Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • Artikelnr. des Verlages: 19983064
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 138
  • Erscheinungstermin: 16. April 2008
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm x 136mm x 14mm
  • Gewicht: 242g
  • ISBN-13: 9783518419557
  • ISBN-10: 3518419552
  • Artikelnr.: 23313757
Autorenporträt
Berkéwicz, UllaUlla Berkéwicz wurde in Gießen geboren. Sie studierte an der Hochschule für Musik in Frankfurt, an der sie auch ihre Schauspiel- und Gesangsausbildung absolvierte. Ab 1971 Engagements am Staatstheater Stuttgart, den Städtischen Bühnen Köln, an den Münchner Kammerspielen, dem Residenztheater München, Hamburger Schauspielhaus, Bochumer Schauspielhaus und der Freien Volksbühne Berlin. Seit 1982 freie Schriftstellerin und Übersetzerin von Theaterstücken. Einige ihrer zwölf Bücher wurden in neun Sprachen übersetzt. Sie heiratete 1990 den Verleger Siegfried Unseld und war nach seinem Tod von 2002 bis 2015 Verlegerin der Verlage Suhrkamp und Insel. Sie ist Vorsitzende der Siegfried und Ulla Unseld Familienstiftung und seit Dezember 2015 Vorsitzende des Aufsichtsrats des Suhrkamp Verlags. Ulla Berkéwicz wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit der LutherRose 2015. Für ihr Wirken als Schriftstellerin und Suhrkamp-Verlegerin erhielt sie die Moses Mendelssohn-

Medaille 2016. Ulla Berkéwicz lebt in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2008

