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Die Poesie lebt - doch die ungeheure Vielfalt der Dichter aller Sprachen, aller Länder von Albanien bis Zypern ist nahezu unbekannt. So ist es höchste Zeit für eine neue, aufregende Bestandaufnahme: Nach den legendären Vorgängern "Museum der modernen Poesie" von Hans Magnus Enzensberger (1960) und "Atlas der neuen Poesie" von Joachim Sartorius (1995) machen sich Jan Wagner und Federico Italiano auf eine faszinierende Reise. Die "Grand Tour" durch die junge Lyrik Europas gibt poetischen Proviant für Jahre: Unbekanntes, Überraschendes und Unerhörtes - in Original und Übersetzung. Eine Entdeckungsreise für wache Geister.…mehr

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Produktbeschreibung
Die Poesie lebt - doch die ungeheure Vielfalt der Dichter aller Sprachen, aller Länder von Albanien bis Zypern ist nahezu unbekannt. So ist es höchste Zeit für eine neue, aufregende Bestandaufnahme: Nach den legendären Vorgängern "Museum der modernen Poesie" von Hans Magnus Enzensberger (1960) und "Atlas der neuen Poesie" von Joachim Sartorius (1995) machen sich Jan Wagner und Federico Italiano auf eine faszinierende Reise. Die "Grand Tour" durch die junge Lyrik Europas gibt poetischen Proviant für Jahre: Unbekanntes, Überraschendes und Unerhörtes - in Original und Übersetzung. Eine Entdeckungsreise für wache Geister.
Autorenporträt
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin. 2001 erschien sein erster Gedichtband "Probebohrung im Himmel". Es folgten "Guerickes Sperling" (2004), "Achtzehn Pasteten" (2007), "Australien" (2010), "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" (2012) und der Sammelband "Selbstporträt mit Bienenschwarm" (2016) und zuletzt "Die Life Butterfly Show" (2018) sowie die Essaybände "Der verschlossene Raum" (2017) und "Der glückliche Augenblick" (2021). Für seinen Gedichtband "Regentonnenvariationen" (2014) gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse, 2017 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Federico Italiano, 1976 in Novara geboren, lebt als Lyriker, übersetzer und Herausgeber in Wien, wo er an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften forscht. An der LMU München ist er Dozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit 2003 hat er fünf Gedichtbände publiziert. Seine Lyrik wurde u.a. mit dem Tirinnanzi-Preis (2020) ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Bei Hanser gab er mit Jan Wagner die Anthologie Grand Tour (Reisen durch die junge Lyrik Europas, 2019) heraus, zuletzt erschien der Gedichtband Sieben Arten von Weiß (2022).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019

Gedichte treiben auf Chile zu

Ein Wunderwerk der jungen Dichtkunst im kollektiven Zusammenspiel: "Grand Tour" unternimmt sieben Reisen durch die europäische Lyrik.

Von Paul Ingendaay

Alle paar Jahrzehnte kommt eine lyrische Anthologie heraus, die es noch einmal von den Dächern schreit: Leute, lest Gedichte! Den Anfang machte 1961 Hans Magnus Enzensbergers "Museum der modernen Poesie" (Suhrkamp), das den Nachkriegsdeutschen mit dem Brio der Entdeckung eine andere Moderne aufschloss, von Lorca bis Mandelstam. Vom Begriff des "Museums" hat sich Enzensberger später selbst distanziert und den "Atlas" vorgeschlagen. Genau den nahm Joachim Sartorius dann 1995 in den Titel seines herrlichen "Atlas der neuen Poesie" (Rowohlt) und unterteilte ihn in neun "Mappen". Das hatte einen gewissen Geo-Schick, roch nach Abenteuer und Vorläufigkeit. Sartorius' Vorwort ist als Appell, Bekenntnis und Beschwörung noch immer lesenswert.

Vom großen Trotzdem der literarischen Moderne ist bei Sartorius' Nachfolgern wenig geblieben. Der gewichtige Band "Grand Tour - Reisen durch die junge Lyrik Europas" (Hanser) gibt sich fröhlich, unternehmungslustig und vor allem gemeinschaftlich und inklusiv. Europa, darunter verstehen die Herausgeber Jan Wagner und Federico Italiano all jene Länder, "die aus geographischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können und müssen". Ansonsten weigern sich die beiden Herausgeber, das Los minoritärer Dichter zu bejammern oder den allgemeinen Leserschwund zu beklagen. Aus Sicht der Produzenten trifft ja genau das Gegenteil zu: "Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung." Die Gründe dafür stehen im vorliegenden Band, denn er selbst ist der Beweis seiner Ausgangsthese: dass Dichter und Dichterinnen sämtlicher Länder des Kontinents rastlos reisen, einander begegnen, einander lesen und übersetzen, und zwar mit einer Leichtigkeit der Kommunikation und einer Effizienz des Warenaustauschs, wie sie historisch einmalig sind.

