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Der italienisch-österreichisch-jüdische Philosoph, Dichter und Maler Carlo Michelstaedter (1887-1910) ist eine wenig bekannte Figur der europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, unter Eingeweihten gilt sein verrätseltes Werk als Geheimtipp. Seine philosophische Dissertation erschien nach seinem Freitod mit 23 Jahren unter dem Titel Überzeugung und Rhetorik. Viele Interpreten sehen Michelstaedter als Vorläufer des Existenzialismus, geprägt von den geistig-kulturellen Spannungen seiner Zeit. Bereits in den Dreißigerjahren stieß man auf frappierende Parallelen zwischen Michelstaedters…mehr

Produktbeschreibung
Der italienisch-österreichisch-jüdische Philosoph, Dichter und Maler Carlo Michelstaedter (1887-1910) ist eine wenig bekannte Figur der europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, unter Eingeweihten gilt sein verrätseltes Werk als Geheimtipp. Seine philosophische Dissertation erschien nach seinem Freitod mit 23 Jahren unter dem Titel Überzeugung und Rhetorik. Viele Interpreten sehen Michelstaedter als Vorläufer des Existenzialismus, geprägt von den geistig-kulturellen Spannungen seiner Zeit. Bereits in den Dreißigerjahren stieß man auf frappierende Parallelen zwischen Michelstaedters Dissertation und Martin Heideggers 1927 erschienenem Welterfolg Sein und Zeit. Das vorliegende Buch geht diesen Spuren erstmals umfassend nach und zeichnet das Bild einer geistigen Verwandtschaft, die ein völlig neues Licht auf Heideggers Hauptwerk wirft. Dabei stellt sich nicht zuletzt auch die Frage: Wie viel Michelstaedter steckt in Heidegger, wie viel Überzeugung und Rhetorik in Sein undZeit?
Autorenporträt
Vasek, Thomas§Thomas Vasek, 1968 in Wien geboren, ist Gründungschefredakteur der Philosophiezeitschrift Hohe Luft. Er arbeitete unter anderem als Investigativjournalist beim österreichischen Nachrichtenmagazin profil, danach war er Chefredakteur von MIT Technology Review sowie von P. M. Magazin. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschienen von ihm »Zeit leben« (Gräfe und Unzer) und »Philosophie! Die 101 wichtigsten Fragen« (Theiss). Er lebt in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2020

Begriffe in Bewegung
Thomas Vasek hat Heidegger in Verdacht

Der italienische Lyriker, Philosoph und Maler Carlo Michelstaedter ist im deutschen Sprachraum wenig bekannt. Daran haben die Übersetzung seiner Dissertation "La Persuasione e la Rettorica" und die Michelstaedter-Romane von Claudio Magris ("Un altro mare", 1991) und Egyd Gstättner ("Der Mensch kann nicht fliegen - Der letzte Tag des Carlo Michelstaedter", 2008) ebenso wenig geändert wie ein 2014 herausgegebener Sammelband. Michelstaedter, geboren 1887 in Görz/Gorizia, damals noch in Österreich-Ungarn, studierte zuerst Mathematik in Wien, danach Philosophie und Literatur in Florenz. Im Oktober 1910 erschoss er sich in seinem Elternhaus, einen Tag nach Abschluss seiner Dissertation. Diese Eckdaten erinnern ein wenig an Otto Weininger, der sich im gleichen Alter einige Monate nach der Publikation von "Geschlecht und Charakter", seiner erweiterten Doktorarbeit, im Jahr 1903 erschoss.