Singen für die Sterber
Ulla Berkéwicz’ Totenklage „Überlebnis”
„Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wutz! Der stille laue Himmel eines Nachsommers ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum: deine Epochen waren die Schwankungen und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blätter auf stehende Blumen flattern – und schon außer dem Grabe schliefest du sanft.” So beginnt Jean Paul seine „Art Idylle” vom „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal”. Ulla Berkéwicz, die Frau des Verlegers Siegfried Unseld, hat sich in ihrem neuen Buch „Überlebnis” dafür entschieden, ein anderes Sterben, das „des Mannes”, ihres Mannes, zu beschreiben, das weder sanft noch meerstille war, sondern das weit eher zu Zeiten ein Taifun, und auch, wenn sich der Sturm in der letzten Phase beruhigte, ein Meer von Blut, Schweiß und Tränen war. Sie schreibt dieses Buch nicht, als die Tücher im Sterbezimmer noch warm sind, sie wartet, nimmt Abstand, versucht Abstand zu nehmen, aber auch, wenn Jahre vergangen sind seit diesem Sterben, so wird es schreibend vergegenwärtigt, als ob es gerade geschehen sei – Distanz ist das Letzte, was man diesem Text bescheinigen möchte.
Der leitmotivisch abgewandelte Introitus jedes Kapitels ist die „Angst”, die Angst „zu vergessen. Vergessen ist verlieren, ist Verlorensein.” Die Erzählerin ist seit Kindertagen mit Tod, mit Sterben vertraut; der Vater ist Arzt, und an seiner Hand tanzt sie in die Sterbezimmer hinein, singt für die „Sterber” – und so singt sie für „den Mann” ihren Gesang einfach weiter. Die Großmutter hat ihr raunend von einem Spalt erzählt, der sich auftue, wenn einer stirbt; durch diesen Spalt gehe der Sterber in ein anderes Land, nach „Belavodje”, in dessen Garten schon die Kinder ihre Seelen zum Schlafen hinschicken. Im Apfelbaum des Gartens der Kindheit tut sich dieser Spalt auf, und er tut sich auf, als der Mann stirbt. Da jüdische Traditionen in diesem Buch eine so große Rolle spielen, wird man an die „Kerija” denken dürfen, an das Einreißen der Kleider zum Zeichen der trauernden Verzweiflung über das dem Herzen entrissene Leben – was bedeuten demgegenüber die Kleidung für den Körper, die Zierde für den Leib?
Die Kindheitspassagen am Beginn des Buches haben ihren eigenen Zauber, mit dem Igel Alexander, dessen Leben, Lieben und Sterben das Kind beobachtet, mit dem Froschkönig Klaus, dem sie die Freiheit wiedergeben muss, weil Menschen- und Froschwelt nicht zusammenkommen können. Schon das Kind will wissen, was es mit dem „Todesleben” auf sich hat, sie geht zum Theater, aber findet dort bei den „Narrenspielern und Schmieranten” nicht die richtigen Antworten auf ihre Fragen. Sie findet diese Antworten erst im Schreiben und auch im Lesen der Menschheitsbücher, im „Rigveda”, bei den Orphikern und vor allem in der Kabbala. In kursiv gesetzten Interludien versucht Ulla Berkéwicz, das Wissen, das sie sich angeeignet hat, dem Leser andeutend zu vermitteln. Das will nicht wirklich gelingen, gerät in die Nähe von Bildungsgeraune, dem durch die Kürze des schmalen Buches die Luft fehlt, um sich auszubreiten und Wirksamkeit zu entfalten, bleibt mehr Lektüreempfehlung als verarbeitetes Material.
Ein Wunderheiler
Gestalten drängen heran, manchmal ist der Leser unsicher, ob sie erfunden oder nach der Natur porträtiert sind, er soll es wohl bleiben. Hinter John und Merce sind Cage und Cunningham zu erkennen, hinter dem Dichterfreund Kopernikus Wolfgang Koeppen, hinter Felsenstein schon unschwerer Walter Felsenstein, mit dem Berkéwicz als junge Schauspielerin gearbeitet hat. Die erste Gestalt, die deutlicher sich herausschält, ist die (keineswegs erfundene) des jungen russischen Wunderheilers Arcadyi Beliavtsev, der die Balance-Therapie begründet hat, mit ihr für Opfer von Tschernobyl sich einsetzte, und den die Erzählerin in Amsterdam besucht, „dreißig Jahre alt, Arzt, Kabbalist, ein Wunderchen, das schon mit neun im fernsten Schamanenaltai Heilkräuter gesucht und schon mit vierundzwanzig das Krankenhaus am großen Tor von Kiew geleitet hatte, Alik, Alka, Alika, Arkascha, ein Russenmärchen, ein Waldgesicht”.
Die Schilderung seines jungen Sterbens ist ein Höhepunkt des Buches, das Probestück für die Schilderung des Sterbens jenes Menschen, der ihr noch näher steht, nicht als Ouvertüre komponiert, sondern immer wieder eingestreut. Wie sich der Atem Alikas aus dem Sterbezimmer immer lauter durch das offene Fenster in den Garten zieht, wie das Stöhnen der Trauernden antwortet, wie sich eine merkwürdige Katze einmischt, die „Haluzinazie” genannt wird, weil der Sterbende sie auch sieht, wenn sie nicht da ist, das hat verwirrende Beschwörungskraft.