Unpolitisch sind die Dichter deshalb noch lange nicht. Gerade im Zeitalter nationalistischer und separatistischer Strömungen, so die Herausgeber, gebe es keinen besseren Augenblick für ein "Europa der Lyrik", in welchem "der Austausch mit dem und das Lernen vom anderssprachigen, aber nicht grundsätzlich andersartigen Gegenüber der Normalzustand ist und Vielseitigkeit als Gewinn gesehen wird". Besser könnte es auch Steinmeier nicht sagen.

In sieben Reisen mit je sieben Ländern geht's kreuz und quer durch Europa, beginnend mit Polen, dem Land von Milosz, Herbert, Szymborska und Zagajewski. Die Neuen allerdings dürfen nicht älter als fünfzig sein, auch wenn Ausnahmen gemacht wurden. Häufig sind Mix und modernes Nomadentum, die Migration zwischen Sprachen und Kulturen - gebrochene Lebensläufe, wohin man schaut. Ohne nachgezählt zu haben - zu mühsam! -, entsteht der Eindruck: Es könnte mehr Dichterinnen als Dichter geben. Sollte es so sein, wäre es nur der Spiegel der Erkenntnis, dass Frauen mehr lesen als Männer. Fast sechshundert Seiten. Neunundvierzig Länder. Hunderte Lyriker. Man ist baff. Der Dank der Herausgeber geht an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die das Werk in Auftrag gab, sowie an 185 (!) beratende Einzelpersonen, die den Überblick über den jetzigen Stand der europäischen Produktion erst ermöglicht haben.

Einzelne Dichter herauszupicken scheint bei dieser Fülle albern. Dennoch. Da ist das "Lied an den Lärm" der Waliserin Deryn Rees-Jones. Der präzise Landschaftsblick des Luxemburgers Tom Nisse. Der Einbruch alltäglicher Gewalt in die lakonischen Verse von Dstanka Hrastelj aus Slowenien. Das Sprachspiel von Cia Rinne (Finnland), der Buchstabensalat des Niederländers Mustafa Stitou, der unangestrengte Balladenton in dem Gedicht "Die Puppe" der Weißrussin Vera Burlak und ein Poem des Iren David Wheatley mit dem Titel "Die antarktische Schule der Dichtung", in welchem sich die wunderbaren Zeilen finden: "Täglich brechen Gedichte ab und treiben, / grob gesagt, auf Chile zu."

Das Kriterium des "Herausragenden" und "Überdauernden" ist aufgeweicht. Mit diesem Buch wird kein Kanon geschaffen, sondern eine internationale literarische Handwerksmesse veranstaltet. Biographische Informationen sind darin kaum enthalten, man braucht sie auch nicht. Wer will, setzt sich einfach vor den Bildschirm und ruft Youtube-Videos auf. Der Band quillt über vor radikaler Subjektivität, lautem Sprechen und diskretem Sprechen und großer Aufmerksamkeit für die Dinge. Bestimmte Objekte - Handschuhe zum Beispiel - beschäftigen mehrere Dichter. Bestimmte Tiere - Pferde zum Beispiel - sind Thema sehr verschiedener Poeme, darunter das schwermütige "Die Grubenpferde" der Französin Linda Maria Baros oder eine fast mythische Beschwörung wie "Das Pferd unter dem Kamin" der Irin Doireann ní Ghríofa. Die verwandten Themen, die Echos und motivischen Verflechtungen haben den Herausgebern erkennbar Spaß gemacht. Eine andere Erkenntnis: Auch Männer interessieren sich für Küche, Kraut und Garten.

Die deutsche Lyrik ist mit 26 Namen vertreten, für jeden ein Poem. Da gibt's die bekannteren wie Stefen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck und Uljana Wolf, dann das fein rhythmisierte Gedicht "Rattenfänger" von Nora Bossong, das so beginnt: "Zwei Jungen traf ich / unterm Brückenbogen nachts, / die pinkelten den Pfosten an und / sagten, dass sie sieben seien / sagten, dass sie Läuse hätten." Ulrike Almut Sandig, die ihre lautpoetische Arbeit gern mit Musik vorträgt - ihren Videoclip von einem Festival in Mumbai haben schon mehr als 150 000 Benutzer geklickt -, verschmilzt mit Witz Alltagssprechen, Goethe und unsere verschrammten Konventionen der Verschriftlichung. Hier hüpft das Auge endlich einmal die Zeilen entlang, und man merkt, dass moderne Lyrik sonst eher eine Sache des Textes als der Musik ist. Eine Entdeckung: Christian Lehnert mit einem reich assoziierenden titellosen Erinnerungsgedicht, das Volker Braun gewidmet ist.

