist Miroslaw Tryczyk in seinem 2015 erschienenen Buch "Städte des Todes" nachgewiesen, dass es in der gesamten Region um Jedwabne insgesamt "128 Ortschaften" gegeben habe, "in denen die Polen, allein oder unter Mitwirkung der Deutschen, Judenpogrome verübt haben". Wäre es also, bei allem Respekt für Anna Bikonts Arbeit, nicht sinnvoller gewesen, das deutsche Publikum an diesen neuen Erkenntnissen teilhaben zu lassen, statt ihm eine sechzehn Jahre alte Vertiefung weitgehend bekannter Fakten zu präsentieren?

MARTA KIJOWSKA.

Anna Bikont: "Wir aus Jedwabne". Polen und Juden während der Shoah.

Aus dem Polnischen von Sven Sellmer. Suhrkamp/Jüdischer Verlag, Berlin 2020. 699 S., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensentin Judith Leister stellt fest, dass Anna Bikonts von Jan Tomasz Gross' Buch angestoßene Untersuchung über die Ereignisse in Jedwabne in Polen bereits 2004 erschien. Seitdem hat die die Wahrheitsfindung in Polen nicht eben Fortschritte gemacht. Das Buch bietet ihr neben einer Rekonstruktion des Pogroms anhand von Archivmaterial und Zeitzeugenaussagen einen, wie sie findet, gelungenen Mix aus der Historie Ostpolens und subjektiven Ansichten. Tätermotive wie Judenhass und Habgier kommen dabei ebenso ans Licht wie die Angst hinter dem bis heute andauernden Schweigen der Täter, so Leister.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2020