Dann aber der zweite Satz dieser Trauermusik, der erste Akt des Sterbens, der Mann auf der Intensivstation. Das Buch ist in der Tat musikalisch gefügt, der Begriff des Requiems liegt auf der Hand. Ulla Berkéwicz hat ein Requiem komponiert für den Mann, und dieser zweite Satz ist der erste von zweien, in denen sein Sterben evoziert wird. Der Mann überlebt die Intensivstation und kann noch einmal nach Hause gebracht werden. Dass er das Krankenhaus überlebt, ist das reinste Wunder, denn gegen das, was hier geschildert wird, ist die Anstalt des Dr. Caligari die reinste Schwarzwaldklinik. Ein überforderter Arzt heißt Martrer, eine finnische Oberschwester ist das reinste medizynische Flintenweib, der für den Mann wichtigste Pfleger ist ein Skinhead, kurz „Fascho” genannt – es entwickelt sich eine Szenerie, die an den Vorhof der Hölle gemahnt. Das Personal äußert sich nicht auf menschliche Weise, es wird nur geplärrt, gezischt, geschnarrt, die verstörte Erzählerin wird gerempelt, getreten, beiseite gedrängt, sogar mit einer Spritze gestochen. Das mag alles so vorgefallen sein, aber in diesem atemlosen Presto furioso verkümmern die sogenannten Helfer zu karikaturesken Chargen, an denen Otto Dix und George Grosz ihre Freude haben könnten. Gewiss ist dies ein Requiem, aber nicht das versonnene von Mozart oder das milde vom jungen Brahms, sondern das von Verdi, neu instrumentiert von Berlioz, überinstrumentiert, wie man sagen muss, ultrahocherhitzt und dadurch an Wirkung verlierend. Die Pauken rollen gewitterartig, die Streicher wimmern, die Posaunen glissandieren. Man möchte eigentlich anschließend sogleich den Roman einer Palliativstation lesen, die es ja doch auch gibt, ruhig, zugewandt, menschenwürdig und sterbefreundlich.
Aber damit ist „Überlebnis” glücklicherweise nicht zu Ende. Der dritte Abschnitt des Requiems ist das lange Sterben des Mannes zu Hause. Es ist keineswegs ein mildes Sterben; wenn das Krankenhaus der Mond war, so ist das Zuhause der Mars, wird gesagt. Dieses Sterben ist peinvoll, ekelerregend, aber doch vermag es die Erzählung, ihm eine Art moribunder Würde zu verleihen. Der Mann sitzt stundenlang am Telefon, wählt nicht, hört in den Hörer hinein. Telefonieren ist leicht, sagt er dann, die Verbindung stelle sich einfach her. Oder auch: „Wenn’s hier zu wund wird, gehn wir.” Und als sie einen kranken Pfleger nach Hause schicken will, wegen der Ansteckungsgefahr, sagt der Sterbende: „Anstecken kann man mich nicht mehr, ich bin ja schon verbrannt.” Rätsel- und würdevoll zugleich sind die Worte, zu denen er gerade noch findet, und die Erzählerin findet auch für sich die angemessenen Worte: „Dann essen wir noch einmal, hören, sehn uns noch, graben, pflanzen uns einander ein. Und während ich seinen Takt fassen will und seine Tonart halten und wir in eine Tränenruhe sinken, legt er die Spur zum Spalt.”
Man merkt: „Überlebnis” scheut den hohen, den höchsten Ton nicht, sucht ihn geradezu, mitunter auf unbestreitbar forcierte Weise. Dieser Text ohne Genrebezeichnung ist kein Roman, eher ein Prosagedicht, mit den Kennzeichen einer symphonischen Totenrede. Sucht man die realistisch-psychologische Darstellung eines solchen Geschehens, dann wird man mit diesem Text nicht zu Rande kommen, sondern sollte zum frühen Meisterwerk Arthur Schnitzlers greifen, das „Sterben” heißt. „Doch nicht erklang mir würdige Klage, des höchsten Helden wert” – hochfahrender hat kaum eine Brünnhilde ihrem Siegfried den Grabgesang angestimmt, als es Ulla Berkéwicz hier tut. Ihr Buch macht es dem Leser nicht bequem, es zwingt ihn zum Kopfschütteln, es mag ihn unangenehm berühren, es befremdet, aber es bewegt auch, es verwundert, es ärgert, es zieht an, es stößt ab, aber es lässt ihn nicht unbeteiligt. Von den zweihundertachtundachtzig Funken, die in Isaak Lurias orthodoxer Kabbala sich beim Bruch der Gefäße mit deren Partikeln nach unten stürzen, hat Ulla Berkéwicz einen aufzufangen versucht. Sie hat sich dabei die Schreibhand gehörig angesengt, aber dem schonungslosen Mut des Zugriffs wird man seine Achtung nicht versagen können. JENS MALTE FISCHER
ULLA BERKÉWICZ: Überlebnis. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 139 Seiten, 14,80 Euro.
Suhrkamp-Chefin, Schauspielerin und Autorin: Ulla Berkéwicz stellt neben einer weißen Lilie ihr Buch in Berlin vor. Foto: Tim Brakemeier/dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2008