Der mutmaßlich bekannteste deutsche Lyriker der jüngeren Generation, der Büchner-Preisträger Jan Wagner, konnte sich natürlich nicht selbst in die Anthologie stecken. Dafür tritt er als hochproduktiver Übersetzer auf, sogar "übers Englische aus dem Armenischen", und zwar für Tatev Chakhian, die einzige Vertreterin ihres Landes, die noch einmal die Brechtschen Fragen eines lesenden Arbeiters beantwortet: "Nach einer Revolution, / nach einem gewonnenen Krieg, / nach einem Unabhängigkeitstag, / denkt ein Straßenkehrer, / bedrückt, gebeugt, / niemals an eine Revolution, / an einen Sieg / und erst recht nicht an Unabhängigkeit."

Das mag einfach klingen, aber insgesamt verdienen die übersetzerischen Leistungen dieses Bandes eine tiefe Verbeugung. An lyrischen Zeilen wird lange gefeilt, und die Nachbildung metrischer oder lautmalerischer Qualität, von Sinnentsprechungen mal zu schweigen, dauert Tage und Wochen, weil die Ideen nicht immer dann sprudeln, wenn man sie braucht. Lyrikübersetzer sind selbst Dichter - was man hier besonders schön sieht, weil ein gewichtiger Teil der fremdsprachigen Gedichte von Kollegen übertragen wurde.

Wenn man sich unter jüngeren Lyrikern, zumal aus Kroatien oder Mazedonien, so wenig auskennt wie der Unterzeichner, ist das Buch auf jeder Seite eine Überraschung. Der Krieg auf dem Balkan ist in den Versen bis heute lebendig, weil die Brutalisierung des Lebens bis heute andauert. Manchmal frappiert die Übertragbarkeit der Umstände - Kindheiten gibt es überall, Schmerz auch, Jubel ebenso. Und die so verschiedenen Sprachen: Trennen sie? Verbinden sie? Am Ende tun sie beides. Weisheit wird gewässert von ursprünglicher Ahnungslosigkeit, dem griechischen Staunen, dem Anfang der Philosophie. Das ist unser struppiges, lärmendes, hinreißendes Europa, und vor dieser Doppelbewegung vibriert der ganze Band.

Wir lernen kennen: sechs Dichter(innen) aus Griechenland, fünf aus der Slowakei, acht aus der Ukraine und einen aus Zypern. Sprachen insgesamt (und alle Originale sind rechts neben dem Deutschen zu finden): 47! Darunter nicht nur Baskisch, Katalanisch, Galicisch, Ladinisch, Rätoromanisch oder schottisches Gälisch, sondern auch ein Ding namens Polyglott. An Proporz hat dabei niemand gedacht. Es sollte nur kein Winkel Europas vergessen werden.

Ein Werk wie dieses, will es Wirkung haben, muss ein Hausbuch sein. Der prächtige Hanser-Band, groß und breit und hart und natürlich fadengebunden, ist genau das geworden. Er sagt: Ich bin Papier und halte ewig. Ich nehm euch mit, bin bei euch, wenn's nicht weitergeht.

Jan Wagner, Federico Italiano (Hrsg.): "Grand Tour".

Reisen durch die junge Lyrik Europas.

Carl Hanser Verlag, München 2019. 576 S., geb., 36,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2019

