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Kunst boomt. Von allem gibt es mehr: mehr Künstler, mehr Museen, mehr Markt, mehr Publikum. Nur von einem gibt es weniger: Kriterien. Wie die Kunst verstehen und beurteilen, um die es bei dem ganzen Spektakel doch gehen soll?
Jörg Heiser, deutscher Chefredakteur der britischen Kunstzeitschrift frieze und Autor für die Süddeutsche Zeitung, umreißt am Beispiel zahlreicher Künstler und Werke die wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen Kunst.
„Da haben wir gedacht, zeitgenössische Kunst wäre diese Sorte Kultur, die uns eine Story erzählen könnte über das bessere Leben oder wenigstens
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Produktbeschreibung
Kunst boomt. Von allem gibt es mehr: mehr Künstler, mehr Museen, mehr Markt, mehr Publikum. Nur von einem gibt es weniger: Kriterien. Wie die Kunst verstehen und beurteilen, um die es bei dem ganzen Spektakel doch gehen soll?

Jörg Heiser, deutscher Chefredakteur der britischen Kunstzeitschrift frieze und Autor für die Süddeutsche Zeitung, umreißt am Beispiel zahlreicher Künstler und Werke die wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen Kunst.

„Da haben wir gedacht, zeitgenössische Kunst wäre diese Sorte Kultur, die uns eine Story erzählen könnte über das bessere Leben oder wenigstens die schönere Wohnungsausstattung, und dann das: nichts als ein schwarzes Loch, nichts als peinliche Pausen, komische Stolpersteine, stumme Zwischenstücke. Pollocks Suff, van Goghs Ohr, Picassos Unterhosen, all das und noch viel mehr kann man über Künstler und ihr Leben erzählen, ohne dabei auch nur zu streifen, was ihre Kunst eigentlich bewirkt.“

Autorenporträt
Heiser, JörgJörg Heiser wurde 1968 geboren und lebt in Berlin. Er ist Chefredakteur der britischen Kunstzeitschrift frieze und Autor für die Süddeutsche Zeitung. In den Neunzigern studierte er in Frankfurt am Main Philosophie und schrieb für Spex, Texte zur Kunst und diverse Tageszeitungen. Er konzipierte zuletzt die Ausstellungen Funky Lessons (2004/2005, BüroFriedrich, Berlin und BAWAG Foundation, Wien) und Romantischer Konzeptualismus (2007/2008, Kunsthalle Nürnberg und weitere Stationen).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2007

