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At first glance, the category of 'sincerity' has little in common with 17th century culture. On the contrary, the desire to break with the aesthetic conventions and the artificiality of semiotic systems is regarded as a characteristic of the subsequent historical epoch - the Enlightenment - and its vehement efforts to set itself off from the Baroque. The book relativizes the incisive nature of this distinction in the history of ideas by inquiring into the forms and strategies of the authentic, the natural, and the straightforward in the literature, the arts, the behavioural doctrines, and the…mehr

Produktbeschreibung
At first glance, the category of 'sincerity' has little in common with 17th century culture. On the contrary, the desire to break with the aesthetic conventions and the artificiality of semiotic systems is regarded as a characteristic of the subsequent historical epoch - the Enlightenment - and its vehement efforts to set itself off from the Baroque. The book relativizes the incisive nature of this distinction in the history of ideas by inquiring into the forms and strategies of the authentic, the natural, and the straightforward in the literature, the arts, the behavioural doctrines, and the cultural history of the early modern age.
Auf den ersten Blick hat die Kategorie 'Aufrichtigkeit' mit der Kultur des 17. Jahrhunderts wenig gemein. Im Gegenteil, der Wunsch, die ästhetischen Konventionen und die Künstlichkeit der Zeichensysteme zu verlassen, gilt als Charakteristikum der historisch anschließenden Epoche, die sich vom Barock vehement abzuheben suchte: der Aufklärung. Das Buch relativiert diese geistesgeschichtliche Trennung, indem es nach Formen und Strategien des Authentischen, Natürlichen und Unverstellten in der Literatur und den Künsten, in Verhaltenslehren und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit fragt. Im Zentrum stehen die religiösen und theologischen Dimensionen der Aufrichtigkeit, die sakrale und weltliche Rhetorik, die Verhaltensformen der Unverstelltheit, die Spezifik 'teutscher' Redlichkeit sowie die Funktionen der Aufrichtigkeit in den Wissenschaften und Künsten der Frühen Neuzeit.

Mit Beiträgen von Wilfried Barner, Claudia Benthien, Thomas Borgstedt, Miroslawa Czarnecka, Lutz Danneberg, Klaus Garber, Nicola Kaminski, Heidrun Kugeler, Ursula Kundert, Steffen Martus, Marie-Thérèse Mourey, Dirk Niefanger, Ernst Osterkamp, Gerhild Scholz-Williams, Johann Anselm Steiger, Ingo Stöckmann und Stephanie Wodianka.
Autorenporträt
Steffen Martus, geb. 1968, Studium der Germanistik, Philosophie, Soziologie und Politologie in Regensburg und Berlin, 1998 Promotion, Wiss. Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen zur Sprachtheorie im 17. Jahrhundert und zur Dramengeschichte der Aufklärung sowie zu Hagedorn, Gellert, Wieland und Goethe.

Claudia Benthien ist Professorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Gender-Forschung an der Universität Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2006

Je künstlicher, desto natürlicher
Claudia Benthien und Steffen Martus stellen die Aufrichtigkeit bloß

Der Mensch als "animal dissimulans", als zur absichtlichen Verstellung begabtes Tier, steht in den Kulturwissenschaften derzeit hoch im Kurs. Philosophiegeschichtlich gesehen, entspringt diese Kreatur einer Kreuzung aus "animal sociale" und "animal rationale", wobei es von beiden Seiten die moralisch dubiosen Eigenschaften geerbt hat. Es fühlt sich zur Gemeinschaft hingezogen, um seine Mitmenschen zu hintergehen, und es setzt auf seinen kühlen Verstand, um zu manipulieren, ohne selbst manipuliert zu werden. Helmuth Plessner hat dies in seinem Klassiker "Grenzen der Gemeinschaft" an den Beispielen von Takt und Diplomatie untersucht. Demnach setzt sich die Natürlichkeit des gesellschaftlichen Lebens aus der Künstlichkeit ihrer Formen zusammen, die Natur des Menschen besteht geradezu in dieser Fähigkeit zur Künstlichkeit, das Postulat der Aufrichtigkeit erledigt sich bei Plessner insoweit von selbst.

Folgt man dieser anthropologischen Lehre, so ist der Höhepunkt der "Menschlichkeit" mit jenen Virtuosen der Verstellung erreicht, die wahrhaftiger wirken als die gehorsamen Diener der Wahrheit. Diesen Erfindern der Wirklichkeit hat der Literaturwissenschaftler Peter von Matt kürzlich in seiner vielbeachteten Studie über die "Intrige" höchste zivilisatorische Weihen verliehen. In ihnen, den grandiosen Schurken à la Richard III., sieht er die heimlichen Agenten des kulturellen Fortschritts, weil sie spezifische Fähigkeiten des Menschen wie Berechnung, Einfühlungsvermögen und Selbstkontrolle zur Vollkommenheit führten.

Als Komplementärstück zu von Matts Werk kann man den Band über die Kunst der Aufrichtigkeit im siebzehnten Jahrhundert betrachten, den Claudia Benthien und Steffen Martus herausgeben. Schon die Rede von der Aufrichtigkeit als einer Kunst verweist auf einen doppelten Boden. Diesen bestimmen die Autoren aber nicht in von Matts zivilisatorischem Prinzip "dissimulo ergo sum", sondern in der diskurstheoretischen Einsicht, daß die "nackte Wahrheit" stets in rhetorischer Gewandung erscheint. Kategorien wie Aufrichtigkeit und Unredlichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit sind Produkte sprachlicher Konventionen und von diesen nicht zu trennen. Anders gesagt: Um als lautere Seele zu gelten, muß man zuerst gewisse rhetorische Praktiken beherrschen, am besten solche, die ihre rhetorische Beschaffenheit sogleich verschleiern. Die Wissenschaftssprache ist dafür ein besonders erfolgreiches Beispiel.