Das erlöste Babel
Eine gesamteuropäische Lyrik-Anthologie – kann das gut gehen? Der Band „Grand Tour“ bringt
Gedichte in 46 Sprachen zusammen und zeigt, was sich an Europa zu verteidigen lohnt
VON BURKHARD MÜLLER
Babel und die mit ihm einhergehende Sprachverwirrung wurde von Gott als ein Fluch verhängt: So erzählt es die Bibel. Es ist gewiss der Fluch des politischen Europa. Englisch ist die Sprache der Welt, aber keineswegs diejenige Europas, und nach dem Brexit weniger denn je. Die zwei größten Sprachen, Deutsch und Französisch, werden als hegemonial beargwöhnt, nicht ganz zu Unrecht. Doch wenn man die nächstgrößeren, Italienisch und Spanisch, ebenfalls als offizielle Hauptsprachen zulässt, warum dann nicht Polnisch? Oder Rumänisch, Niederländisch, Portugiesisch, zuletzt Maltesisch und Gälisch? Bei 26 nationalen Sprachen ergeben sich Hunderte Sprachenpaare, es muss vom Lettischen ins Griechische, vom Kroatischen ins Finnische gedolmetscht werden: ein bürokratischer Albtraum, selbst nach EU-Maßstäben.
Nun treten die Dichter Frederico Italiano und Jan Wagner mit einer Anthologie die Flucht nach vorn an: Sie begrüßt das europäische Babel ausdrücklich. Wie herrlich ist es, dass dieser kleine Kontinent, dieser bloße Wurmfortsatz Asiens, so viele Sprachen beherbergt – und dass es in allen Dichter und Dichterinnen gibt! Der Band heißt „Grand Tour – Reisen durch die junge Lyrik Europas“. Grand Tour, das war einmal etwas für den adligen Nachwuchs, der sich an den französischen und italienischen Höfen seinen Schliff holte. Heute kann sich, dank Interrail und Flixbus, jede Studentin Entsprechendes leisten. Reisen ist, was es nie zuvor war, demokratisch geworden. Und von diesem demokratischen Ideal lässt sich dieses Buch leiten.
Es gliedert sich in sieben „Reisen“ zu je sieben Stationen, sieben mal sieben, eine magische, eine glückbringende Zahl. Jede Reise folgt nicht einer realen Route, sondern springt so weit wie möglich auf dem Kontinent herum, gleich die erste zwischen Polen, Wales, Mazedonien, Island, Moldawien, Portugal und Finnland. Dabei überwiegt das staatliche das linguistische Prinzip: Wales steuert gälische und englische Lyrik bei, Estland estnische und russische. Der Band nimmt es hin, dass sich das, was einmal Serbokroatisch hieß, aus politischen Gründen in Serbisch, Kroatisch und Bosnisch zerlegt hat. Sein Internationalismus rechnet jedenfalls mit Nationen – und ist auch darin ein typisch europäisches Projekt.
Die beiden Herausgeber Federico Italiano und Jan Wagner formulieren angesichts der gegenwärtigen Krise der Gemeinschaft ihre Ziele eher zurückhaltend: „Vielleicht ist die uralte, bis in mythische Zeiten zurückgreifende, aber immer noch bemerkenswert lebendige Form des Gedichts nicht das schlechteste Mittel, um festzustellen, an welchem Punkt des Weges hin zu jenem Ort oder Zustand, zu einem idealen Europa, wir uns befinden.“ Ihre Aufgabe als Herausgeber haben sie jedenfalls sehr ernst genommen und sich für die zahlreichen Sprachen, die ihnen fernstehen, ausführlich Rat bei denen geholt, die damit vertraut sind; und sie haben sich der Hilfe erstklassiger Übersetzer versichert.
Lassen sich irgendwelche Tendenzen erkennen? Am ehesten wohl die, dass die Lyrik heute, randständig zwar wie eh und je, aber doch in allgemeiner und vielfältiger Blüte steht. Der Westen neigt eher zum leichten, der Osten zum schweren Ton. Aber bei uns liegen die historischen Schrecknisse ja auch schon mehr als sieben Jahrzehnte zurück, in Ex-Jugoslawien gerade mal zwei.
Tausend Gedichte dürften es ungefähr sein, aus 46 Sprachen. Wo anfangen? Vielleicht, weil es so am knappsten geht, bei den Überschriften. „Tagsüber trinken“ nennt der Waliser Patrick McGuinness sein Gedicht, und er unterscheidet, wie nur ein echter Adept es kann, zwischen den zauberischen Wirkungen des ersten, zweiten und dritten Schlucks. „Ich lebe in einem land in dem exhumierungen schlagzeilen machen“, das ist, kaum überraschend, von einem Bosnier, Faruk Šehić. „In der U-Bahn gibt mir eine Frau mein Taschentuch zurück“ – eine Kränkung, die außerhalb Litauens, wo Agnė Žagrakalytė lebt und schreibt, vielleicht gar nicht so empfunden worden wäre. „Auf uns sei Land gebaut“, so spricht in sarkastischer Mimesis der landsmannschaftlichen „Hygge“ die Dänin Ursula Andkjær Olsen. „Unsere köchinnen“: das unmittelbare Erlebnis des Essens spielt in den Gedichten aus dem riesigen slawischen Raum eine weit wichtigere Rolle als im abgeklärten Westeuropa, selbst wenn die Sprache uns geografisch so nahe ist wie das Tschechische, in dem Jakub Řehák schreibt. Im Serbischen sind es die Kohlrouladen, im Russischen der Dill, die zur Ehre des Gedichttitels gelangen.
