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Der Garten, in dem die Regentonne steht, ist phantastisch weit, reich und offen - eine Welt. In diesem Lyrikband geht es in die Natur mit all ihren kunstvollen Variationen des Lebens. Jan Wagner lässt den Giersch schäumen, dass einem weiß vor Augen wird, nimmt Weidenkätzchen und Würgefeige, Morchel und Melde, Eule, Olm und Otter ins poetische Visier, zoomt ran, überblendet assoziativ, bis der Blick sich weitet und man weiß, für einen Augenblick zum Wesen der Dinge vorgedrungen zu sein. Es ist immer wieder ein Wunder, wie es diesem Lyriker gelingt, Bilder zu schaffen, die in einem Halbvers…mehr

Produktbeschreibung
Der Garten, in dem die Regentonne steht, ist phantastisch weit, reich und offen - eine Welt. In diesem Lyrikband geht es in die Natur mit all ihren kunstvollen Variationen des Lebens. Jan Wagner lässt den Giersch schäumen, dass einem weiß vor Augen wird, nimmt Weidenkätzchen und Würgefeige, Morchel und Melde, Eule, Olm und Otter ins poetische Visier, zoomt ran, überblendet assoziativ, bis der Blick sich weitet und man weiß, für einen Augenblick zum Wesen der Dinge vorgedrungen zu sein. Es ist immer wieder ein Wunder, wie es diesem Lyriker gelingt, Bilder zu schaffen, die in einem Halbvers Stimmungen heraufbeschwören - bis längst Vergessenes oder nie Gesehenes vor Augen steht.
Autorenporträt
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin. 2001 erschien sein erster Gedichtband "Probebohrung im Himmel". Es folgten "Guerickes Sperling" (2004), "Achtzehn Pasteten" (2007), "Australien" (2010), "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" (2012) und der Sammelband "Selbstporträt mit Bienenschwarm" (2016) und zuletzt "Die Life Butterfly Show" (2018) sowie die Essaybände "Der verschlossene Raum" (2017) und "Der glückliche Augenblick" (2021). Für seinen Gedichtband "Regentonnenvariationen" (2014) gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse, 2017 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Jan Wagners "Regentonnenvariationen" sind in aller Munde, weiß Stephan Speicher, der ein wenig unschlüssig scheint, ob er in das allgemeine Lob einstimmen möchte. Dabei will er gar nicht Wagners Sprach-und-Form-Meisterschaft anzweifeln, die werde schon zurecht gewürdigt - aber irgendetwas stimmt nicht im Verhältnis von Kunstfertigkeit und Gegenstand, findet der Rezensent. Wenn Wagner über die Natur schreibt, bleibt sie oft eigentümlich bezugslos, und wo die Bezüge hergestellt werden, wirken sie auf Speicher zwecks Aktualisierung erzwungen. Eine lobenswerte "Abneigung gegen den Endreim" reicht dem Rezensenten nicht aus, um zu erkennen, was die Variationen nun eigentlich mit uns zu tun haben.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.09.2014

