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Die knappen Geschichten sind so schnell und plötzlich wie ein Kuss oder ein Niesen. Neben jeder Bildseite mit einem roten Zeichen steht die Fabel dazu. So entfaltet Schuldt Blitzkarrieren, Menschen am Abgrund, Draufgänger, die sich retten, beobachtet mit Witz, aufgezeichnet in mitleidloser Lakonie. Ein längst überfälliges Exercitium in Befindlichkeitsaustreibungen. In New York aus den Vokabeln in Lius Wörterbuch zu befremdlichen Abenteuern zusammengesetzt, erzeugen die ebenso verblüffenden wie behänden Texte ein gestaltreiches Kontinuum von Verwandlungen, einen Atlas unerhörter chinesischer…mehr

Produktbeschreibung
Die knappen Geschichten sind so schnell und plötzlich wie ein Kuss oder ein Niesen. Neben jeder Bildseite mit einem roten Zeichen steht die Fabel dazu. So entfaltet Schuldt Blitzkarrieren, Menschen am Abgrund, Draufgänger, die sich retten, beobachtet mit Witz, aufgezeichnet in mitleidloser Lakonie. Ein längst überfälliges Exercitium in Befindlichkeitsaustreibungen. In New York aus den Vokabeln in Lius Wörterbuch zu befremdlichen Abenteuern zusammengesetzt, erzeugen die ebenso verblüffenden wie behänden Texte ein gestaltreiches Kontinuum von Verwandlungen, einen Atlas unerhörter chinesischer Schönheit. Die Fabeln folgen der chinesischen Vorliebe, sich an den Ähnlichkeiten von Gestalt und Aussehen entlangzuhangeln, von einer Idee zur nächsten, zu verrückten Einfällen und garstigen Überraschungen. Ein Glossar führt den Leser durch den Irrgarten von den Wurzeln vor dreitausend Jahren bis in die Gegenwart der Zeichen.
Autorenporträt
Schuldt, 1941 in Hamburg geboren, ist Verfasser ungewöhnlicher Bücher. Mit seiner Internationalen Ausstellung von nichts erregte er 1960 Aufmerksamkeit bis nach Japan. Seine Bücher ähneln sich nicht, jedes eine gänzlich andere Erfindung. Er machte sich seit den 60er Jahren einen Namen als Performer, Linguist, Lexikalist, Realisateur von Textskulpturen und sprachmusikalischen Kompositionen. In Audio und Bild vereint er abstrakte Komposition mit garstigem Realismus. Er lebt in Hamburg und New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2021

Was lange gärt, wird endlich gut
Nun doch noch fertig: Schuldts famose Fabeln nach lexikalischen Einträgen chinesischer Zeichen

Schreiben macht traurig, Lesen nicht minder, doch wider Erwarten erheitern wir uns bei diesem Buch. Ich denke zurück an Schuldt, jenen geheimnisvollen deutschen Schriftsteller, der weder Vornamen noch Geburtsdatum gern bekannt gibt. Inzwischen kennen wir aber beide: Herbert und 1941.

Ich sehe ihn 1962 durch New York radeln, ich sehe ihn 1987 in Münster verwirrt nach dem Ort seiner Lesung suchen, ich treffe ihn im Bonn der Neunzigerjahre zu Lesungen. Er erklärt mir am Rhein eine transportable Kaffeemaschine mit Stövchen und meinen Liebling Hölderlin, aus dem Englischen rückübersetzt ins Deutsche. Wir stehen auf der Bühne der Bundeskunsthalle und geraten ins Offene der Sprachen, springen von Boot zu Boot, vom Deutschen übers Englische zum Chinesischen.

Schuldt stellte danach sich selbst und dann auch uns vor eine große Aufgabe: chinesisch-englische Lexika zunächst in deutsche und schließlich in chinesische Fabeln zu übertragen. Eine meiner chinesischen Studentinnen erklärte sich bereit, sein deutsches Wunderwerk in ihre Muttersprache zu übersetzen. Publiziert aber wurde dann weder diese noch die deutsche Fassung. Letztere befindet sich heute nach unzähligen vergeblichen Bemühungen des Autors um Realisierung als Buch sehr wahrscheinlich im Archiv der University of Oklahoma in Norman, die meinen Nachlass verwalten wird. Doch jetzt hat mich nach reichlich zwanzig Jahren das vollendete Elaborat erreicht, als hätte ich noch eine Schuldigkeit - wie üblich schuldig - zu erfüllen.