Pollocks Suff, Picassos Unterhosen
Künstlerlegenden und -biografien werden hoffnungslos überschätzt: Gegenwartskunst lässt sich damit nicht erklären
Die Kunst ist infiziert vom Personenkult, wie man an der hysterischen Kunstmarkt-Berichterstattung, der Gier Hollywoods nach Künstlerlegenden und an vielen neueren Biografien ablesen kann. Dieser Kult zehrt vom klassischen Genie-Mythos, verkennt aber ein entscheidendes Merkmal zeitgenössischer Kunst: Sie ist im Kern nicht narrativ. In seinem Buch „Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht” (Claassen, 368 Seiten, 22 Euro), das kommende Woche erscheint, beschäftigt sich der Autor mit diesem Phänomen. Wir drucken vorab einen bearbeiteten Auszug.
Angenommen, die zeitgenössische Kunst mitsamt ihrer Eigenheiten wäre gesellschaftlich endgültig akzeptiert. Ihre letzten Fundamentalgegner haben aufgegeben oder sind weggestorben. Die einen schmücken sich mit ihr, die anderen studieren sie aufmerksam. Die einen erwarten, dass sie gut aussieht, die anderen erwarten, dass sie kritisch ist. Die einen finden deshalb die anderen zu strebsam und die anderen finden die einen einfach ein bisschen blöd. Aber sonst ist alles okay. Ich bin okay, du bist okay. Die Sache ist zu Ende, bevor sie begonnen hat, und alle gehen nach Hause.
    So ist es natürlich nicht. Die Kunst ist nicht endgültig akzeptiert – und wo sie es ist, da nur auf dünnem Eis. Aber ist sie überhaupt das, wofür sie gehalten wird? Entgeht uns etwas, wenn wir die Kunst auflösen in Geschichten von furchtlosen Helden der Leinwand und geheimnisvollen Schönheiten der Installation? Ja. Denn Kunst ist keine Erzählung.
Literatur, Theater und Film sind trotz aller avantgardistischen Neuerungen im Kern narrative Formen geblieben. Bei Kunst – ähnlich wie bei der Musik – ist es aber gerade nicht so. Kunst ist im Kern anti-narrativ. Darüber können zweierlei Dinge leicht hinwegtäuschen.
Zum einen ist es so, dass in der Kunstproduktion längst alle möglichen Medien – Film, Text, Comic und so weiter – zum Einsatz kommen können. Je mehr ein Kunstwerk sich aber erzählerisch einrichtet in diesen Medien, umso mehr könnte es sein, dass es in deren jeweils angestammter Sparte besser aufgehoben wäre – oder auch schlechter angesichts der dortigen Konkurrenz. Zum anderen neigen große Teile der Kunstberichterstattung dazu, möglichst schnell zur mit Anekdoten gespickten Künstlerbiografie überzugehen, als wäre der anti-narrative Kern der Kunst ein schwarzes Loch, um das man einen möglichst großen Bogen machen sollte. Pollocks Suff, Van Goghs Ohr, Picassos Unterhosen, all das und noch viel mehr kann man über Künstler und ihr Leben erzählen, ohne dabei auch nur zu streifen, was ihre Kunst eigentlich mit einem selbst und in der Welt bewirkt.
Gegen eine zünftige Künstlerlore ist im Prinzip nichts einzuwenden. Her mit den Geschichten von Anmaßung und Stumpfsinn, Askese und Delirium! Solange sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kunst sich trotz aller Legendenbildungen grundsätzlicher als andere Kultursparten – darin den Naturwissenschaften ähnlich – entfernt hat von der Aufgabe, Geschichten zu erzählen, ob diese nun das Einschlafen erleichtern oder das Fürchten lehren. Anders gesagt: Die Kunst produziert Geschichten eigentlich nur als Nebeneffekt, so wie die Nasa Teflon-Pfannen herstellt. Wenn jemand sagt, das Kunstwerk handle von diesem oder jenem, stehe für dieses oder jenes, ist damit noch nichts darüber gesagt, was es als Bild, Objekt, Konzept, Geste oder Akt ausmacht. Das gilt im Ansatz für jede kulturelle Form, aber bei der Kunst steht dieser Punkt im Zentrum. Beim Kunstwerk geht es nicht so sehr um das Was als um das Wie. Nicht um die Geschichte selbst, sondern um das, was diese in Gang setzt oder unterbricht, rhythmisiert oder was aus der Geschichte heraushüpft wie ein Frosch aus dem Teich.
     All das hat großes Frustpotenzial. Da haben wir gedacht, zeitgenössische Kunst wäre diese Sorte Kultur, die uns eine Story erzählen könnte über das bessere Leben oder wenigstens die schönere Wohnungsausstattung, und dann das. Was wird uns hier nahegelegt? Nichts als ein schwarzes Loch, nichts als peinliche Pausen, komische Stolpersteine, stumme Zwischenstücke. Die Story steht auf guten Kunstwerken selten drauf, wir müssen sie selbst erzählen.
