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Der Ursprung der Chimäre ist eine bahnbrechende Studie über die rituellen und bildlichen Überlieferungen derjenigen Völker, die aus der Perspektive einer westlichen Moderne vor allem als »schriftlos« angesehen wurden. Das Buch argumentiert gegen eine wirkmächtige Tradition, die das kulturelle Gedächtnis dieser Völker als ungeordnet und unbeständig einschätzt, weil es auf so flüchtige Medien wie Ornamente, Körperkunst und Masken angewiesen war. Aber wie unterscheiden sich solche Erinnerungsformen tatsächlich von den uns vertrauten?Severis Buch entwirft nichts Geringeres als eine Anthropologie…mehr

Produktbeschreibung
Der Ursprung der Chimäre ist eine bahnbrechende Studie über die rituellen und bildlichen Überlieferungen derjenigen Völker, die aus der Perspektive einer westlichen Moderne vor allem als »schriftlos« angesehen wurden. Das Buch argumentiert gegen eine wirkmächtige Tradition, die das kulturelle Gedächtnis dieser Völker als ungeordnet und unbeständig einschätzt, weil es auf so flüchtige Medien wie Ornamente, Körperkunst und Masken angewiesen war. Aber wie unterscheiden sich solche Erinnerungsformen tatsächlich von den uns vertrauten?Severis Buch entwirft nichts Geringeres als eine Anthropologie des Gedächtnisses und vermisst dabei die Grenzen zwischen oralen und Schriftkulturen gänzlich neu. In faszinierender Weise beschreibt es die Beziehungen zwischen dem narrativen und dem rituellen Sprechen in Gesellschaften, die sich auf das gesprochene Wort stützen und dabei das Erinnerungswürdige von dem unterscheiden, was dem Vergessen anheimzugeben ist. Indem es den Spuren dieser nicht-westlichen Gedächtniskunst folgt, erlaubt uns Severis Buch, auf neue Weise über das Wesen kultureller Unterschiede nachzudenken. Es gibt uns eine Möglichkeit der vergleichenden Untersuchung zurück, die längst verloren gegangen schien: Anthropologie, Geschichte und Ästhetik als Wissenschaften von Imagination und Gedächtnis so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass wir mehr über unser Dasein in der Welt erfahren.
Autorenporträt
Carlo Severi ist Inhaber des Lehrstuhls für die 'Anthropologie des Gedächtnisses' an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris und Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Bei Konstanz University Press erschien zuletzt 'Das Prinzip der Chimäre'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2018

Ein Häuptling reitet durch die Bibel

Wo die Texte fehlten, da stellten sich die Bilder zum Erinnern ein: Carlo Severi beschreibt, wie sich in schriftlosen Kulturen soziales Gedächtnis formiert.

Wer Kulturen vergleicht, läuft rasch Gefahr, binäre Gegensätze aufzurufen. In den Gründungszeiten der Sozialanthropologie wurden "primitive Kulturen" - so etwa 1871 Edward B. Tylor - untersucht, später waren es "Naturvölker" im Gegensatz zu "Kulturvölkern", Entwicklungsländer im Gegensatz zu Hochkulturen, "Naturreligionen" im Gegensatz zu Hochreligionen, schriftlose Kulturen im Gegensatz zu Schrift- und Buchkulturen, geschichtslose Kulturen im Gegensatz zu Kulturen, die über ein soziales Gedächtnis in Gestalt von Texten, Monumenten, Kalendern oder Gesetzen verfügen. In den letzten Jahrzehnten wurden solche Distinktionen - unter Bezug auf Bruno Latour oder Philippe Descola - häufig kritisiert und verworfen; ethnologische Museen haben sich seither umbenannt zu "Weltmuseen".

Gibt es geschichtslose, erinnerungsarme Kulturen? Genau diese Frage untersucht Carlo Severi, Professor für Anthropologie des Gedächtnisses an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales, um sie überzeugend zu verneinen. Sein wegweisendes Buch "La principe de la chimère" (2007) liegt nun in einer vorzüglichen Übersetzung endlich auf Deutsch vor. In ihm folgt Severi den Spuren Aby Warburgs, weniger dessen bekannten Studien zur Renaissance als vielmehr den Aufzeichnungen, die Warburg während einer Reise 1895/96 in die Vereinigten Staaten machte und die ihn auch zu den Hopi-Indianern nach Arizona führte.

Damals war Warburg fasziniert von den Zeichnungen einiger Hopi-Kinder, in denen ein Blitz als eine Art von Himmelsschlange dargestellt wurde; vielleicht erinnerte ihn diese Blitzschlange auch an die bekannte Wolkenschlange, die gelegentlich auf dem Engadiner Maloja-Pass, in der Nähe von Sils Maria, beobachtet werden kann.

