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Seit 1945 griff die katholische Kirche in rascher Folge auf eine Reihe sozialwissenschaftlicher Methoden zurück. Diese sollten dabei helfen, Räume der Entkirchlichung mit neuem missionarischen Eifer zu erfüllen, die Einstellungen der Gläubigen demoskopisch zu beobachten und die kirchliche Organisationsstruktur an veränderte Bedingungen der Seelsorge anzupassen. Gruppendynamische und therapeutische Konzepte eröffneten neue Möglichkeiten für die religiöse Selbstthematisierung des Individuums. Mit Hilfe der Sozialwissenschaften ließen sich Folgen funktionaler Differenzierung als "Säkularisierung"…mehr

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Produktbeschreibung
Seit 1945 griff die katholische Kirche in rascher Folge auf eine Reihe sozialwissenschaftlicher Methoden zurück. Diese sollten dabei helfen, Räume der Entkirchlichung mit neuem missionarischen Eifer zu erfüllen, die Einstellungen der Gläubigen demoskopisch zu beobachten und die kirchliche Organisationsstruktur an veränderte Bedingungen der Seelsorge anzupassen. Gruppendynamische und therapeutische Konzepte eröffneten neue Möglichkeiten für die religiöse Selbstthematisierung des Individuums. Mit Hilfe der Sozialwissenschaften ließen sich Folgen funktionaler Differenzierung als "Säkularisierung" beobachten, ohne dass damit umstandslos eine größere Rationalität des kirchlichen Handelns erreichbar war.

Die Rezeption und praktische Anwendung dieser Methoden in der Kirche ist ein anschauliches Beispiel für die zunehmende "Verwissenschaftlichung des Sozialen". Die Sozialwissenschaften sollten dabei helfen, die Botschaft des Evangeliums auf neue Weise zu verkünden. Doch sie drohten zugleich, den Glauben zu entleeren. Die historische Analyse dieses Prozesses ermöglicht faszinierende Einblicke in die Religions- und Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie ist zugleich eine Kritik allzu glatt geratener Erfolgsgeschichten der Bundesrepublik, und interpretiert diese vielmehr als eine Periode "gefährlicher Modernität".
Autorenporträt
Dr. Benjamin Ziemann ist Professor für Modern German History am Department of History der University of Sheffield.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.07.2008