Noch größer als der geniale Titel schaut uns vom schönen Schutzumschlag ein chinesisches Zeichen an. Natürlich wird nicht gesagt, wie es zu lesen sei, der Autor geht rein von der Kraft des Bildes aus. Natürlich weiß ich, wie ein solches zum Sprachlaut zu bringen ist. Wirklich? Habe ich etwa vergessen, dass jedes Zeichen im Chinesischen viele Lesungen parat hält und zusätzlich mindestens vier unterschiedliche Tonhöhen? Ich schlage gehorsam nach, melde nur Aussprache, nicht Ton: ai, Beifuß, Wermut, aber auch yi, Groll. Schuldt hat sich für "die Vogelscheuche" als Thema und für "bitteres Wermutkraut" als vermeintliche Bedeutung entschieden. Das ist eben seine Entscheidung. Eine derartige Einschätzung nimmt er 111-mal vor, um ebenso oft eine aberwitzige Geschichte zu erzählen. Ich bin mit meinem Chinesisch zu Ende. Aber stehe am Anfang meines Denkens.

Ein jedes chinesisches Zeichen, ob Tausende von Jahren alt oder nicht, bietet eine solch reiche Semantik, dass drei Studenten (eigentlich der Theologie) Ende der Sechzigerjahre dachten, wir beträten mit unseren Fibeln aus Leipzig im Seminar der Universität Münster das Zauberschloss eines Zauberlehrers: Aus einem einzigen Schriftzeichen lockte unser erster Dozent 3500 Jahre Geschichte heraus und erzählte Stunde für Stunde Geschichten, auch manche schlüpfrigen, die sich nun bei Schuldt wiederholen. Doch "die Chinesen" waren nie prüde, sie wussten von Beginn an, dass die Sache von Mann und Frau glücklicherweise für beide Seiten sehr glücklich zu sein habe.

Schuldt erzählt nun auf der Basis zweier Lexika, die er Anfang der Sechzigerjahre in New York gefunden hatte, nicht als Schulmeister, sondern als Literat seine amüsanten Geschichten. Diese entnahm er den jeweiligen lexikalischen Einträgen. 111 reichten ihm, eigentlich 109, da zwei Zeichen doppelt erscheinen. Zur damaligen Zeit zählte man gut 50 000 chinesische Schriftzeichen, heute sind es 80 000. Gebräuchliche Lexika kommen mit drei- bis fünftausend davon aus. So führt das Handbuch "Xinhua Zidian" (Zeichenlexikon des Neuen Chinas) circa 3300 Einträge an. Seine weltweite Auflage übertrifft bei Weitem die der Bibel. Als studierter Theologe sage ich das äußerst beschämt.

Schuldt erweist sich bei seinen Fabeln nicht etwa als Wirrkopf, der in die zig Bedeutungen uralter Zeichen hineingreift, sondern er spürt deren Geschichte und damit der chinesischen als der eigentlichen Menschheit - so Schelling - nach. Schon das heute noch gebräuchliche Chinesisch-Deutsche Lexikon von Rüdenberg/Stange (erstmals publiziert 1924) beklagte die vermeintlich willkürliche Aneinanderreihung völlig irrsinniger Bedeutungen von chinesischen "Wörtern" in chinesischen Nachschlagewerken.

Es ergibt nun keinen Sinn, hier als Fachmann in die Keller der Etymologie hinabzusteigen und dort etwa beim Zeichen für "Eins" vier Jahre lang wie die chinesische Gelehrtenschaft zu Beginn eines Lexikons zu verweilen. Schuldt hat vor sechs Jahrzehnten etwas erkannt, das mich erst heute, da mein achtzigstes Lebensjahr ansteht, umtreibt: Wir kommen mit dem "Leben" (sheng, auch das bei ihm vorhanden) an kein Ende, mag es nun in der Übersetzung "Geburt", "neu" oder "fremd" heißen. Seine deutschen "Schichttorten" (auch das ein Eintrag) sind kein höherer Blödsinn, sondern eine Bereicherung der deutschen und der chinesischen Muttersprache. Wir leben daher in einem jeden "gefangenen Wort" (Schuldt), sterben jedoch in keinem einzelnen chinesischen Zeichen, tausendfältig ins Deutsche übertragbar, denn ein jeder einzelner Pinselstrich blieb bislang unsterblich. So lese man denn, wie das antike Chinesisch zum heutigen Deutsch verhilft. Freude ist garantiert.

WOLFGANG KUBIN

Schuldt: "Leben und Sterben in China". 111 Fabeln nach 111 Zeichen.

Matthes & Seitz, Berlin 2021. 293 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Wolfgang Kubin freut sich über dieses späte Buch des Autors namens Schuldt. Wer sich dahinter verbirgt, verrät Kubin und auch, wie das Buch ihn, der sich mit chinesischen Schriftzeichen auskennt, das Staunen lehrt. Schuldts freie, amüsante Behandlung der antiken Zeichen, sein Geschichtenerzählen anhand von zwei gefundenen Lexika versteht Kubin nicht als Lehrstück, sondern als literarisches Unterfangen. Die so entstandenen Fabeln haben laut Kubin allerdings historische Tiefe, wenngleich keine wissenschaftliche, etymologische. Eine Bereicherung der chinesischen wie der deutschen Sprache sind sie für Kubin allemal.

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