Parallelen zwischen Weininger und Michelstaedter wurden bereits früh gezogen. Darauf verweist auch die Studie zu Michelstaedter, die Thomas Vasek, Journalist, Autor und Herausgeber der Philosophie-Zeitschrift "Hohe Luft", nun vorgelegt hat. Vasek folgt allerdings einer weit spektakuläreren Spur. Er geht aus von seiner überraschenden Entdeckung eines Typoskripts im Nachlass der Pianistin Argia Cassini im Michelstaedter-Archiv von Gorizia, nämlich eine bereits früh angefertigte deutsche Übersetzung des ersten Teils von "Überzeugung und Rhetorik"; und er sammelt Indizien für die These, dass Martin Heidegger diese Übersetzung womöglich gekannt und zentrale Thesen der Dissertation in "Sein und Zeit" verwendet hat. Dass bis heute allerdings jeder historische Beweis dafür fehlt, dass Heidegger das Typoskript der Übersetzung oder die 1913 postum publizierte Dissertation tatsächlich gelesen hat, konzediert Vasek in seiner Einleitung.

Heidegger als Plagiator? Eine solche Schlussfolgerung vermeidet Vasek. Aber er will auch nicht bloß vom "Zeitgeist", von einem allgemeinen Klima des Nihilismus oder der Kritik an der Moderne sprechen. Daher verfolgt er zwei Strategien: einerseits die einer sorgfältigen historischen Kontextualisierung, andererseits die eines "forensischen Textvergleichs", also der akribischen Suche nach Analogien zwischen beiden Werken.

Vasek will keine eindeutigen Antworten geben, sondern Fragen von "geistiger Verwandtschaft und philosophischer Originalität" diskutieren. Die Affinität zwischen Michelstaedter und Heidegger erscheint ihm als ein "philosophisches Rätsel", das vielleicht sogar mehrere Lösungen erlaubt. Wer hat denn seit 1913 - und mit Verbindungen und Kontakten zur deutschen Philosophie - Michelstaedters Werk gelesen? Vasek kommentiert etwa die Schriften des Wiener Philosophen Oskar Ewald, der 1924 in Gorizia einen Vortrag über Michelstaedter hielt und diesen als Genie charakterisierte; und Ewald wiederum unterhielt Beziehungen auch zu Edmund Husserl. Ein ganz anderer Leser Michelstaedters war der protofaschistische Philosoph Julius Evola, der in seiner Autobiographie sogar bekannte, er habe wichtige Ideen von Michelstaedter übernommen; dass Heidegger einige Werke Evolas kannte, ist immerhin verbürgt.

Aufschlussreich sind die Textvergleiche. Im Anhang zu seinem Buch hat Vasek die Korrespondenzen zwischen Begriffen und Denkfiguren resümiert. So entspreche "persuasione" der "Entschlossenheit", "rettorica" dem "Man", die "cura" der "Sorge", "l'angoscia" der "Angst", die "Todesfurcht" ("la paura del morte") dem "Sein zum Tode", der "Selbstbesitz" ("possesso di sé stesso") dem Begriff der "Eigentlichkeit". Gemeinsame Denkfiguren beziehen sich auf die Differenzen zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Leben, auf den Konflikt zwischen dem "Verfallen" an das "Man" und dem "Selbstbesitz", auf "Geworfenheit", Angst und die Antizipation des Todes, Heideggers "Vorlaufen in den Tod".

Nicht in allen Punkten sind die Übereinstimmungen gleichermaßen evident; die Indizienkette ist nicht so lückenlos, dass sie ein klares Urteil erzwingt. Dennoch ist Vasek eine Darstellung gelungen, die zumindest als Einführung in Carlo Michelstaedters Denken - und daneben sogar in "Sein und Zeit" - zu überzeugen vermag.

THOMAS MACHO.

Thomas Vasek: "Schein und Zeit".

Martin Heidegger und Carlo Michelstaedter. Auf den Spuren einer Enteignung.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 320 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2020

