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Bekannte sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte des Aufklärers und Theologen Johann Peter Hebel.Schon Walter Benjamin, einer der großen Interpreten Johann Peter Hebels, forderte 1926 eine Gesamtausgabe des aufgeklärten Humanisten. Die letzte umfangreiche Ausgabe von 1838 bietet ein nur sehr eingeschränktes Bild vom Dichter der »Allemannischen Gedichte« (1803) und des »Schatzkästleins des rheinischen Hausfreunds« (1811). Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann legen nun erstmals eine Gesamtausgabe der Werke vor und rücken den Dichter in das Licht, das ihm endlich…mehr

Produktbeschreibung
Bekannte sowie zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte des Aufklärers und Theologen Johann Peter Hebel.Schon Walter Benjamin, einer der großen Interpreten Johann Peter Hebels, forderte 1926 eine Gesamtausgabe des aufgeklärten Humanisten. Die letzte umfangreiche Ausgabe von 1838 bietet ein nur sehr eingeschränktes Bild vom Dichter der »Allemannischen Gedichte« (1803) und des »Schatzkästleins des rheinischen Hausfreunds« (1811). Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann legen nun erstmals eine Gesamtausgabe der Werke vor und rücken den Dichter in das Licht, das ihm endlich gebührt.Johann Peter Hebel, 1760 geboren, war als Theologe ein Aufklärer, der seine Dichtungen dazu nutzte, die gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit offenzulegen und durchschaubar zu machen. Ein »Handorakel der Lebensklugheit für kleine Leute« sei sein Werk, konstatierte Ernst Bloch. Hebel selbst war ein »Hausfreund« im konkreten Sinn und einer der großartigsten Erzähler der Weltliteratur zugleich - Vorbild für Tolstoi, Kafka oder Brecht.Die sechsbändige Studienausgabe erschließt - neben den bekannten Texten Hebels - zahlreiche unveröffentlichte und unbekannte Schriften, die den immensen Umfang des gesamten Werks erstmals zugänglich machen. Die gewählte Chronologie der Präsentation, orientiert an den Erstdrucken, stellt die Werke in ihren historischen Kontext und kommentiert die zum Verständnis notwendigen Fakten und Bezüge. Das große Brief-Konvolut der Jahre 1784 bis 1826 ermöglicht einen Einblick in die persönlichen Lebensumstände des ersten Prälaten der Evangelischen Landeskirche in Baden und zeigt Johann Peter Hebel zugleich als einen Meister des schriftlichen Dialogs sowie als gewitzten Dialektiker.
Autorenporträt
Johann Peter Hebel (1760-1826) war ein deutscher Schriftsteller, Theologe und Pädagoge. Zu seinen bekanntesten Werken gehört das »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds« (1811).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2019

Was das Auge niemals sah

Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten: Die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels öffnet die Tür zur wilden Gelehrsamkeit.

Eingeweidewürmer sind für das achtzehnte Jahrhundert ein philosophisches Problem. Da sie außerhalb tierischer Körper nicht vorkommen und sterben, wenn man sie aus ihrem natürlichen Lebensraum entfernt, gibt es für ihre Existenz keine andere Erklärung als die, dass ihr "Same den Thieren angebohren sey". Zu diesem Schluss kommt zumindest Marcus Elieser Bloch - der Gelehrtengeschichte besser bekannt als der Begründer der modernen Ichthyologie - in seiner 1782 erschienenen Abhandlung "Von der Erzeugung der Eingeweidewürmer und den Mitteln wider dieselben". Da man im achtzehnten Jahrhundert von Pasteurs Keimtheorie noch nichts ahnt, verwandelt sich somit eine gründlich axiomatische Studie auf dem Feld der Naturkunde in die Hypothese eines vererbbaren Parasitismus: Die Krankheit ist mit uns, in uns, noch ehe wir geboren sind.