Unterschätzen Sie nicht den Giersch!
Melde und Morchel, Fledermaus und Weidenkätzchen: In seinem neuen Gedichtband „Regentonnenvariationen“
erweist sich Jan Wagner als überraschender Klassiker aus dem Geist der Naturkunde
VON BURKHARD MÜLLER
Kohle auf Koala, hat Jan Wagner einmal bemerkt, das sei doch ein wunderbarer Reim, viel besser als Herz auf Schmerz: Denn er öffnet die Wahrnehmung für das Neue. In seinem jetzt erschienenen Lyrikband, „Regentonnenvariationen“, kehren die Koalas, deren Bild man nun wirklich bis zum Überdruss zu kennen meint, als Überraschung wieder, ja mit ihr steigt das Gedicht „Koalas“ gleich ein: „so viel schlaf in nur einem baum“ erblickt es, und „eine boheme / der trägheit“. Das ist witzig, das trifft es, und da wir nun einmal gewohnt sind, diese behäbig kletternden Beuteltiere mit vermenschlichenden Augen zu sehen, geschieht ihnen gewiss kein Unrecht, wenn man sie als „zerzauste stoiker, / verlauste buddhas“ bezeichnet.
  So funktioniert Wagners Lyrik überhaupt: Der Gegenstand ist vertraut (meistens wenigstens), der Aspekt ungewöhnlich und der Ton ruhig, aber rhythmisch bewegt und darin völlig sicher. Wagner kommentiert es nicht weiter, wenn er eine Strophe vorsetzt wie die folgende: „nacht, die wie ein fesselballon an ihren / regenseilen riß: ein augustgewitter / zog von norden über die see, zog bis nach / krynica morska“. Und erst im Nachhinein reibt sich der Leser die Augen: Moment mal, das war ja eine Ode! Die Einbürgerung der antiken Ode in deutschen Metren, das war ein Lieblingsprojekt des 18. Jahrhunderts gewesen; oft scheiterte es mühselig an der komplexen Akzentverteilung. Hier gelingt sie wie von selbst. Man beachte auch die Beiläufigkeit, mit der die Blickrichtung sich umkehrt: es fällt nicht der Regen vom nächtlichen Himmel, sondern dieser hängt an jenem; im Bild des angefesselten Ballons steigt der Regen gewissermaßen von unten nach oben, ohne dass es als Manier oder Gewalt erschiene.
  Ja, das hier etwas wie von selbst geht, was andere Dichter erhebliche Anstrengung kostet, das ist der vorherrschende Eindruck, den man von Wagners Lyrik gewinnt. Die titelgebenden Regentonnenvariationen verwenden, wiederum ohne viel davon herzumachen, die Form des Haikus, mit der ja schon manch ein deutscher Japanophiler vergebens gerungen hat. Ganz leicht soll ein Haiku sein, und ganz wenig dazu: zwei Erfordernisse, die sich schwer vereinbaren lassen, denn je weniger insgesamt da ist, desto mehr muss jede Silbe ins Gewicht fallen. Wagner schafft die Quadratur des Kreises, indem er seine Haikus nicht preziös isoliert, sondern aus ihnen eine Art fortlaufenden Text komponiert. Es klingt so: „unterm pflaumenbaum / hinterm haus – gelassen, kühl / wie ein zenmeister. // eine art ofen / im negativ, qualmte nicht, / schluckte die wolken. // gluckste nur kurz auf, / trat man zornig dagegen, / aber gab nichts preis.“
  Ein Zenmeister im Schrebergarten – so ließe sich vielleicht Wagners ästhetischer Ort bestimmen. Er liebt die Natur halb wild und halb zahm, den Giersch zum Beispiel, dem er gleich das erste Gedicht widmet, jenen Doldenblütler, den manche als Gemüse preisen und manche als praktisch unausrottbares Unkraut hassen. „nicht zu unterschätzen: der giersch“, meint er, „kehrt stets zurück wie eine alte schuld“. Wagner sieht die Keuschheit seiner weißen Blüten, hört seinem Namen aber auch die Gier ab, „als schäumen, als gischt, der ohne geräusch / geschieht, bis hoch zum Giebel kriecht, bis giersch / schier überall sprießt“. Oder „was war so blau wie abende im herbst / oder schwarz wie die bibel?“ Lösung des Rätsels: die Schlehe! Denn die Schlehe hat einen bläulichen Reif, der sich abstreifen lässt, und dann tritt Schwärze hervor. Herbst, wie sich erweist, ist sie selber, wenn man sie in den Mund nimmt, als Superlativ der Herbheit. Melde, Morchel, Weidenkätzchen, Silberdisteln, der Torf, die Blutbuche, sie alle bekommen ihr eigenes Gedicht.
  Der Dichter, der sich der Botanik anvertraut, geht nicht fehl: Darauf verlässt sich Wagner fest. Von dort tastet er sich voran ins Animalische. „die vögel, waratah street“ sitzen halbverborgen und leuchtend wie Obst im Laubwerk, die Loris zum Beispiel, „die schon am ersten die farben / des ganzen monats verprassten“ oder jener andere namenlose australische Vogel am Brunnen, der „uns wach hielt, klagte, klagte, / bis endlich ein morgen klar / und schimmernd heraufgeholt war.“
  Seine Grenze bekommt der Dichter dort zu fühlen, wo er die Welt der Dinge und der Geschichte berührt. Dann nennt er seine Texte gern, ein wenig unsicher, „Versuch“: Versuch über Seife, Versuch über Zäune, Versuch über Servietten. Eine kunstvoll gefaltete Serviette lässt sich als kühler Origamikranich deuten oder als stolzer Viermaster, der über die Tischdecke segelt, „immer nach norden, nach norden . . ..“.
  Und ein Virtuose am Violincello ertönt als „die göttlichste hummel“. Unüberwindlichen Widerstand freilich leisten die Gemälde, Canaletto oder das holländische Bild eines Mannes mit Uhr. Da solche Werke der bildenden Kunst schon von Anbeginn mit dem konzentrieren Betrachter rechnen, vermag Wagner ihnen nur ein Geringes an Blickerfrischung abzugewinnen. Recht lang und recht gelehrt geraten die entsprechenden Poeme. Da sieht und hört man Wagners großes lyrisches Können sozusagen im Leeren rudern.
  Denn dieses Können wird ihm niemand bestreiten. Es ist wohltuend, sich seinen Gedichten zu überlassen, die bei aller Raffinesse ohne Aufwand ins Ohr gehen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie, wie gesagt, auch den Reim nicht verschmähen. Der zeigt sich nicht überall, eher ist er so etwas wie eine glückliche Konstellation, die dann und wann, mit wechselnder Reinheit, unter den Gestirnen der Verse eintritt. Zuweilen darf er einen ganzen Text regieren, den über die Maulbeeren zum Beispiel. Nur zwei Reime sind nötig, auf „-ach“ und auf „-eren“; der erste ist dem tierischen Bereich zugeordnet, hier den im Geäst beheimateten Fledermäusen, der zweite den schwebenden Früchten. (Wagner mag nun mal alles, was in Bäumen hängt.)
  Maulbeeren! „allein das wort im mund – schon sind sie wach / und wollen mit dem schattenhaften krach / von tausenden von flügeln sich vermehren. / hängen bei tag in ihrem schlaf, in schweren / und dicken trauben unter deinem dach, / so dunkel süß.“ Nur „süß“ reimt sich nicht, es ist, wie der Fachausdruck lautet, eine Waise; aber auf diese läuft es hinaus. Dunkel und süß mögen die Maulbeeren sein; das Gedicht hingegen ist süß und hell. Ein Klassiker im Wartestand.
Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Gedichte. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2014. 101 Seiten, 15,90 Euro.
Erst im Nachhinein reibt sich
der Leser die Augen: Moment
mal, das war ja eine Ode!
„was war so blau
wie abende im herbst /
oder schwarz wie die bibel?“
  