Die Blitzschlange verkörpert geradezu das Prinzip der Chimäre, des Mischwesens, benannt nach der griechischen chimaira, die Homer in der Ilias als feuerspeiendes Ungeheuer mit drei Köpfen beschreibt: mit einem Löwenkopf, einem Ziegenkopf im Nacken und einem Schlangenkopf als Schwanz. Eine Typologie solcher Chimären ist freilich für Severi irrelevant; ihm geht es nicht um neue Forschungen zum Monströsen, sondern um chimärische Darstellungen als "Vereinigung heterogener, wenn nicht gar widersprüchlicher Kennzeichen in einem einzigen Bild, die ihm eine spezielle Intensität verleihen und es erinnerbar machen": um die Bildung eines sozialen Gedächtnisses, das im Sinne Warburgs Bilder, Objekte und Ideen in Sequenzen und Geschichten übersetzt. Kurzum, Severi skizziert die Vielfalt visueller Mnemotechniken. Seine These lautet schlicht, dass Bilder und Objekte in den sogenannt schriftlosen Kulturen memorierbare Erzählungen - eine "Bilderschrift" - darstellen.

Severi demonstriert, dass die Kritik an den eingangs erwähnten Distinktionen auch die Kritik an Lessings einflussreichem Versuch einschließt, die Grenzen der Malerei und Poesie mit Hilfe der Begriffe von Raum und Zeit zu klassifizieren (im Laokoon-Traktat von 1766). Den bildenden Künsten sollte damals die Räumlichkeit, der Musik und Poesie die Zeitlichkeit zugeordnet werden; dem Nebeneinander des Augenblicks einer Skulptur sollte das Nacheinander der Klänge und Erzählungen gegenübergestellt werden, der Simultaneität der Bilder die Abfolge und Sukzession der Texte. Schon Platon schien ja diese elementare Differenz anerkannt zu haben, insofern er das Denken als nous - als betrachtende Schau des Allgemeinen und der Ideen - unterschied vom Denken als dianoia, einer sukzessiven Entwicklung von Argumenten und Schlussfolgerungen.

Diese traditionelle These wird nicht allein im Rückgriff auf Warburg, sondern auch in Exkursen zu den nahezu vergessenen Forschungen über die "Biologie der Bilder" und die Evolution der Formen, etwa in den Schriften von Pitt Rivers oder Hjalmar Stolpe, widerlegt.

Das vielgestaltige Material, an dem Severi seine Analysen - nach dem theoretisch grundlegenden ersten Kapitel - entfaltet, entstammt der indianischen Piktographie, beispielsweise den Zeichnungen der "Dakota-Bibel", die der amerikanische Armeearzt Walter James Hoffman um 1872/73 erhalten und später dem deutschen Botschafter in Washington zugesandt hatte, um sie dem Berliner Ethnologischen Museum zur Verfügung zu stellen; Direktor des Museums war damals, im Mai 1894, Adolf Bastian. Diese "Dakota-Bibel" besteht aus siebenundfünfzig Zeichnungen, die zumeist einen reitenden Krieger mit Lanze und Adlerfedernschmuck zeigen; die Zeichnungen wurden nicht auf weißem Hintergrund, sondern auf den gedruckten Seiten eines kleinen Buchs angefertigt, nämlich einer Bibel, die 1866 von der American Bible Society in der Sprache der Dakota publiziert worden war.

Dieses merkwürdige Büchlein repräsentierte, so erläuterte schon Bastian, das spirituelle Testament eines Sioux-Häuptlings, die "Bildgeschichte" seines Lebens, die ihm während eines Bestattungsrituals auf sein Grab gelegt wurde. Die "Dakota-Bibel" wurde zunächst als ein einzigartiges Dokument betrachtet; inzwischen kann sie mit einer ganzen Reihe ähnlicher "Bildautobiographien" verglichen werden. An die detailreiche Kommentierung der "Dakota-Bibel" schließen sich zahlreiche weitere Beispiele an, die Severi kenntnisreich beschreibt und analysiert, bis zu den Apachen-Büßerkulten, die schamanische und messianische Vorstellungen verbinden. Methodisch geht es ihm - in einem transdisziplinären Raum zwischen Kunstgeschichte, Ethnographie, Religionswissenschaft, Archäologie, Soziologie, Psychologie und Medientheorie - um die Verschränkung der Kulturtechniken des Erzählens, Zeichnens, der rituellen Rezitation und Evokation im Dienste sozialer Gedächtnispraktiken.

Das Nachwort zur vorliegenden Übersetzung eines Schlüsselwerks neuerer Kulturanthropologie hat David Graeber verfasst; zu Recht bemerkt er darin, Severis Leistung bestehe darin, schlüssig aufgezeigt zu haben, dass "Imagination ein soziales Phänomen ist, ein Dialog sogar".

THOMAS MACHO.

Carlo Severi: "Das Prinzip der Chimäre". Eine Anthropologie des Gedächtnisses.

A.d. Französischen von Claudia Brede-Konersmann. Konstanz University Press, Göttingen/Konstanz 2018.

390 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sein wegweisendes Buch 'La principe de la chimère' (2007) liegt nun in einer vorzüglichen Übersetzung endlich auf Deutsch vor.« (Thomas Macho, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.2018) »Es ist ein Buch, das die Bedeutung der nichtsprachlichen Mitteilung über Welt und Menschsein wiederentdeckt.« (Notker Gloker, www.kommbuch.com, Januar 2019)