Die Merkwürdigkeit dieser Überlegungen verzeichnet ein anderer, nämlich der zweiundzwanzigjährige Hauslehrer Johann Peter Hebel, der Blochs Theorie aus deren ausführlicher Darlegung in den "Gothaischen gelehrten Zeitungen" exzerpiert. Die Würmer finden sich dort, in Hebels erstem Exzerptheft, wieder inmitten von Auszügen aus dem "Magazin fürs Frauenzimmer" (etwa zur Frage, wie man "bei beiden Geschlechtern den Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft erkennen" kann), dicht gefolgt von "Bemerkungen über Japan", Notaten zum Unterricht der Proselyten, über die "erdigen Körper" (zum Beispiel den Meerschaum), zu Otfrid von Weißenburg, zu Alter und Größe der Erde, zu Platons Symposion und zum Erfinder der Schachmaschine.

Wurmgleich frisst sich Hebel in seinem Wissenshunger quer durch den Blätterwald der Aufklärung, ohne Rücksicht auf Fakultäten und Disziplinen. Immer wieder kommt es dabei zu verblüffenden Korrespondenzen: Auf Blochs Eingeweidewürmer folgt eine Reflexion zur Auslegung des ersten Korintherbriefes, in deren Zentrum die Frage nach den Körpern der auferweckten Toten steht. Der Verstand, der die beiden Exzerpte aneinandergefügt hat, gibt sich nicht zu erkennen. Und doch erahnt man ihn hinter den Zeilen: Hier der diesseitige Leib der eingeborenen Schädlinge, dort der jenseitige, "künftige" Leib, der "wirklich vom gegenwärtigen verschiden sein" muss und dessen besondere Qualität "allein in der Unsterblichkeit zu suchen" ist. Zwischen dem Niedersten und dem Höchsten liegt nur ein Gedankensprung, ein Umblättern. Gleich, ob sie sich mit theologischen Grundfragen oder mit der Perspektivenlehre befasst, ob sie Moses Mendelssohns Vorlesungen, entomologische Funde oder den noch unentlarvten Ossian referiert: Immer wird Hebels Schrift getragen von der Überzeugung, dass all das durch eine Wahrheit zusammengehalten wird. Und dass es gar nicht nötig ist, diesen Zusammenhang auszusprechen, sondern sich dieser wie von selbst aus der Überführung der Welt in Worte - gleich welchen Ursprungs - ergibt.

Ansichtig wird uns jenes Kaleidoskop wilder Gelehrsamkeit in der sechsbändigen, von Jan Knopf, Franz Littmann und Hansgeorg Schmidt-Bergmann edierten Ausgabe von Hebels Werken, in deren zweitem Band erstmals das Konvolut der Exzerpthefte vollständig einzusehen ist. Zum Vorschein kommt hierbei zum Ersten die wissensgeschichtliche Unterseite einer in sich gespaltenen intellektuellen Biographie. Hebel, 1760 in Hausen im Wiesental geboren und im Alter von zwölf Jahren als Vollwaise der Obhut der Karlsruher Intelligenzia überstellt, verfehlt sein ihm von der Mutter aufgegebenes Berufsziel der eigenen Pfarrstelle immer wieder. Er scheitert nach oben: Nach einer kurzen Laufbahn als Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch wird er 1798 zum außerordentlichen Professor für dogmatische Theologie und hebräische Sprache ernannt, zehn Jahre später wird er Direktor des Karlsruher Lyceums, 1819 schließlich erster Prälat der Evangelischen Landeskirche, als welcher er die lutherische und die reformierte Kirche Badens fusioniert.

