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Zorniger hat Andrzej Stasiuk nie über Polen und den Westen geschrieben als nach seiner jüngsten Reise durch Südosteuropa. Zurück aus den "Ländern mit ausgeprägter Persönlichkeit", wo Minarette neben Minen- und Gräberfeldern stehen, stößt er sich an obszönen Widersprüchen im eigenen Land: Nach Märtyrertum dürsten, aber zwischen zwanzig Chipssorten und erschwinglichen Tunesien-Angeboten wählen - wie paßt das zusammen? Sieht Polen nicht längst aus wie ein zurückgebliebenes Deutschland? Bleibt der Südosten deshalb ein nie einzuholendes Ziel, weil den Reisenden dort eine Realität anspringt, die zu…mehr

Produktbeschreibung
Zorniger hat Andrzej Stasiuk nie über Polen und den Westen geschrieben als nach seiner jüngsten Reise durch Südosteuropa. Zurück aus den "Ländern mit ausgeprägter Persönlichkeit", wo Minarette neben Minen- und Gräberfeldern stehen, stößt er sich an obszönen Widersprüchen im eigenen Land: Nach Märtyrertum dürsten, aber zwischen zwanzig Chipssorten und erschwinglichen Tunesien-Angeboten wählen - wie paßt das zusammen? Sieht Polen nicht längst aus wie ein zurückgebliebenes Deutschland? Bleibt der Südosten deshalb ein nie einzuholendes Ziel, weil den Reisenden dort eine Realität anspringt, die zu Hause verdrängt oder neutralisiert ist? Reisebilder und Reflexionen, Rhapsodie und Pamphlet - Andrzej Stasiuk radikalisiert in seinem neuen großen Prosatext seine Kunst des scharfen Blicks und der pointierten Poesie.
Autorenporträt
Stasiuk, AndrzejAndrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband Mury Hebronu (Die Mauer von Hebron), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.1994 erschienen Wiersze milosne i nie (Nicht nur Liebesgedichte), 1995 Opowiesci Galicyjskie (Galizische Erzählungen) und Bialy Kruk (Der weiße Rabe; 1998 bei Rowohlt Berlin), 1996 der Erzählband Przez rzeke (Über den Fluss; diesem Band ist Die Reise entnommen) und 1997 Dukla.2002 erhält er den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis. Den literarischen Jahrespreis Nike erhielt Andrzej Stasiuk 2005 für sein Buch Unterwegs nach Babadag. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint

in 30 Ländern. 2016 wurde er mit dem Staatspreis für europäische Literatur 2016 ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2012