Zivilisationsmüde
Gegenwartskritik
Thomas Vašek über Heidegger
und Carlo Michelstaedter
Die Bitte um genaue und vorurteilslose Lektüre setzt Thomas Vašek, Herausgeber der Zeitschrift „Hohe Luft“, nicht ohne Grund an den Anfang seines Buches über Martin Heidegger und seinen vermeintlichen Ideenlieferanten, den italienisch-jüdischen Philosophen und Künstler Carlo Michelstaedter. Seitdem 2014 der erste Band von Notaten Heideggers in den sogenannten „Schwarzen Heften“ publiziert wurde, steht jede Veröffentlichung über den Philosophen vor der Frage: „Wie hältst Du es mit seinem Antisemitismus“? Vašek selbst hatte an der Debatte regen Anteil genommen und dabei einen berühmten Satz von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1953 korrigiert. Es sei nicht länger „mit Heidegger gegen Heidegger“ zu denken, sondern von nun an gänzlich ohne ihn.
Aber so ganz traute Vašek seiner eigenen Auffassung wohl doch nicht. Nachdem er in der FAZ Heidegger Lektüre des faschistischen Esoterikers Julius Evola (1898-1974) belegen konnte, glaubte er eine Spur zu haben, welche die Wiederlektüre des Verstoßenen lohnend erscheinen ließ. Im Angebot hat Vašek nun Michelstaedter, dem Evola einen hohen Einfluss auf seine eigenen Schriften zuschreibt und von dessen einzigem Buch Vašek eine deutsche Teilübersetzung entdeckt hat. Könnte es also nicht sein, dass Heidegger Michelstaedter gelesen hatte? Und nicht nur das!
Wer aber war Carlo Michelstaedter, dessen Geschichte nicht anders als tragisch bezeichnet werden kann? Offenkundig hochtalentiert, setzt der 1887 geborene Sohn eine bildungsbürgerliche Familie im Jahr 1910 seinem Leben mit einer geliehenen Pistole ein Ende, womöglich nach einer Auseinandersetzung mit seiner später in Auschwitz ermordeten Mutter. Drei Jahre später legen Freunde seine abgeschlossene Dissertation der Öffentlichkeit vor. Im Mittelpunkt der Studie stehen philologisch-kulturkritische Deutungen ausgewählter Stellen aus den Werken von Platon und Aristoteles. 1922 wird die Ausgabe um drei gewichtige, systematisierende „Anhänge“ erweitert. Gleich nach Michaelstaedters Tod setzt eine breite Rezeption ein, die rasch die USA erreicht und in Italien bis heute zahlreiche, oft wunderliche Blüten treibt. Eine deutsche Teilübersetzung der Dissertation erschien 1999 unter dem Titel „Überzeugung und Rhetorik“. Doch erst in jüngster Zeit interessiert man sich dank der Münchner Germanistin Yvonne Hütter hierzulande ein wenig für Michelstaedter.
Vašek ist bei weitem nicht der Erste, der Michelstaedter mit Heidegger in Verbindung bringt, wie sein klug und redlich argumentierendes Buch selbst ausweist. Und ab dem vierten Kapitel lohnt die Lektüre unbedingt, denn ab da geht es um den Textvergleich. Hier wird denn auch weniger eine Linie zwischen Michelstaedter und Heidegger konstruiert, als vielmehr die Aufladung von Heideggers Begrifflichkeit mit dem zugleich zivilisationsmüden und gegenwartsabwertenden Duktus einer gelehrt-modernistischen Sprache deutlich gemacht. Insofern ist Vašeks Arbeit ein gewichtiger Beitrag zu den verdeckten geistigen Wurzeln des Seinsdenkers.
Bei der Freude um die Ausgrabung sollte aber keineswegs vergessen werden, dass mit Susanne Möbuß’ Studie über Heidegger und Franz Rosenzweig (Alber Verlag, Freiburg 2018) eine außerordentlich anregende Alternative vorliegt. War also Heidegger ausgerechnet durch die beiden jüdischen Philosophen nicht nur beeinflusst, sondern folgte gar ihren philosophischen Programmen? Auch das noch, möchte man da ausrufen!
THOMAS MEYER
Thomas Vašek: Schein und Zeit. Martin Heidegger und Carlo Michelstaedter. Auf den Spuren einer Enteignung. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 318 Seiten, 28 Euro.
Dieses Buch ist ein Beitrag zur
Freilegung der verdeckten
geistigen Wurzeln Heideggers
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