Jene vermeintlich glatte Oberfläche der akademischen Laufbahn, auslaufend in die Existenz eines Kirchenfunktionärs, täuscht darüber hinweg, dass man es hier mit einem Menschen zu tun bekommt, der so weltoffen, aufgeschlossen und neugierig ist wie nur wenige in seiner Epoche. Hebel liest alles. Seine Aufzeichnungen bezeugen eine intensive Kant-Lektüre wie ein gesteigertes Interesse an exotischen Tieren (dem Gyrfalk, dem Ziegenmelker, der Dronte!). Er vermerkt Reiseberichte über die Zustände im gegenwärtigen Spanien wie Fossilienfunde, notiert moralische Fragen (wie die Todesstrafe für Kindsmörder) mit derselben Gleichmut, mit der er Gedichte abschreibt. Hebels Archiv gleicht einem Kuriositätenrausch.

Zum Zweiten aber ist dieser ungeheure Wissensspeicher auch mit jenem Textkorpus verschaltet, mit dem Hebels Name bis heute verbunden und erinnert wird: den Kalendergeschichten, die Hebel ab 1802 zunächst als Mitarbeiter, alsbald als alleiniger Redakteur des Badischen Landkalenders verfasst und 1811 in Auswahl unter dem Titel "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" veröffentlicht hat. Die Herausgeber der neuen Ausgabe haben großen Wert darauf gelegt, Hebels Kalenderbeiträge sowohl in ihrer Gesamtheit nach den Erstdrucken zu edieren, als auch erstmals jene Sachtexte mit aufzunehmen, die etwa die stehenden astrologischen Kalenderrubriken - als eine fortgesetzte "Betrachtung des Weltgebäudes" - kommentierend begleiten. Die Verbindungen von Hebels eigener Lektürepraxis und seiner kalendarischen Wissensvermittlung sind augenfällig. Fortwährend sieht man Hebel angelesenes Detailwissen auserzählen.

Aber was heißt auserzählen? Es ist doch vielmehr die Kunst der Reduktion, die Hebels Poetik ausmacht. Hebel baut ab. Er liest etwa Heinrich Sanders Abhandlung "Zur Geschichte des Eichenspinners", exzerpiert die hieraus gewonnenen neuen Erkenntnisse - und nimmt ihnen sodann als Erstes den Herrschaftsgestus. Das Resultat ist ein Text mit dem Titel "Von den Processions-Raupen" - naturwissenschaftlich präzise in der Beschreibung, aber konsequent im Verzicht auf Ermächtigung. Die Raupen verwandeln sich unter der Hand in Agenten der Moral: "Oft fürchten wir, wo nichts zu fürchten ist, ein andermal sind wir leichtsinnig nahe bei der Gefahr" - so lautet die Lektion. Hat man sie durchlaufen, dann weiß man nicht nur, dass der Stich dieser Tiere "unzählig viele kleine unsichtbare Wunden" reißt. Spürbar wird dadurch auch, "was man auch sonst im menschlichen Leben so oft erfährt, und doch so wenig bedenkt": dass nämlich viele kleine Ursachen ins Große wirken - und dass es mithin leichter ist, "den Schaden zu verhüten, als wieder gut zu machen".

So bleibt in Hebels Kalendergeschichten die Natur - von Fauna und Flora über den Menschen (den man zum Beispiel "in Kälte und Hitze" kennenlernen kann) bis ins Weltall hinauf - stets eine wundersame Größe. Sie ist nicht zu beherrschen, sondern nur in Bezug auf das eigene Leben - mithin: auf das Leben des einzelnen Landkalenderlesers hin - zu verstehen. Jeder Satz in diesen Texten erschafft das Verhältnis zwischen der Welt und ihren Bewohnern neu. Jeder Satz erkundet einen fremden Planeten, macht uns mit dessen Geheimnissen vertraut, ohne uns zuzugestehen, dass wir wirklich schon viel verstanden haben. Hinüberzuschauen in ein "Thal, welches unsre Augen noch nie gesehen haben": Das ist der Grundgestus dieses Erzählens.