Doch wie? Reden über Kunst in nichts als stahlharten Auktionsverkaufszahlen und windelweichen Geschmacksurteilen ist nicht nur unproduktiv, sondern auf Dauer auch öde. Wie kann man also Strukturen erkennen, wo fröhliches bis ignorantes Nebeneinander zu herrschen scheint? Vielleicht geht es also um die großen Biografien, darum, wie die Künstler wurden, was sie sind? Das erklärt sicher viel über die Künstler, aber oft zu wenig über ihre Arbeit. Denn die Kunstwerke nehmen wie pubertierende Teenager, sobald sie nur das Haus verlassen und sich unter andere Teenager mischen, ein Eigenleben an. Vielleicht sollte man stattdessen vom Medium ausgehen, von Malerei und Skulptur, Fotografie und Video?
Rührend rückwärtsgewandt ist der Versuch, die räudigen Promenadenmischungen, die im 20. Jahrhundert an den Grenzen zwischen Medien und Gattungen entstanden sind, in die klassischen Kategorien zurückzupfeifen. Hanns Eisler sagte einmal: „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von Musik nichts.” Das gilt für jede Kunstform. Was aber nicht den Umkehrschluss zulässt, dass man Medien und Gattungen einfach als eine einzige große Soße behandeln kann: Material und Technik haben jeweils ihre eigenen Gesetze.
Gefangen im logischen Vakuum
Der Maler oder Bildhauer im pittoresk vollgemüllten Atelier ist zwar nach wie vor ein beliebtes Motiv für Lifestyle-Fotostrecken. Das verrät viel über eine nostalgische Sehnsucht der gegenwärtigen kulturellen und ökonomische Eliten nach Bohème. Und wenig darüber, was die Kunst der Gegenwart von der vergangener Epochen unterscheidet. Denn in der zeitgenössischen Kunst hat sich der Akzent verschoben von Biografie und Medium zu Methode und Situation.
2002 realisierte der in Mexico City lebende Belgier Francis Alys eine Arbeit, die das klar vor Augen führt. Ein schlaksiger Typ kauft sich eine Pistole, entsichert sie, verlässt den Waffenladen und spaziert ohne Eile durch die belebten Straßen. Seine rechte Hand schlenkert umher, als trage er eine Einkaufstasche, nicht eine Knarre. Niemand scheint davon Notiz zu nehmen, bis nach elf Minuten – der Timecode der Videokamera, die ihm folgt, verrät es – ein Polizeiwagen neben ihm hält. Der Mann versucht davonzulaufen, aber allzu unentschlossen, und so gelingt es den beiden Beamten problemlos, ihn festzunehmen, ins Auto zu stecken und mit ihm davonzubrausen.
Der schlaksige Typ ist der Künstler selbst. Er wollte herausfinden, wie lange man in Mexiko City mit einer Knarre durch die Straßen laufen kann, bevor man festgenommen wird. Aber dies ist nicht einfach eine Mutprobe, sondern ein Wirklichkeitstest. Nach seiner Festnahme überredet er die Beamten, mit ihm die gesamte Szene für eine zweite Aufnahme noch einmal genauso nachzustellen. Das ist dann die eigentliche Video-Arbeit mit dem Titel „Re-Enactment: Direkt neben der ersten wird die zweite Version projiziert, die sich bis auf ein paar Close-Ups und Schnitte kaum unterscheidet.
Das „Original” scheint plötzlich infiziert mit Zweifeln: Was, wenn die authentische, risikoreiche Handlung gar nicht authentisch war, sondern ebenfalls gestellt? Umgekehrt erscheint einem dann die zweite Version immer noch gefährlich genug: Was, wenn zum Beispiel ein Passant, der nicht über den inszenierten Charakter der Szene informiert ist, gewaltsam versucht, den Bewaffneten zu stoppen? So oder so wird die Vorstellung des Künstlers, der sein Leben für die Kunst riskiert, geschluckt vom logischen Vakuum zwischen Faktum und Fiktion. Was übrig bleibt, ist nicht die Biografie des Künstlers – nein, Francis Alys ist kein Waffennarr – und auch nicht das Medium: Ist es Video? Ist es Performance? Keines von beidem und beides zugleich. Was übrig bleibt, ist allein die Situation (Mann geht mit Knarre spazieren) und die Methode (einfach das Gleiche noch einmal).
Kunst geht, wenn sie gut ist, dahin, wo es wehtut: mitten hinein in die verknöcherten Verhältnisse, von denen sie selbst hervorgebracht wurde. Vielleicht hat ein wichtiger Teil der Kunst seit der Moderne das mit Slapstick gemein. Anstatt als Bürgerschreck einfach nur auf Empörung abzuzielen, zeigt sie das Entgleiten der Autorität an sich selbst. Anstatt sich aufzublasen, lässt sie dem Pompösen im Namen der Kunst die Luft ab.
JÖRG HEISER
Ed Harris als einsam Farbschlieren tröpfelndes Genie Jackson Pollock (links), Salma Hayek als mexikanische Schmerzensmutter Frida Kahlo: Hollywood liebt solche Geschichten. Doch sobald die Werke dieser Künstler das Atelier verlassen, beginnen sie ein Eigenleben jenseits biografischer Anekdoten zu führen. ddp/AP
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007