  
Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt seit 1995 in Berlin. Sein lyrisches Debüt, „Probebohrung im Himmel“, erschien 2001.
Foto: Villa Massimo/ Alberto Novell
Manche Wörter, „Maulbeeren“ zum Beispiel, rufen andere Wörter wach, die dann im Gedicht herumschwirren: „allein das wort im mund – schon sind die Fledermäuse wach / und wollen mit dem schattenhaften krach / von tausenden von flügeln sich vermehren.“
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014

Dichte über Mäckenroh, dann wirst du froh

Die Sehstücke des Jan Wagner: Der neue Gedichtband "Regentonnenvariationen" findet auf einfachen Wegen zur größten Meisterschaft.

Von Christian Metz

Könnte man Poeten auf Grund jener Sinneswahrnehmung charakterisieren, von der aus sich ihr Schreiben entfaltet, dann wäre Jan Wagner ein Dichter des Blicks. Es gibt Autoren, deren Schreiben setzt bei einem besonderen Klang ein, bei einem eigenartigen Geruch, einem charakteristischen Geschmack oder bei einer eindrücklichen Berührung, aber Jan Wagner fallen die Gegenstände seiner Dichtung ins Auge. Daher dominieren in seinen Gedichten die Wortfelder der Optik: Die Dinge "erscheinen", spiegeln sich wider, lösen sich in Unschärfe auf. Umgekehrt fordern seine Gedichte zum Sehen. "Du kannst sie dort sehen", "du kannst sie dort betrachten" sind charakteristische Wendungen der Texte an ihre Leser, um Einsichten, Ausblicke und Perspektivwechsel zu vermitteln.