Polen treibt mich fort
Nie war Andrzej Stasiuk bitterer als in seinem „Tagebuch, danach geschrieben“
Liest man die Bücher des polnischen Erzählers Andrzej Stasiuk, lauter kühne Versuche, die Niemandsländer Europas zu erkunden, so fühlt man sich an den Satz von Gabriel García Marquez erinnert, wonach Roman und Reportage Kinder ein- und derselben Mutter seien. Tatsächlich schreibt Stasiuk manchmal Romane, die wie verkappte Reportagen anmuten, und dann wieder Reportagen, in denen sich veritable Romane verbergen. Seine Romane sind stets reich an Fakten, die schlagend von der sozialen, kulturellen Entwicklung in den verlorenen Regionen Europas erzählen, und seine Reportagen verbergen nie den subjektiven Ansatz ihres Verfassers, der weniger über die Welt als über sein Verhältnis zu ihr Auskunft geben will.
Nun hat sich Stasiuk an einem neuen Genre erprobt und ist dennoch bei den Vorzügen von Roman und Reportage geblieben. Allerdings hat man noch nie so viel über die Leidenschaften und Obsessionen dieses Autors erfahren wie in seinem „Tagebuch, danach geschrieben“. Das wohlkomponierte Buch besteht aus drei großen Kapiteln – drei großen Reportagen oder drei kleinen Romanen –, von denen jedes für sich gelesen werden kann und die doch raffiniert aufeinander bezogen sind.
  Im ersten, mit 2005 datierten Kapitel rauscht gewaltig der viel gerühmte Sound Stasiuks auf, der sich rastlos auf eine Reise durch jene Regionen Albaniens macht, die wie archaische Einsprengsel in einer ansonsten längst von der Globalisierung erfassten Welt erscheinen. Er kommt durch Dörfer und Kleinstädte, in denen die Männer den ganzen Tag in Straßencafés herumsitzen. In der Früh „umarmen sie sich und küssen sich, als hätten sie sich weiß Gott wie lange nicht gesehen, dabei haben sie den Abend zuvor in gleicher Besetzung hier gesessen. Nichts ändert sich . . . Sie sitzen in den zerfallenen Orten, zwischen zerstörten Häusern und unterhalten sich.“
  Worüber sie sich unterhalten? Über die Fremde, in der irgendwo Verwandte schuften, um Geld nach Hause zu schicken, und sich danach sehnen, eines Tages in ihr Unglück zurückzukehren und selbst wieder hier zu sitzen. Durch die albanische Provinz schneidet eine sichtbare und riechbare Grenze – hier das private Haus, das von den Frauen in blitzender Sauberkeit gehalten wird, dort der öffentliche Raum, den die Männer in grandioser Verachtung und Selbstverachtung verfallen lassen. Der Kellner kippt die Speisereste, die Zigarettenkippen mit Schwung auf die Straße, an der sein Café steht. So sitzen seine Gäste ihr Lebtag lang „in diesen Kopien von italienischen Zuhälterschuhen, mit diesen schwulen Sonntagsbrillen, am Bordsteinrand und kommen gar nicht auf die Idee, irgendetwas gegen den Gestank zu unternehmen“.
Es ist atemberaubend, wie anschaulich Stasiuk die alltägliche Szenerie einzufangen, wie beklemmend er die Atmosphäre zu vergegenwärtigen weiß. Es ist eine patriarchalische Welt brutaler Männer, die für ihre selbstherrliche Haltung keine materielle Begründung mehr aufzubieten haben, einzig auf die Macht der Traditionen pochen können. Lauter untätige Despoten, die ihre Frauen drangsalieren, untereinander in einer sublimierten Form homophiler Freundschaften verbunden sind und sich mit den billigen, imitierten Insignien von Potenz und Gewalt ausstaffieren. Inmitten von ihnen widerfährt dem Autor etwas Verstörendes: „Ich hatte immer gedacht, ich sei mehr oder weniger, je nach Situation, aber doch ein Mann. Hier nun stieß ich auf eine so radikal männliche Situation, dass ich mich eigentlich als Frau fühlte, zumindest als Eunuch.“
Das zweite Kapitel ist eine Suite über Fremdheit und Glück beim Reisen durch den Osten und Südosten Europas. Es gibt in dieser ausufernden Reiseerzählung keine feste Route, Stasiuk hat aufblitzende Bilder verschiedener Reisen, prägnante Szenen aus Serbien, Montenegro, Mazedonien, Rumänien, Bulgarien montiert, und das verbindende Glied sind dabei seine Gefühle, Wahrnehmungen, Ängste, die mit verschiedenen Orten verbunden sind, aber ähnliche Erlebnisse und Beobachtungen zum Anlass haben: Das Ankommen in namenlosen Ortschaften, abends, im Regen, oder mittags bei sengender Hitze; die Suche nach Hotels, in denen die Wanzen warten und unten, in der Schankstube, die Zecher grölen; das Gefühl, in einer völligen Leere unterwegs zu sein, und das Wissen, dass auch dies, gerade dies „Europa“ ist; die unauflösbare Ambivalenz, mit der Stasiuk durch diese Länder fährt, immer wieder zu ihnen zurückkehrt, diese Ambivalenz von rätselhafter Faszination und verständlicher Abstoßung.