Die Dunkle

Den Schleier der alten Suhrkamp-Kultur zerreißen: Ulla Berkéwicz beerdigt ihren Mann Siegfried Unseld ein zweites Mal und macht damit Platz für eine dritte Wissenskultur - ein Buch voller Mitleid, Wut, Sarkasmus, Hoffnung, greller Schwärmerei.

Von Ingeborg Harms

Weil die Trauer eher stumm macht, gab es in südlichen Regionen Klageweiber. Sie verliehen dem Schmerz der Hinterbliebenen theatralisch eine Form. Weil aber die Witwe des vor sechs Jahren verstorbenen Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld selbst eine Bühnenkünstlerin ist, hat sie die vielstimmige Partie nicht anderen überlassen wollen. Und doch heult in ihrem Buch "Überlebnis" die ganze Suhrkamp-Kultur mit. Durch den hohen Ton, den Ulla Berkéwicz auf hundertneununddreißig Seiten durchhält, geistern die experimentellen Manierismen von Beckett, Gertrude Stein und Peter Weiss, von Heiner Müller, Celan, Kafka, Handke, Bachmann, Brecht und Jelinek. Mit sicherem Gefühl für Rhythmus und Wortfall tankt sie bei Hölderlins seherischen Wenn-Perioden, bei Georges elegischen Dativkonstruktionen und Rilkes allegorischer Süße auf.

Ihr Stil ist delirierend, insistierend, gestelzt, eine barocke Litanei der Vergeblichkeit, der erhabene Monolog einer Tragödin aus dem Holze Sarah Bernhardts. Was den Pastiche der Stimmen zusammenhält, ist der auf dem deutschen Theater in zahllosen modernen Klassikerinszenierungen kultivierte Habitus anrührender weiblicher Kunstlosigkeit, die doch poetische Texte höchster Dosierung im Mund führt: eine pythische Naivität, deren Wurzeln direkt in die idealistische Genieästhetik führen. Die Gründerin eines Verlags der Weltreligionen ist sich der Priesterposition ihres literarischen Alter Egos bewusst. Leitmotivisch ist von einem "Spalt" die Rede, Spalt der Körper, Spalt des Diesseits, um den ihre Sentenzen kreisen. Die Monotonie der Wiederholungen, hypnotische Wortverdichtungen und eine ins Numinose strebende Begrifflichkeit erzeugen eine Atmosphäre der Beschwörung, der kultischen Präsenz.

Beschworen werden das Leiden und die persönliche Größe des nie beim Namen genannten Mannes, aber auch eine literarische Moderne, die spröde und voller Misstrauen gegenüber der Sprache ihr Material unermüdlich auf seinen Wirklichkeitsgehalt hin befragte. Ulla Berkéwiczs polyphoner Alleingang deckt auf, wie viel weiße Magie in diesen Strategien steckte. Liest man "Überlebnis", so glaubt man dem Hausgeist der Frankfurter Lindenstraße zu lauschen, der sich in schweren Träumen wälzt. Wie sehr die Autorin dem Genius Loci gerecht wird, zeigen Einsprengsel jenes Sponti-Jargons, der in den Siebzigern die Hochsprache des Frankfurter Westends unterwanderte. Nicht nur ist der grobschlächtige Pfleger auf der Intensivstation für ihre Heldin ein "Fascho" - ihr Buch, das auf jede Genrebezeichnung verzichtet, kokettiert auch mit entsprechenden Ideen. Fasziniert lauscht die Erzählerin einem befreundeten Autor, der "über die Grenzen des Erzählbaren" in einen Verwertungsboykott "hinausgeritten" ist: ",Du sprichst nichts aus, du schreibst nichts auf', flüstert er mir, ,du lässt das Lassen tun und reitest durch die Räume, die Romane. Eine Art Gegenkapitalismus.'"

Tatsächlich liegt Berkéwiczs Buch eine subversive Theorie der Verschwendung zugrunde, in diesem Fall der Verschwendung des Zorns, von der auch Peter Sloterdijk neuerdings handelt. Die Erzählerin trägt eine Wut im Bauch über Ärzte, die den Patienten entmündigen, im "Sturmschritt" zur Visite aufmarschieren und vor lauter "Herrenmenschentheater" mehr Leid als Linderung bewirken: "Wer ahndet solche Klinikarbeit? Wer zahlt sie heim, wer rächt ein Totgestorbenwordensein?"

Das Herzstück des Buchs ist ein atemraubendes Krankenhauskapitel, eine Tour de force im Geiste der Gottfried Bennschen "Krebsbaracke" mit fulminant orchestriertem Slapstickfinale. Hin und wieder wird die unbotmäßige Gattin des Schwerkranken mit Stößen und Flüchen auf den Balkon verbannt. Dort liegen Kippen, Fuselflaschen, Pornohefte auf angekohlten Plastikstühlen: "Besorgen die sich's hier im Angesicht des Fleisches, das unberührt von ihrer Hand hier strotzt und klafft? Wichsen die an hier draußen gegen alles, was drinnen stinkt und blutet und krepiert?"