Zu den großen Verdiensten des Buches zählt, daß Benthien und Martus mit ihren theoretischen Vorüberlegungen zur Umkehr eines hartnäckigen Fortschrittsmythos beitragen, der von Aufklärern lanciert, von Romantikern popularisiert und von Literaturwissenschaftlern bis in die Nachkriegszeit repetiert worden ist. Dieser lautet, die Literatur sei im siebzehnten Jahrhundert unter dem Einfluß der höfischen Intrigenkultur zu einem formalistischen Blendwerk verkommen und habe erst im achtzehnten Jahrhundert dank unverformter Originalgenies zur "Echtheit des Gefühls" und "Wahrhaftigkeit des Ausdrucks" zurückgefunden.

Die Herausgeber lassen diesen heißgeliebten Gedanken kühl ins Leere laufen. Sie setzen entgegen, daß die Aufklärer ihr Privileg der Aufrichtigkeit mit einer umfassenden Verdrängung der mit ihr verbundenen Probleme erkauft hätten, während barocke Autoren diese Probleme nicht nur zur Sprache gebracht, sondern die Vor- und Nachteile aufrichtigen Verhaltens realitätsgerechter untersucht hätten. Diesem Urteil kann man sich nur anschließen, ja, man muß es sogar auf das sechzehnte Jahrhundert ausweiten, wenn man etwa Baldassare Castigliones Ideal der "sprezzatura", der aus verhüllter Kunstfertigkeit gewonnenen Natürlichkeit des Hofmanns, mit dem Wahrhaftigkeitsgestus jener empfindsamen Gemüter vergleicht, die sich und ihre Helden unter der Maxime "Wahrhaftigkeit, Wahrhaftigkeit!" ständig in Tränen ausbrechen und in Ohnmacht fallen ließen.

Der Band versammelt Beiträge von Theologen, Philosophen, Historikern und Literaturwissenschaftlern, die dem Problem der Aufrichtigkeit in unterschiedlichsten Kontexten nachgehen. Besonders ergiebig sind etwa Heidrun Kugelers Ausführungen zur Diplomatie, einem gegenwärtig intensiv beackerten Forschungsfeld, auf dem man die Komplexitätssteigerung frühneuzeitlicher Verhaltensregeln hervorragend beobachten kann. Kugeler veranschaulicht diesen Vorgang anhand der Abfolge dreier Idealtypen des frühneuzeitlichen Diplomaten, die sie zeitgenössischen Traktaten über den "perfekten Botschafter" entnimmt: Sei der Gesandte im Spätmittelalter dem idealen Fürsten und in der Renaissance dem vollendeten humanistischen Redner nachgezeichnet worden, so habe sich im siebzehnten Jahrhundert der moralisch ambivalentere Typ des höfischen Virtuosen als ehrenwertesten aller Schauspieler durchgesetzt.

Dessen Aufgabe sei einer Gratwanderung gleichgekommen: Um die Interessen seines Herrn durchzusetzen, habe er sich verstellen müssen; um als Verhandlungspartner Erfolg zu haben, habe er glaubwürdig wirken müssen. Für diesen Balanceakt stand ihm eine hochritualisierte Rhetorik zur Verfügung, die das ständige Bekenntnis zur Aufrichtigkeit mit wolkigen Formeln und gut getarnten semantischen Fallstricken verband. Beiträge wie diese sind eine Lektüre für Durchblicker.

CASPAR HIRSCHI

"Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert". Herausgegeben von Claudia Benthien und Steffen Martus. Niemeyer Verlag, Tübingen 2006. 373 S., geb., 112,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main KTX: Fanden wir im achtzehnten Jahrhundert zur Echtheit des Gefühls zurück? Dieses Buch kippt einen Fortschrittsmythos, der von Aufklärern lanciert, von Romantikern popularisiert und von Literaturwissenschaftlern in die Gegenwart getragen wurde.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine "Lektüre für Durchblicker" nennt Caspar Hirschi den ein oder anderen Beitrag dieses von Claudia Benthien und Steffen Martus herausgegebenen Sammelbandes zur "Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert". Er liest die theologischen, philosophischen, geschichts- und literaturwissenschaftlichen Texte als Ergänzung zu Peter von Matts Studie über die "Intrige". Gern folgt er dem Vorschlag einer sprachkritischen Begegnung der Kategorien "Aufrichtigkeit" und "Unredlichkeit" im wissenschaftlichen Diskurs und ist den Herausgebern dankbar für die Grundlegung einer Revision des Theorems, wonach die literarische Aufklärung aufrichtig, das Barock jedoch formalistisch verformt gewesen sei. Einen sich dem Thema über das Forschungsfeld der Diplomatie nähernden Beitrag hebt Hirschi besonders hervor. Hier ließe sich die Komplexität frühneuzeitlicher Verhaltensregeln besonders gut untersuchen.

© Perlentaucher Medien GmbH