Entschuldigung, ist das Kunst?
Aufräumarbeit im boomenden Markt: Jörg Heiser erklärt überzeugend, was gute zeitgenössische Werke ausmacht / Von Niklas Maak

Schrille Vermarktung und Beratungsscharlatane - nicht nur Neuankömmlinge im Kunstbetrieb treibt die Frage um, ob die sich inzwischen explosionsartig vermehrenden Objekte, die als Kunst dargeboten werden, überhaupt, und wenn ja, auch gute Kunst sind.

Der Boom hält an. Seit mehreren Jahren wächst die zeitgenössische Kunstwelt wie ein atomarer Hefeteig: Allerorts werden Biennalen abgehalten, nie drängten so viele zum Sammeln entschlossene Laien in den einst elitären Zirkel der Kunstwelt, nie war entsprechend die Zahl der Beratungsscharlatane so groß, die Vermarktung von Gegenwartskunst so schrill ("Die Picassos von morgen - schon heute!", wirbt die Galerie Terminus in mehrseitigen Hochglanzanzeigen und verspricht saftige Gewinne) - und nicht nur die Neuankömmlinge im Kunstbetrieb treibt die Frage um, ob die sich explosionsartig vermehrenden Objekte, die als Kunst dargeboten werden, überhaupt, und wenn ja, auch gute Kunst sind.

Lange wollte sich an dieser Frage niemand die Finger verbrennen. Wer nach Kriterien für die Beurteilung von Kunst oder sogar nach Definitionen "guter Kunst" rief, geriet schnell in den Ruf, einer reaktionären Begriffsromantik anzuhängen, deren Auflösung eines der großen Verdienste avancierter Kunst sei; entsprechend zog sich ein Großteil der Kritiker darauf zurück, den bedrohlich schnell schrumpfenden Restbeständen uneinsichtiger Kunstbanausen zu erklären, warum dieses oder jenes Werk ganz hervorragend "unsere" Sehkonventionen "irritiert". Ob die ganze routiniert hingehauene Irritiererei irgendeine Konsequenz und Relevanz hat oder nicht längst in den Wüsten allgemeiner Gefälligkeit versandende Kritikfolklore ist, wurde dabei lieber nicht weiter verhandelt.

In den Sumpf des kriterienlosen Wohlgefallens stößt nun Jörg Heiser, Chefredakteur der Kunstzeitschrift "Frieze", mit einem erstaunlich erhellenden Buch. Es trägt den Titel "Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht" und ist schon darin eine Anmaßung, die ihm Teile seiner Branche nicht verzeihen dürften, zumal der Ton dieses Werks sich eher am saloppen, subjektiven, polemisch auftretenden angelsächsischen Essayismus als an der präzise knarrenden deutschen Akademik orientiert. Heiser bietet dabei zweierlei: Man kann das Werk mit Gewinn als Überblick über interessante Gegenwartskünstler lesen; so anschaulich hat lange keiner mehr die Werke von Maria Lassnig bis Dana Schutz, Jonathan Meese, Francis Alys und Eija-Liisa Ahtila beschrieben und Gegenwartskunst im Licht von Klassikern der Moderne wie Duchamp, Gerhard Richter oder Gordon Matta-Clark verständlich gemacht. Darüber hinaus entwirft Heiser in "Plötzlich diese Übersicht" (der Titel verdankt sich dem gleichnamigen Kunstwerk des Schweizer Künstlerduos Fischli und Weiss) eine Kunstgeschichte des Slapsticks. Ausgehend von Duchamps Ready Mades, definiert Heiser Slapstick nicht im Sinne der "risikolosen Augenzwinker-Kunstwerkchen" als unterhaltsame Ironie, sondern als einen provozierten, existentiellen Schluckauf des Alltagsgeschehens, als Sand im Getriebe, der im Moment des Nichtfunktionierens "eine Wahrheit aufflackern lässt".