Der Zorn gilt auch dem passiven Sadismus des Publikums, das mit Feldstechern in den Nachbarfenstern liegt, als der Kranke heimkehrt. Obwohl der Sommer unerträglich schwül ist, werden die Läden vorgelegt, "gegen den Blick auf das, was metzgert und jeden absticht, der nicht um seinen sechsten, siebten Sinn ringt". Die para- und metaphysischen Sinne sind Früchte der Trauer. Ulla Berkéwicz greift tief in Nietzsches "Geburt der Tragödie", um den Faden zwischen Verschwendung, Theater und Übersinnlichkeit zu spinnen. Die Zeit hält an für ihre Heldin, als sie nach dem Tod des Mannes vom Ehebett aufsteht. Sie behält seine erstarrte Rolex zurück, er nimmt ihre ablaufende Swatch mit ins Grab wie ein Versprechen. Von nun an ist alles für sie Illusion. Sie wird zum apollinischen Spieler einer neuen, auf dem Rausch, der Qual und dem Chaos des dionysischen Abgrunds gegründeten Möglichkeitswelt, so, wie ihre Autorin zum "Spielspieler" einer neuen Suhrkamp-Kultur geworden ist: "Jetzt fürchten sie mich", heißt es in einem der vielen kursiv gesetzten Einschübe, "weil ich die Mächte des Theaters kenne, seine Rituale, sein Sakrament. Weil ich weiß, mit den Mitteln des Theaters, unter Einhaltung seiner alten strengen Gesetze, kann die Wirklichkeit korrigiert werden, abstrahiert, eliminiert."

Die Vorstellung, "dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei", nannte Nietzsche den "Wahn" der Wissenschaft. Doch bei Berkéwicz geht es um eine Gegenkorrektur, um das Opfer des tragischen Helden, durch das die Einbildungskraft von der Fixierung aufs Vorhandene befreit wird. Man kann "Überlebnis" als mythologische Überhöhung eines Trauerfalls lesen, dessen Nachbeben den Schleier der alten Suhrkamp-Kultur zerreißen lässt, der die Lücke zwischen Literatur und Wissenschaft verdeckte. Er macht Platz für die Einsichten einer "dritten Wissenskultur", die von der Verlagschefin im Gespräch mit dieser Zeitung umrissen wurde (F.A.Z. vom 19. April).

In Kybernetik und Teilchenphysik erhofft sie sich Antworten auf jene existentiellen Fragen, die der Tod aufwirft und die eine diesseitige "Angst- und Spaßgesellschaft" nicht länger diskutiert. Es geht um den kühnen Brückenschlag zwischen einer belanglos gewordenen Literatur und einer abstrakt gewordenen Wissenschaft, deren Trennung dazu führt, dass Menschen auf der Intensivstation in ihrer höchsten Not wie Vieh behandelt werden. Es geht um ein mythisch-religiöses Potential, das als Funke in der dualistischen Suhrkamp-Kultur schlummern mag.

Zum Zwecke seiner Befreiung opfert Ulla Berkéwicz nicht nur die Intimsphäre ihres verstorbenen Mannes und schildert sein Siechtum in allen peinvollen Einzelheiten; sie wirft sich mit dem Instinkt, das Richtige zu tun, in ihrer ganzen Tragödinnenhaftigkeit in die Bresche: als Zeichen und Platzhalter für etwas noch ungeformtes Neues, das in der Krise aus dem Unbewussten der Suhrkamp-Archive hervorgehen soll. Was bei Nietzsche dionysische Weisheit hieß, ist in "Überlebnis" eine zwischen Pathos und Bathos navigierende Flammenrede, versetzt mit Lutherischer Kontrastschärfe, kabbalistischen Paradoxen, vedischen Ursprungsmythen, animistischen Spekulationen, jüdischem Witz und Ansätzen zu einem postmodernen Energie-Evangelium.