In seiner berühmten Rede zur Lörracher Hebelfeier 1956 hat Heidegger jene seltsame Verschränkung von furiosem Weltwissen und erzählerischer Ausnüchterung auf die Formel gebracht, Hebel "verbauere das Universum". Diesseits von allem Bauen und Wohnen liegt die Größe Hebels jedoch vor allem in seiner einzigartigen Fähigkeit, die Poesie gerade in der Beschränkung auf dasjenige zu finden, was zu wissen ist. Nur wenig trennt dabei manche Geschichten von dem, was wir heute eine Agenturmeldung zu nennen pflegen. Nicht einmal zehn Zeilen braucht er, um aus der um ein Jahr verzögerten Explosion eines Blindgängers des britischen Bombardements von Kopenhagen 1807 eine anspruchsvolle Szene zu formen. Stumm ist das Dasein der Granate unter der Erde. Zwei Knaben finden sie. Einer der beiden versucht sie mit einem Nagel zu reinigen. Dann genügt ein einziger Satz, der das Geschoss entzündet, an seinem Ende einen Toten, zwei Verstümmelte und einen ratlosen Säugling hinterlässt. Quintessenz: "Dieß lehrt vorsichtig seyn mit alten Granaden und Bomben-Kugeln." Fertig, alles gesagt - und die Welt für jede Frage offengelassen. Das kann nur Hebel.

Man möchte sich die Zeit nehmen, ganz in dieses Werk einzutauchen: die schon von Goethe früh gerühmten "Allemannischen Gedichte", von denen bis hierhin nicht zu reden natürlich schon eine Sünde für sich gewesen ist, laut zu lesen; den dunklen Irrsinn des "Almanachs des Proteus" zu erkunden; Hebels oft recht grüblerischen Korrespondenzen folgen - oder ganz einfach immer und immer wieder staunend vor dem "Unverhofften Wiedersehen" verweilen. Und wenn man die Zeit denn hätte, so bliebe über all dem am Ende doch jener eine Satz, auf den Hebel beim Sinnieren über Landschaft und Leben der Venus verfallen ist: "So viel man weiß, gerne wüßte man noch mehr."

PHILIPP THEISOHN

Johann Peter Hebel:

"Gesammelte Werke".

Herausgegeben von Jan Knopf u. a. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. Zus. 3712 S., geb., 59,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.12.2019