Jan Wagners Gedichte sind Sehstücke, Beobachtungsepiphanien von Gegenständen, die eine genaue poetische Betrachtung einfordern. Um sich auf diese häufig alltäglichen Dinge einzulassen, braucht es handwerkliche Übung, Geduld, Zeit und Ruhe. Es ist kein Zufall, dass eines der wichtigsten poetologischen Gedichte des Bandes, mit dem Titel "die tassen", dem extrem zurückgezogen lebenden Töpfer Jan Kollwitz gewidmet ist. Es erzählt von unzähligen Tassen, welche der Meister begutachtet, kommentarlos zerstört, um schließlich eine als "Schale" bestehen zu lassen und auszuzeichnen. Ob Autorschaft heute eine elaborierte geistige Fokussierung braucht? Man muss sich zumindest nicht dagegen entscheiden. Eines aber ist klar: Jan Wagners neuer Gedichtband ist keine der Tassen, sondern eine Schale.

Es war früh klar, dass Wagner ein außergewöhnlich begabter Dichter ist. Schon vor seiner ersten Veröffentlichung, "Probebohrung im Himmel" (2001), hatte er sich als Übersetzer einen Namen gemacht. Selbst die größten Skeptiker gestanden Wagner zu, dass er "seinen Weg machen" werde. Einmal abgesehen davon, ob es den Weg eines Poeten gibt, geht Jan Wagner in den fünf Bänden seither seiner eigenen Wege. Ein Ziel sollte man da nicht ausmachen wollen, aber sein jetziger Band dürfte doch manche selbstgestellte Aufgabe an die eigene Poesie eingelöst haben.

Wer den Blicken in Jan Wagners neuestem Buch folgt, schweift mit ihnen über Landschaften, durchstreift Gärten, Wohnungen oder Vitrinen und vertieft sich in Bilder oder Erinnerungen. Obwohl es auffällig viele Gedichte über einzelne Tiere, Pflanzen oder Alltagsgegenstände gibt, lässt sich nicht genau bestimmen, an welchem Phänomen sich Wagners Blick bevorzugt verfängt. Jedes Gedicht eröffnet seine eigene Welt. Die Sprache, die das Tor zu diesen Welten aufstößt, ist einfach gehalten. Das Einfache wird einfach gesagt, um es damit auf den Punkt zu treffen. Die Gedichte verzichten auf hochgeschraubte Avantgardeallüren. Sie wollen Einladungen an ihre Leser sein. Wagners Gedichte verstehen sich daher eher einer amerikanischen als einer deutschsprachigen Tradition zugehörig, obwohl sich über Brecht, Brinkmann, Brasch ebenfalls eine nicht nur alliterative Reihe eröffnen ließe.

Aber sind Gedichte über Tiere und Pflanzen, die Gedichtformen wie Oden, Sonette oder wie im Fall der titelgebenden "Regentonnenvariationen" japanische Haikus pflegen, vor lauter Gegenwartsscheu überhaupt auszuhalten? Wagner hat eben eine eigene Art, die Gegenwart zu erkunden. Seine Lyrik bedient sich weder bei neuesten Phänomenen noch am aktuellen Sprachgebrauch; kein Vokabular der Digitalisierung, der politischen Situation, der Neurobiologie oder Hirnforschung, nicht einmal die großen Namen der Weltöffentlichkeit. Immerhin setzt das Gedicht "die tennisbälle" mit der treffenden Erinnerung an "die ära von borg und mäckenroh" ein.

Wagner spart das Neueste vom Neuen aus, weil es ihm um eine andere Betrachtungsweise geht. Er fragt nicht nach der Funktion seiner poetischen Gegenstände, sondern nach deren Charakter. Zum programmatischen Kern dieses Bandes ist eine Aussage von Lars Gustafsson geworden, die Wagner in einem Essay zitiert hat. Gustafsson wurde gefragt, warum er keine aktuelle Maschine in sein Gedicht "Die Maschinen" aufgenommen habe, und er antwortete: "Mit voller Absicht. Was mich hier interessierte, das sind nicht die Maschinen selbst: Es ist ihre mechanische Natur. Nicht ihre Funktion, sondern ihr maschineller Charakter. Dieser schwer bestimmbare Zug aber tritt an Maschinen, die veraltet oder Kuriosa geworden sind, deutlicher hervor als an jenen, die uns heute umgeben."