Und das Buch öffnet die Augen für die Ähnlichkeit des Anderen, wenn man bei Sprachen, die man nicht kennt, den Blick von der deutschen Version aufs beigegebene Original schweifen lässt. (Der Rezensent räumt ein, dass ihm das nur bei den germanischen und romanischen Sprachen gelang, denn mit zum Beispiel den slawischen ist er leider nie in Berührung gekommen, vom Albanischen, Ungarischen, Georgischen zu schweigen.) „Die Angst kriecht ins Bett / mit kalten Füßen“, beginnt die Isländerin Gerđur Kristný ihr Gedicht „Nussschokolade“. Im ursprünglichen Wortlaut: „Hnetsúkkulaði // Kviðinn skriður upp í / með kalda fætur“. Da versteht man erst einmal wenig, erkennt aber doch mit Freude die kalten Füße. Und man hat Gelegenheit, die oft zu hörende Auskunft, das Isländische würde sich niemals Wörter fremdländischer Herkunft einverleiben, in Zweifel zu ziehen: Denn woher käme die súkkulaði, wenn nicht von der im Kern aztekischen Schokolade? – „die Blüten wie offene Geschlechtsteile – sind sie Geschlechtsteile? –“, so steht es, ein wenig ungelenk, in der deutschen Version des Gedichts von Luís Quintais, und man fragt sich: Was wohl mögen die Geschlechtsteile auf Portugiesisch sein? Man findet: „as flores como sexos – são sexos? –“. Man fühlt, um wie viel dunkler und poetischer und minder anatomisch das im Original klingt; und mag doch den Übersetzer nicht schelten, denn er hat das ihm Mögliche vollbracht.
Es ehrt das Buch, dass es auch die Kleinsten nicht vergisst, die Samen in der Arktis und die Ladiner, die kleinste Sprachgemeinschaft Europas, die mit wenigen Tausend Sprechern im Südtiroler Grödnertal ausharrt, italienisch Valgardena. Roberta Dapunt schreibt über ihre Muttersprache: „Ladiner, so kleiner name / weisen die augen & blinzeln ins land, / winzige herde auch wir eingeladen auf der welt“. Ja, das ist das Besondere und Schöne an Europa, das, was sich an ihm zu verteidigen lohnt: dass es eine Einladung an die Kleinen und wenigen darstellt, sich am großen Ganzen zu beteiligen, ohne dass sie ihre Eigenart verleugnen müssen. „Jënt ladina, tan pice inom / rodosa i ödli y ćiara lunć, / mënder tlap inće nos adinfinit söl monn“.
Ein Buch wie dieses kann man eigentlich gar nicht rezensieren. Eher geht es darin zu wie bei einem Feuerwerk mit seinen vielen, sich rasch ablösenden Figuren am Nachthimmel; oder besser, weil die Gestalten doch nicht zerstieben, sondern bleiben, wie bei einer Schatzhöhle, wo man nur mit dem Finger zeigen und rufen kann: Schau da! Und da! Und da drüben! Bei einem Schatz kann man, vom Funkeln geblendet, nicht alles auf einmal zuordnen und verwerten. Man lasse sich Zeit damit. In diesem Sinn ist dieses Buch bestimmt ein Schatzhaus.
Federico Italiano, Jan Wagner (Hg.): Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas. Hanser, München 2019. 582 Seiten, 36 Euro.
Wir herrlich, dass dieser
Wurmfortsatz Asiens so viele
Sprachen beherbergt
Lyriker, Übersetzer,
Literaturwissenschaftler: Frederico Italiano.
Foto: Isolde Ohlbaum / laif
Dichter und Büchner-Preisträger 2015:
Jan Wagner.
Foto: Catherina Hess
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"Federico Italianos und Jan Wagners 'Grand Tour' ist eine Anthologie, zu der es nichts Vergleichbares gibt: eine immens weitverzweigte, wunderbar abwechslungsreiche Reise durch die zeitgenössische europäische Lyrik." Wolfgang Seibel, ORF Ex Libris, 01.09.19

"Ein unverzichtbares Handbuch zur europäischen Lyrik." Michael Braun, Die Rheinpfalz, 17.05.19

"Bei einem Schatz kann man, vom Funkeln geblendet, nicht alles auf einmal zuordnen und verwerten. Man lasse sich Zeit damit. In diesem Sinn ist dieses Buch bestimmt ein Schatzhaus." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 30.06.19