Bald wird’s wieder Tag
Weltgewandter kann die Provinz nicht werden
als in den Geschichten und Gedichten Johann Peter Hebels
VON THOMAS STEINFELD
Die Bergwerke von Falun liegen in Mittelschweden, weit entfernt von Karlsruhe. Das war zumal im späten 18. Jahrhundert so, als eine Reise von dort nach Basel mit der Kutsche vier Tage beanspruchte und kaum jemand im Badischen wusste, wie es im Norden tatsächlich aussieht. Dennoch wurde eine kleine Erzählung, die von einem Ereignis in diesen Bergwerken berichtet, aber in Karlsruhe aufgeschrieben wurde, zu einer der erfolgreichsten Geschichten der deutschen Literatur. In der Fassung von Johann Peter Hebel, dem alemannischen Dichter und Theologen, umfasst sie nicht einmal drei Druckseiten. In einem lakonischen, man möchte beinahe sagen: für jene Zeit nachrichtlichen Ton erzählt er darin von einem jungen Bergmann, der kurz vor seiner Hochzeit noch einmal in die Grube fährt und darin ums Leben kommt.
Fünfzig Jahre später wird der Leichnam geborgen, durch vitriolhaltiges Wasser vollkommen konserviert. Doch keiner erkennt den Toten, seine Verwandten sind längst gestorben. Da löst sich eine alte Frau aus der Menge und sinkt auf dem Leichnam nieder: Es ist die Verlobte, die allein geblieben war und nun glücklich darüber ist, ihren Bräutigam vor ihrem Tod noch einmal wiederzusehen. Bei seinem Begräbnis erscheint sie im Hochzeitskleid. „Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett“, lauten die letzten Sätze der Geschichte, „und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s wieder Tag.“
Die Wirkung dieser zuerst im Jahr 1811 veröffentlichten Erzählung entsteht auf der einen Seite durch stilistische Verknappung, auf der anderen durch scharfe ideelle Kontraste. Die Jahre gehen in Mittelschweden in großer Gleichmäßigkeit dahin, während sich die große Welt in Aufruhr befindet: „Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugall durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg gieng vorüber …“, heißt es im Original. Die alte Frau, um die Erfüllung ihrer Liebe und in gewisser Weise auch um ihr Leben gebracht, ist glücklich, ihren Verlobten noch einmal zu sehen, und sei es als Toten. Pfarrer Hebel kann auf die Predigt verzichten, indem er die alte Frau schlicht auf einen bald anbrechenden „Tag“ hoffen lässt. Und vor allem: Das Glück der Braut liegt darin, dass sie nicht nur den Bräutigam noch einmal zu sehen bekommt, sondern dass sie ihn jung sieht, so dass die Zeit auch für sie stehen geblieben ist.
Mehrere hundert solcher Geschichten hat Hebel geschrieben, ursprünglich bestimmt für die Veröffentlichung im lutherisch-badischen Landkalender, den herauszugeben zu den Dienstpflichten des Theologen und Gymnasiallehrers gehörte. Nicht alle Geschichten entfalten den literarischen Zauber und die moralische Wucht des „Unverhofften Wiedersehens“. Manche bestehen aus bloßen Nachrichten, die aus der weiten Welt ins Badische drangen, andere sind kaum mehr als Appelle, Ermahnungen, gute Ratschläge, Elemente der Volksbildung. Die meisten Geschichten sind von kalkulierter Schlichtheit (aber nicht alle sind schlicht). Und sie sind, obgleich tief in der Region verwurzelt und von vertrauten Gestalten belebt, alles andere als erbaulich. Ein Aufklärer ist in diesen Geschichten am Werk, doch einer von der bodenständigen, konservativen Sorte.
Eine Gesamtausgabe der Werke Johann Peter Hebels erschien im Jahr 1834, eine umfangreiche Auswahl im Jahr 1961. Seitdem ist das Œuvre nur noch in Teilen erhältlich. Es sind diverse Ausgaben der Kalendergeschichten im Handel, doch ist nur eine Ausgabe der „Allemannischen Gedichte“ lieferbar, über einen Verlag, der sich auf die Reproduktion gemeinfreier Werke spezialisiert hat. Eine kritische Ausgabe ist in Arbeit, wobei ihr zur Vollendung allerdings noch mehrere Bände fehlen. Um so mehr überrascht es, dass nun eine „Lese- und Studienausgabe“ erscheint, in sechs leinengebundenen Bänden und für wenig Geld. Die neue Edition enthält alles, was man kennen sollte, und darüber hinaus noch sehr viel mehr: die Geschichten, die Gedichte (die meisten davon in alemannischer Mundart), die Predigten, die Briefe und so aparte Dinge wie das „Stilbuch“, bestehend aus Texten, die Hebel für seine Schüler verfasste, die sie ins Lateinische zu übertragen hatten.