Wenn an dieser Selbstentäußerung der neuen Verwalterin des deutschen Geistes etwas Obszönes ist, dann ist es die Schamlosigkeit der Baubo, die im griechischen Mythos durch ihre "Mätzchen", wie Berkéwiczs Heldin sagt, Demeters Trauerstarre aufbricht. Ulla Berkéwicz erweist Siegfried Unseld die Ehre, seinen Tod öffentlich wie den der Könige zu machen. Mit literarischen Kriterien ist das Ergebnis nicht zu fassen. Gegenüber dem Tod ist alles erlaubt und Geschmack ohne Bedeutung. Insofern steht das Buch in der Tradition von Tolstois "Tod des Iwan Iljitsch" und Camus' "Der Fall".

Doch Ulla Berkéwicz hat begriffen, dass der Sterbende für alle anderen nichts als ein Spieler ist, der den Tod gibt. Ihr Alter ego übt sich in Mitleid, Wut, Sarkasmus, Hoffnung, greller Schwärmerei. Aber das Ich dieser Witwe bleibt heil. Es behält die "Ferngläser, Büschehocker, Beileidsbesucher", die "Blitzlichter und Beuteblicke" immer im Blick. Es hat keine Zeit für das schleichende Gift der eigenen Vergänglichkeit. Die Titanenkraft des Unseldschen Hausheiligen steht ihr zur Seite. Wie Goethes Faust beim Klang der Osterglocken wird auch sie von der Emotion erlöst: "Mein Widerstand weicht auf, der Hals schwillt zu, die Tränen brechen durch, die Klage staut sich, der Schrei ist stumm, die Maske der Mänade sitzt, die Bühnenphantasie ist grenzenlos."

Nicht nur Faust ist zu Beginn des zweiten Teils der Tragödie verjüngt, auch Ulla Berkéwiczs Heldin taucht anfangs tief in Kindheitserinnerungen ein. Dazu gehört ihre jüdische Großmutter, die mit krummem Finger durch die Gitter des Kinderbetts fährt, um der Enkelin großväterliche Rabbinerweisheit anzuvertrauen. Das ist ein kluger, offensiver Schachzug, um den Gerüchten um die mutmaßliche Hexerei der Suhrkamp-Chefin ein Ende zu machen; er immunisiert auch gegen den ihr gegenüber gern erhobenen Vorwurf der Naivität: Wie das Gitterbett ist das Naive offen für das heute leicht verschmähte älteste Wissen der Mythen. Erinnerte Nietzsche nicht daran, dass bei "Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft"?

- Ulla Berkéwicz: "Überlebnis". Suhrkamp

Verlag, Frankfurt am Main 2008. 139 S., br., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Mit äußerster Skepsis begegnet Rezensent Jörg Magenau Ulla Berkevicz' Buch über den Tod ihres Mannes Siegfried Unseld. Denn er sieht hier sehr unübersichtlich "das Literarische, das Religiöse und das Machtpolitische im Hause Suhrkamp" miteinander verquickt. Fassbar wird dieses Vorgehen für den Rezensenten besonders im Bild der Uhr, die Berkewicz ihrem sterbenden Mann schenkt, als seine eigene Uhr stehen geblieben ist, und die er auch im Grab anbehielt: Es sei, als würde sie damit die Herrschaft über ihn antreten. Ganz davon abgesehen, dass ein Lektorat aus Magenaus Sicht kaum möglich zu sein scheint, wenn die Autorin gleichzeitig die Verlegerin ist. Auch nervt ihn der "raunende, gebetshaft-pathetische Ton", in dem sie den Abschied zelebriert. Die Sätze seien "groß und hohl genug", dass jederzeit auch das Gegenteil hineinfließen könne, merkt er süffisant an. Richtig peinlich findet er, wenn sich Berkewicz mit jesushafter Wunde in der Hand zur Heiligen stilisiert. Auch stören ihn höchst menschliche Unzulänglichkeiten: Für Magenau lässt die Erzählerin jede Form von Takt vermissen. Auch zeige sie eine große Respekt- und Distanzlosigkeit all jenen gegenüber, die nicht Siegfried Unseld oder sie selber sind: "Solche Angehörigen sind der Schrecken der Ärzteschaft", meint Magenau.

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»Das Herzstück des Buches ist ein atemraubendes Krankenhauskapitel, eine Tour de force im Geiste der Gottfried Bennschen 'Krebsbaracke' mit fulminant orchestriertem Slapstickfinale.« Ingeborg Harms Frankfurter Allgemeine Zeitung