Verdrängtes Verbrechen
Anna Bikonts beklemmende Recherche über das Pogrom von Jedwabne
Jedwabne ist eine der grellen Chiffren aus dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute verbitterte Debatten hervorrufen. In dem ostpolnischen Städtchen hatte am 10. Juli 1941, wenige Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, eine Gruppe Einheimischer die meisten ihrer jüdischen Nachbarn in eine Scheune getrieben und diese angezündet. Zuvor hatte ein SS-Kommando den Tätern Beute und Straffreiheit versprochen. Vor genau zwei Jahrzehnten hatte das Buch „Nachbarn“ des aus Warschau stammenden amerikanischen Politologen Jan Tomasz Gross über diesen verhängnisvollen 10. Juli das polnische Selbstbild vom unschuldigen Opfer der deutschen Besatzung erschüttert: Polen waren auch Täter beim Holocaust.
Ein Teil der Publizisten fordert seitdem die schonungslose Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels; andere aber wehren sich heftig dagegen, dass die polnische Nation, deren Elite damals selbst von den Deutschen gnadenlos verfolgt wurde, auf eine Stufe mit dem NS-Regime gestellt werde, für das der Massenmord an den Juden Staatspolitik war.
Der Jüdische Verlag im Hause Suhrkamp hat nun – 16 Jahre nach der Originalfassung – in deutscher Übersetzung die Recherchen der Warschauer Journalistin Anna Bikont über die Vertuschung dieses Massenmordes herausgebracht. Bereits vor zwei Jahrzehnten hatte sie in mehreren Reportagen für die linksliberale Gazeta Wyborcza ein schockierendes Bild von dem tiefverwurzelten Antisemitismus in der Landbevölkerung Ostpolens gezeichnet, der den Hintergrund für den Pogrom von Jedwabne bildete – und sich somit bei den Nationalkatholiken verhasst gemacht. Denn gnadenlos zitiert die Autorin aus Kirchenblättern der Vorkriegszeit, die die Juden als „Christusmörder“ und unverschämte Wucherer brandmarkten. Es waren nicht nur Dorfpfarrer, die die Gläubigen warnten, in von Juden geführten Geschäften zu kaufen, sondern sogar der Primas der katholischen Kirche, Kardinal August Hlond. Ein Teil des polnischen Episkopats betreibt seit Jahren die Seligsprechung Hlonds, ist aber beim Landsmann im Vatikan, Johannes Paul II., abgeblitzt.
Geschickt verknüpft Anna Bikont die Berichte von Augenzeugen des Massenmordes mit den Aussagen von Einwohnern der Region zwei Generationen später. Bewegend schildert sie etwa den Lebensweg der Jüdin Rachela Finkelsztejn: Ein junger Mann aus der Nachbarschaft überredet sie, sich taufen zu lassen und ihn zu heiraten, um vor Pogromen sicher zu sein. Er sagt im Rückblick lakonisch, die Liebe sei später gekommen. Sie aber wollte auch 60 Jahre später nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Jedwabne war keineswegs der einzige Ort in der Region, in dem katholische Polen ihre jüdischen Nachbarn unter den Augen der deutschen Besatzer ermordeten. Allerdings spielt das SS-Kommando in der Darstellung der Autorin nur eine marginale Rolle, obwohl das zweibändige Weißbuch, das das Institut für das nationale Gedenken (IPN) in Warschau herausgegeben hat, diese genau beleuchtet. Denn Jedwabne war kein polnisches, sondern ein deutsch-polnisches Verbrechen, moralisch wie strafrechtlich wird Anstiftung zu einem Mord genau so bewertet wie die Tat selbst.
Bedauerlicherweise hat der Verlag auf eine Einführung in das Thema für deutsche Leser verzichtet. Denn vor zwei Jahrzehnten gab es auch eine deutsche Jedwabne-Kontroverse, die tiefe Gräben unter den Polenexperten aufgerissen hat. In der Bundesrepublik waren Gross‘ Buch und Anna Bikonts Reportagen damals zunächst uneingeschränkt begrüßt worden. Links und liberal eingestellte Autoren freuten sich, dass die Polen nun gezwungen würden, sich mit ihrem traditionellen Antisemitismus auseinanderzusetzen. In Publikationen des rechten Spektrums, darunter des Bundes der Vertriebenen, klang die Befriedigung darüber an, dass nun endlich auch polnische Verbrechen in den Fokus rückten. Die deutsche Kontroverse brach aus, nachdem die von Gross übersehenen Berichte über das SS-Kommando bekannt geworden waren: Wer nun auf die Mitschuld der Deutschen hinwies, sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Aufarbeitung des polnischen Antisemitismus zu sabotieren. Allerdings sparten die meisten deutschen Berichterstatter die Rolle des SS-Kommandos aus. Dem nationalpatriotischen Lager an der Weichsel galt dies als weiterer Beleg für die These, dass in der Bundesrepublik die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu Lasten der Polen umgeschrieben wird. Diese Sichtweise dominiert den heutigen Diskurs in Polen.
Anna Bikont schreibt in ihrem Nachwort für die deutsche Ausgabe, dass der Antisemitismus unter ihren Landsleuten nach wie vor virulent sei und sogar den „Mainstream“ erreicht habe. Doch liegen die Dinge komplizierter. Denn die Geschichtspolitik des mächtigen Mannes an der Weichsel, Jarosław Kaczyński, zielt auf die Konstruktion einer katholisch-jüdischen Opfergemeinschaft im besetzen Polen ab, was ihm das linksliberale Lager allerdings als eine Geschichtsklitterung anlastet. Immerhin tritt Kaczyński energisch für die Pflege des jüdischen Kulturerbes und für gute Beziehungen zu Israel ein – und widerlegt die gerade in der Bundesrepublik populäre These vom ewigen Antisemitismus der polnischen Rechten. Doch abgesehen von der fehlenden Einordnung in die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte, die Sache des Verlags gewesen wäre, hat Anna Bikont mit dem fesselnd geschriebenen, beklemmend zu lesenden Buch einen wichtigen Beitrag zur Universalgeschichte des Antisemitismus geleistet, über Hass und Verblendung, aber auch über den Mut einzelner Gerechter.
THOMAS URBAN
Die Mörder waren Polen,
doch die Rolle der SS-Einheit
vor Ort war mitentscheidend
Anna Bikont:
Wir aus Jedwabne – Polen und Juden während der Shoah. Aus dem Polnischen von Sven Sellmer. Suhrkamp-
Verlag, Berlin 2020.
699 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Ein außergewöhnliches Buch ...« Ernst Reuß Märkische Allgemeine Zeitung 20200921