Sogar den Exzerpten ist nahezu ein ganzer Band gewidmet, was weniger apart ist, als es klingt, weil sich daraus die Arbeitsweise Hebels erschließen lässt. Was aus diesem Reichtum an Materialien hervorgeht, ist das Bild eines längst vergangenen, aber als Wunsch hier und da wohl immer noch vorhandenen Ineinanders von Bürgerlichkeit und literarischer Intelligenz, dessen Voraussetzung eine kleine, nicht nur geografisch, sondern auch sozial und kulturell fest umrissene Region ist. In vielen der Briefe entfaltet sich darüber hinaus ein kluger Witz, der zugleich von Respekt für den Adressaten wie von Vertrautheit kündet.
Ermessen lässt sich das Zusammenwirken von Regionalität, Bürgerlichkeit und Intelligenz an der Bedeutung, die dem Wirtshaus in vielen der Geschichten sowie in einigen Gedichten zukommt: „Jetzt schwenken wir den Hut, / der Wein, der war so gut …“. Die Dorfschenke wäre eine eigene, große Abhandlung wert, denn sie steht für die Gesellschaft, in einem ebenso beschränkten wie tiefen Sinn. Die eigentlichen Adressaten der Geschichten sind die Bauern und Handwerker in den Dörfern und kleinen Städten Südwestdeutschlands, die Menschen, die immer schon dort waren und die kaum etwas anderes kennen als ihre kleine Welt.
Im Wirtshaus aber treffen sie auf eine ungeregelte Außenwelt. Sie tritt auf in Gestalt von Dieben, Räubern, Falschmünzern und Soldaten, Händlern oder reisenden Adligen. Und diese Außenwelt erscheint um so häufiger, als die Gegenden, über die Hebel schreibt, nie weit vom Rhein entfernt liegen. Den großen Strom entlang ziehen die Figuren, die überhaupt erst für die Geschichten sorgen, die danach zu erzählen sind – falls die Erzählstoffe nicht, wie das „Unverhoffte Wiedersehen“, aus einem literarischen Repertoire stammen, das durch Zeitschriften und Bücher den Weg nach Karlsruhe fand. So, wie die Bauern die Diebe und Handelsreisenden brauchten, um zu ihren Geschichten zu kommen, so bedurfte die Heimatdichtung der Zirkulation der gelehrten und höfischen Literatur, um überhaupt entstehen zu können.
Die Heimat allerdings, wie Hebel sie schildert, ist eine von Grund auf prekäre Angelegenheit: Ein Großteil der Geschichten wie der Gedichte handelt von Einbrüchen in eine kleine Welt, von Verstörungen, von plötzlichen Verschiebungen der sozialen und ökonomischen Gewichte. Die Menschen sind ihnen ausgeliefert, zumal dann, wenn es sich um Gewalttaten handelt, die sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Der Grund für diese Verstörungen ist leicht zu ermitteln: Die spätmittelalterliche Ordnung, die über Jahrhunderte Bestand gehabt haben mag, wird aufgebrochen. Das Heilige Römische Reich verschwindet. Mit ihm geht eine Vielzahl kleiner deutscher Staaten dahin, die napoleonischen Kriege ziehen eine erzwungene Modernisierung nach sich, während Baden zu einem großen europäischen Staat wird. Vor diesem Hintergrund muss man die Geschichte von dem jungen Mann lesen, der nach Paris geht, um sich zu einem Mann von Welt ausbilden zu lassen, während daheim nicht nur Haus und Hof, sondern auch die Familie untergeht. Nie ist Hebels Heimat eindeutig vermessenes Gelände. Stets ist sie in Bewegung, und mehr noch: Stets ist sie auch Imagination, und keiner der Beteiligten macht sich Illusionen über ihren halb fiktiven Charakter. Diese Aufgeklärtheit sich selbst gegenüber gilt auch für das Verhältnis zu Frankreich, oder genauer: zum Elsass, das von allem Ressentiment frei zu sein scheint.