Das dritte Kapitel, schmal und als kreisender Monolog angelegt, den der Autor mit sich und dem führt, was er von seinem polnischen „Vaterland“ in sich trägt, ist eine leidenschaftliche Abrechnung mit diesem Land, mit Polen. Stasiuk fragt sich, was es denn eigentlich sei, das ihn seit Jahren immer wieder aufbrechen lässt, aus dem Kaff Wolowiec, wo er mit seiner Frau Monika Snajdermann zurückgezogen lebt und den vielleicht interessantesten Verlag Polens leitet.
  Warum macht er sich, fast zwangsweise, von einem Tag auf den anderen auf den Weg nach Siebenbürgen oder in das Kosovo, in die Wälder der Karpaten oder an die zubetonierten Küsten Bulgariens? Die erstaunliche Antwort, die er gibt: Es ist Polen, das ihn forttreibt. „Darauf beruht der Patriotismus: dass man jederzeit wegfahren und sich den Schatten der Heimat von weitem ansehen kann.“ Dieser Schatten holt ihn immer wieder ein, Stasiuk zieht ihn gewissermaßen hinter sich her, und wo immer er innehält und sich umdreht, sieht er ihn, den Schatten des Landes, in dem er geboren wurde und lebt.
  In den verarmten, teils verödeten Regionen Europas findet er etwas, dem er nicht einfach huldigen möchte, das ihn aber die krude Modernisierung, die seine Heimat ergriffen hat, umso hässlicher erscheinen lässt. Vehement verwirft Stasiuk, der in der kommunistischen Ära im Gefängnis saß, den Common Sense, wonach im Kommunismus alles „grau“ gewesen sei. Das Leben, schreibt er höhnisch, „war grau und einen Scheiß wert, weil es keine zwanzig Sorten Chips und keinen für allen erschwinglichen Tunesien-Urlaub gab“. Stasiuk fährt durch Länder, die in ihrer Geschichte immer von größeren Mächten drangsaliert wurden, die aber daraus keine Ideologie des nationalen Märtyrertums gekeltert haben. Dagegen geißelt er Polen, „mein Vaterland“, in dem um „unsere Größe, unsere Außergewöhnlichkeit, unsere Unsterblichkeit“ ein Kult gemacht wird, der Kult des ewigen Märtyrertums zu Ehren Christi und der nationalen Liturgie.
Stasiuk fährt durch Polen und ist angewidert von diesem nationalen Hang, es sich im Status des ewigen Opfers gemütlich einzurichten. Überall stößt er auf Zeichen dieses Wunsches, als Opfer zu gelten, ja, als Märtyrer unterzugehen. Noch für die jungen Leute, die mit ihren aufheulenden Motorrädern durch die Innenstädte rasen, gilt ihm: „Wenn es keine Kriege gibt, sterben sie eben auf dem Motorrad.“
  Während sich in Polen alles ändert und sich überall das Gerümpel der Kulturindustrie türmt, bleibt die Strategie, sich ins alte Polentum zu flüchten, stets die gleiche. Dem setzt Stasiuk jenes Europa an den räudigen Rändern entgegen, in denen zwar seit Menschengedenken jeder Aufbruch misslingt, aber niemand daran denkt, sich deswegen einen Adel des Scheiterns zuzusprechen. Nie war Stasiuk in seinen Beobachtungen genauer, nie in seinem Urteil bitterer als in seinem „Tagebuch, danach geschrieben“.
KARL-MARKUS GAUSS
Wenn es keine Kriege
gibt, sterben sie
eben auf dem Motorrad
Unterwegs in Serbien, Montenegro, Rumänien: Andrzej Stasiuk.
FOTO: ANITA SCHIFFER-FUCHS
  
  
  
  
Andrzej Stasiuk: Tagebuch, danach geschrieben. Aus dem Polnischen übersetzt von Olaf Kühl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 175 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Karl-Markus Gauß schätzt diesen Autor für seine Fähigkeit, die Verbindungen zwischen Roman und Reportage immer wieder fruchtbar zu machen. So auch in diesem Tagebuch, das Andrzej Stasiuk in drei Kapiteln, oder auch drei Romanen beziehungsweise drei Reportagen, wie Gauß hinzufügt, durch Albanien, durch Überlegungen zum Reisen durch den Südosten Europas und Gedanken zu seiner Heimat Polen führt. Verbunden sieht der Rezensent die drei Teile durch den berühmten Stasiuk-Sound, durch die Gefühle, Wahrnehmungen und Ängste des Autors sowie durch die damit einhergehende Anschaulichkeit der geschilderten Menschen, Orte und Begebenheiten. Was den Band für Gauß aber über alles bisher vom Autor Erschienene hinaushebt, ist eine Genauigkeit der Beobachtung und eine Bitterkeit des Urteils, die Gauß von Stasiuk so noch nicht kannte.

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