Schuld und Sühne
Die Veränderung der Kirche durch die Sozialwissenschaften
Von „Vertrauen” war auf einmal die Rede, von der Rücksicht auf den „seelischen Innenraum” und den Verzicht auf „jede autoritäre Haltung”. Als katholische Pastoralpsychologen Mitte der 70er Jahre über die Zukunft der Beichte sprachen, waren die klassischen Kategorien von „Schuld” und „Sühne” aus dem Vokabular gestrichen. Nun ging es um Leiden und Heilen, um den Beichtvater als „Therapeuten” und eine moderne Beichtliturgie, in der „Selbstfindung” und Identifikation eine zentrale Rolle spielen sollten.
Tiefenpsychologie, Verhaltensforschung und die Methoden der modernen Sozialwissenschaften – sie hatten Einzug gehalten in den kirchlichen Alltag. Sie waren dabei beides zugleich: Instrumente zur Anpassung und Beobachtung katholischen Lebens in der modernen Gesellschaft, zugleich aber auch Bedrohung und Gefahr traditioneller Glaubensinhalte.
Der alles andere als reformfeindliche Münsteraner Bischof Heinrich Tenhumberg machte seine wachsende Skepsis gegenüber den neumodischen Interpretationen lautstark Luft, als er seine Gläubigen mit Blick auf die „Beichtkrise” in einem Hirtenbrief warnte: „Lassen wir uns also von niemandem unsere Sünde und Schuld wegdiskutieren.”
Benjamin Ziemann, Historiker an der University of Sheffield, hat das ambivalente Verhältnis von Kirche und Sozialwissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg in einer grundlegenden Studie untersucht und ist dabei dem Wandel des Katholizismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgegangen. Seine Untersuchung geht dabei weit über eine enge Kirchengeschichte hinaus. Mit feinem Gespür analysiert Ziemann die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft und lenkt dabei den Blick auf ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften: den Einflussgewinn humanwissenschaftlicher Experten, den neuen Gralshütern der „Wahrheit”, die die Arbeit politischer Parteien genauso veränderten wie die Organisation von Betrieben, Parlamenten, Verwaltungen und Kirchen.
Erst die Auseinandersetzung mit den Methoden der empirischen Sozialforschung erlaubte es der katholischen Kirche, den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozess der Nachkriegszeit zu verstehen. Statistik und Umfrageforschung dienten dazu, etwas über Grad und Geschwindigkeit der Säkularisierung zu erfahren und waren damit gleichsam das „Fernglas”, mit dessen Hilfe sich die Veränderungen beschreiben ließen. Gleichzeitig boten Psychologie und Soziologie neue Antworten auf die schwindende Bindekraft des katholischen Milieus, schienen sie doch die Sprache der Zeit zu sprechen und damit auch wieder Kirchenferne für die Institution gewinnen zu können. Die „Verwissenschaftlichung des Religiösen” war nicht zuletzt deshalb eine so dramatische Herausforderung, weil anstelle von Dogmen und Normen nun auf einmal der sozialwissenschaftliche Wahrheitsanspruch trat und kirchliche Lehrmeinung und pastorale Praxis erstmals methodischen Prüfungsverfahren unterwarf.
Die Folgen waren dabei, wie Ziemann eindringlich und auf breiter Quellenbasis zeigt, keineswegs eindeutig. Meinungsumfragen, kirchliche Planung und gruppendynamische Experimente waren Antwort auf die Protestbewegungen der späten sechziger und siebziger Jahre, die auch vor den kirchlichen Pforten nicht Halt gemacht hatten. Sie halfen, überkommene Hierarchien abzubauen, das Gemeindeleben den neuen Anforderungen anzupassen und den Katholizismus gleichsam für die moderne, westliche Massenkonsumgesellschaft „tauglich” zu machen.
Säkularisierung bedeutete in dieser Hinsicht nicht Gefahr, sondern eine Chance zur religiösen Erneuerung. Gleichzeitig konnten durch die Kirchenleitungen Umfragen aber auch als neues Herrschaftsinstrument genutzt werden, um allzu weitreichende Diskussionen über die Reform kirchlicher Strukturen abzublocken. Als die Reformeuphorie seit Ende der siebziger Jahre nachließ, wuchsen, nicht zuletzt in Rom, die konservativen Stimmen derer, die sich gegen die sozialwissenschaftliche „Fundamentalkritik” zur Wehr setzten und Abschied von allzu viel Experimentierfreudigkeit nehmen wollten. Das Rad ganz zurückdrehen konnten sie allerdings nicht mehr.
Die Geschichte der Bundesrepublik und speziell die Epoche der 68er waren in dieser Hinsicht nicht die Geschichte einer allzu glatten Liberalisierung. Am Ende stand eher eine, wie Ziemann meint, „gefährliche Modernität”, die Altes zerschlug und Neues schuf – und das mit ungewissen Folgen. DIETMAR SÜSS
BENJAMIN ZIEMANN: Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945-1975. Vandenhoeck & Rupprecht Göttingen 2007. 396 Seiten, 44,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Dietmar Süss hat Benjamin Ziemanns Studie über die katholische Kirche und die Sozialwissenschaften zwischen 1945 und 1975 positiv aufgenommen. Die Untersuchung führt seines Erachtens überzeugend das ambivalente Verhältnis der Kirche zur neuen Sozialforschung sowie die sich daraus ergebenden Veränderungen der Kirche vor Augen. Deutlich wird etwa, wie die Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften der katholischen Kirche half, "den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozess der Nachkriegszeit zu verstehen". Süss hebt hervor, dass Ziemanns Arbeit über die Grenzen einer Kirchengeschichte hinausgeht. Er bescheinigt dem Autor, "mit feinem Gespür" die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft überhaupt zu analysieren. Erhellend findet er auch die Folgen dieses Prozesses, die der Autor auf breiter Quellenbasis aufzeigt.

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