Die Kalendergeschichten sind in einer klaren, scheinbar anspruchslosen Sprache verfasst, die zu ihrer Zeit neu war und noch lange nachwirkte, bis hin zu Robert Walser und Franz Kafka, der eine besondere Bewunderung für diese Art der Dichtung hegte. Im Werk stehen den Geschichten die „Allemannischen Gedichte“ gegenüber, die, ausweislich der „Vorrede“, „für Freunde ländlicher Natur und Sitten“ geschrieben sein sollen. Diese Freunde, so ist zu vermuten, sind indessen weniger die Leute auf dem Land, an die sich die Geschichten richten, sondern Gebildete, die, wiederum Idealen der Aufklärung gemäß, ein Interesse am Volkstümlichen und vermeintlich Natürlichen entwickelt hatten.
Ihnen erschien im Dialekt eine Vorstellung von Gemeinschaft und regionaler Bindung, wider das Normierende der Hochsprache, aber doch auf der Höhe einer humanistischen Bildung, mit deren Hilfe sich die Hügel Südbadens zuweilen in Landschaften der griechischen Antike verwanden lassen. Hebels poetische Mundart zeichnet sich dadurch aus, dass sie als universale, in sich völlig ausgebildete Sprache daherkommt. Sie scheint nichts nachzuahmen, der Jargon ist ihr fern, und sie unterscheidet sich etwa von bayrischen Speisekarten auch dadurch, dass sie keine reine Lautumschrift bietet.
Hebels Alemannisch erscheint als ein Art von Gemeineigentum, in dem es in freien Versen genug Raum und Form für jeden Gedanken gibt, der sich überhaupt fassen lässt, unter den Voraussetzungen einer eng umrissenen Region (die nicht Karlsruhe ist, wo Hebel den allergrößten Teil seines erwachsenen Lebens verbrachte, sondern das südbadische Wiesental, in dem er aufgewachsen war). Weltgewandter kann die Provinz nicht werden, woran sich zuletzt die Frage anschließt, ob es überhaupt etwas Urbaneres geben kann als eine gründlich gebildete Provinz. Von Hebel aus betrachtet, wäre diese Frage mit einem entschlossenen „Nein“ zu beantworten.
Johann Peter Hebel: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Herausgegeben von Jan Knopf, Franz Littmann, Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Esther Stern. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 3704 S., 59 Euro.
„Jetzt schwenken wir
den Hut, / der
Wein, der war so gut …“
Nie ist Hebels Heimat
eindeutig vermessenes
Gelände
Oben: Kupferhütte
im Bergwerk von Falun.
Unten: Johann Peter
Hebel (1760-1826).
Fotos: mauritius images / History and Art Collection / Alamy/ imago/Leemage
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»Die Kalendergeschichten und Gedichte, Predigten und Briefe von Johann Peter Hebel laden in einer opulenten, erhellend kommentierten Leseausgabe zum "Unverhofften Wiedersehen" ein.« (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 24.12.2019) »Die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels öffnet die Tür zur wilden Gelehrsamkeit.« (Philipp Theisohn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2019) »Eine Hebel-Ausgabe in diesem Umfang und in dieser Qualität hat es noch nie gegeben.« (Manfred Papst, NZZ am Sonntag, 27.10.2019) Die »sechs Bände (...) sind ein Schatz. Als öffne Johann Peter Hebel mit dieser Leseausgabe sein Inneres.« (Gerwig Epkes, SWR2, 22.12.2019) »Die in lichtem blauen Leinen gebundene Ausgabe setzt naturgemäß Maßstäbe. Der ganze Hebel! Endlich!« (Bettina Schulte, Badische Zeitung, 21.12.2019) »ein Schatzkästlein mit Riesenperlen.« (SonntagsBlick Magazin, 10.11.2019) »Die Ausgabe bietet (...) eine ergiebige Fülle von kompetent erschlossenen Texten, Dokumenten und Zeugnissen (...), die Johann Peter Hebel in helles, bisweilen auch ungewohntes Licht rücken.« (Rüdiger Krohn, Badische Neueste Nachrichten, 06.11.2019) eine »prachtvolle Lese- und Studienausgabe« (Andreas Kohm, Mannheimer Morgen, 19.02.2020) »Das sind wahrlich immerwährende Kalendergeschichten.« (Das Magazin, März 2020) »Es ist gut, dass seine Werke jetzt in der prächtigen und sorgfältig edierten Ausgabe des Verlags Wallstein lieferbar sind.« (Gerhard Henschel, junge Welt, 10.06.2020)