Heiser sieht dieses Urprinzip des modernen Kunstslapsticks in Duchamps Fahrradschemel verwirklicht, der übrigens parallel zu Chaplins ersten Slapstick-Filmen entstand: Zwei definierte Objekte werden hier unbrauchbar gemacht - auf den Schemel kann man sich nicht setzen, das Rad kann nicht rollen, es sei denn, der Hocker würde sich durch einen Kopfstand aufs Rad schwingen und davonmachen. Der absurde Wolpertinger, die Collage, die Verpfropfung von Dingen, die nicht zusammengehören, birgt die Chance zur Befreiung aus den Einbahnstraßen der Wahrnehmung. "Anstatt ihre Unnahbarkeit und Autonomie zu unterstreichen", schreibt Heiser, "macht die interessante Kunst genau das Gegenteil. Sie überantwortet mir die freudige Drecksarbeit des Denkens und der Kritik. Sie erzählt nicht, sie lässt erzählen." Auch Gordon Matta-Clark, der Häuser zersägte oder spiralische Löcher in sie hineintrieb, passt in diese Kunstgeschichte des Slapsticks: Das Haus wird als definiertes, abschirmendes Objekt unbrauchbar gemacht und als freier Erlebnisraum neu aktiviert. Unter dem Fokus des Slapsticks schreibt Heiser eine Kunstgeschichte des produktiven Wahrnehmungsvandalismus, die Bruce Nauman und Steve McQueen, Monica Bonvicini und den hintersinnigen Appropriatonsminimalisten Tom Burr sich gegenseitig erhellen lässt. Sogar in der scheinbar perfekt kalten, starren Minimal Art eines Donald Judd entdeckt Heiser überzeugend versteckten Slapstick - das schrille, bernsteingelbe Plexiglas etwa, das tatsächlich eher an psychedelische Brillengläser als an die Coolness industrieller Formproduktion erinnert. "Vornherum Kopfschmerztablette", so Heiser in der ihm eigenen polterigen Prägnanz, "hintenrum LSD."

Man muss Jörg Heiser nicht in all seinen Urteilen folgen. Aber es spricht für dieses stringent argumentierende, material- und thesenreiche Buch, wenn man mit den darin erarbeiteten Kriterien hier und da auch die ästhetischen Urteile seines Verfassers in Frage stellen kann. Denn im Raum steht mit "Plötzlich diese Übersicht" eine klare Haltung zu dem, was von Kunst erwartet werden kann. Ein Kern dessen, was Heiser auch in den drei weiteren Kapiteln verfolgt, die sich Malerei, Video und Film sowie der Geschichte einer Kunst widmen, die mit den Gesetzen und Erwartungen des Marktes spielt - ein Kern dessen, was Heiser untersucht, ist die Fähigkeit von Kunstwerken, sich gegen ästhetische Erstarrung in Kategorien und ihre Nutzung als erbauliches Standbild zu immunisieren. In Bildern wie "Die drei Lügen der Malerei" lotete etwa der Maler Sigmar Polke die Möglichkeiten und Grenzen seines Metiers aus, verdarb dem Betrachter mit Skurrilitäten wie einem frühstückseihaft geköpften Berg die Hingabe an die gemalte Welt und aktivierte stattdessen - durch einen ästhetischen Verblüffungseffekt - die Imagination des Betrachters. Das, der Charakter einer Versuchsanordnung, die auf den Betrachter als Akteur angewiesen ist, ist letztlich eines der zentralen Kriterien für "gute Kunst" bei Heiser: dass sie nicht als abgeschlossene, aus der Ferne zu betrachtende, gedanklich vorkonfektionierte Gegenwelt auf ihrem Sockel steht, sondern Fangarme ins Leben der Betrachter wirft, Experimente anzettelt, festgefügte Systeme durcheinanderwirbelt. Letztendlich taucht damit ein Ideal der sechziger Jahre wieder auf. Kunst soll einen Möglichkeitsraum entstehen lassen, ein Experimentierfeld für eine andere Form von Gesellschaftlichkeit, intersubjektiv sein: Formen finden, die kein exklusives Produkt, sondern Aktivierungsvehikel für die Utopie eines anderen Lebens sind.

Jörg Heiser: "Plötzlich diese Übersicht". Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht. Claassen Verlag, Berlin 2007. 224 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Bestens unterhalten hat sich Arno Widmann bei der Lektüre von Jörg Heisers geistreichen Überlegungen zur Kunst der Gegenwart. Er bescheinigt dem Buch, anders als viele andere Bücher über zeitgenössische Kunst, dem Leser immer wieder die Augen zu öffnen. Das Buch zeichnet sich für ihn geradezu dadurch aus, sich nicht vor die Kunstwerke zu stellen, sich wichtig zu machen oder die Blößen der Kunst zu bedecken. Heiser gelinge es vielmehr, ohne große Erklärungen dem Leser "klar zu machen, was er sieht". Daher würdigt Widmann das Buch auch als "Anleitung zum Sehen", was er insofern nur begrüßen kann, als er von der Devise überzeugt ist: "Wer besser sieht, ist klüger." Angetan zeigt er sich von Heisers Fähigkeit, mit seinen Texten eine Sogwirkung zu erzielen, indem er kluge und prägnante Überlegungen geschickt mit interessanten Geschichten verbindet.

© Perlentaucher Medien GmbH