Wagners Gedichtband ist der Versuch, diese Blickweise konsequent anhand der unterschiedlichsten Phänomene einzuüben. Ihn interessiert das Pointierte am eingeschlagenen Nagel, das Gierige am alles umschlingenden Giersch, das Unfassbare am Mückenschwarm oder das Vergängliche der Seife. Wer so auf unsere Welt schaut, muss mit den Dingen neu ins Gespräch kommen. Wagner ist davon überzeugt, dass es die Poesie ist, die diesen Perspektiv- und Gesprächswechsel auf unsere Welt vollziehen kann. Erst wer die schwer zu fassenden Wesenszüge der Dinge ergründet, weiß auch, wie man heute mit ihnen und ihren neuesten Erscheinungsformen umzugehen hat. In diesem ausgewählten Sinne sind Wagners Gedichte gegenwärtig.

Begeisternd ist das erst, weil Wagner ein Meister der Form ist. Man darf sich aber die Form nicht nach dem Vorbild der Gussform vorstellen, in die man das Material einfüllt. Form ist das Material, mit dem es zu arbeiten gilt, die anregt, herausfordert. Sie ist nicht fertige Vorgabe, sondern sie entfaltet sich in der Fügung des Gedichts. Seine Form hat das Gedicht, wenn es für sich steht, die Balance seiner einzelnen Elemente hält.

Jan Wagners Gedichten kann man lesend zusehen, wie sie sich entlang der unterschiedlichsten Muster kunstvoll formieren. Auch diese Kunst darf einfach wirken: Das Gedicht "Koalas" beispielsweise setzt mit einer Metapher der schlafenden Bären in einem Baum ein. In seiner ersten vierzeiligen Strophe fügt es zwei weitere Bilder hinzu und nimmt dann die stundenlange Regungslosigkeit der Tiere in den Blick: "so viel schlaf in nur einem baum, / so viele kugeln aus fell / in all den astgabeln, eine boheme / der trägheit, die sich in den wipfeln hält und hält". Eine solche Trägheit lässt sich auch von einem Sprung zwischen zwei Strophen nicht irritieren. Deshalb setzt Wagner regungslos, aber vielleicht mit einem Schmunzeln das Halten fort: "und hält mit ein paar klettereisen / als krallen".

Das Enjambement über die Strophe hinweg bewahrt mit der Reihung von "hält und hält / und hält" jene besondere Art der Haltung fort, welche das Koaladasein im Baum auszeichnet. Nur dass jetzt neben den Koalas auch die Sprache selbst "hält und hält". Das ist Poesie des Augenfunkelns, das immer dann aufblitzt, wenn jemand so lange, so akribisch an einer Idee arbeitet, bis sie sich funktional, leicht, elegant, wie selbstverständlich fügt, ohne nur Wortschmuck zu sein.

Wagners Gedichte sind derart fein und genau gearbeitet, dass man sie zerpflücken darf. Da ist die sapphische Ode "verabredungen für die kaimanjagd". Diese vierzeiligen Strophen enden traditionell in einem fünfsilbigen Schlussvers, der aus einem Daktylus und einem Jambus besteht. Weil diese Versform rhythmisch und klanglich so schön ist, trägt sie den Namen "Adoneus"; sie ist so verführerisch wie der Liebling der Liebesgöttin Aphrodite. Es mag unschicklich wirken, aber wer nur das Schönste vom Schönen will, pickt sich einfach die Adonei des Gedichts heraus. Der erste Adoneus von Wagners Gedicht lautet "sicherheitshalber". Das trifft nicht nur im Hinblick auf die Gefahren von Liebesschicksal und Jagd innerhalb des Gedichts. "Sicherheitshalber" ist ein Signum unseres Denkens geworden und hat im Zeitalter von Terrorangst und Fahrradhelmträgern eine eigenwillige Ästhetik erblühen lassen. Früher wäre ein Adoneus "sicherheitshalber" ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Große Gedichte gewinnen, wenn man sie zerpflückt, hat Brecht postuliert. Sie gewinnen aber ebenfalls, wenn man sie wieder zusammenfügt. Das Gedicht schließt mit dem adoneischen Vers: "zwischen zwei sternen". Der Vers funkelt in seiner klanglichen Helle und alliterativen Dichte selbst sternengleich. Aber jetzt lassen sich eben auch der erste und der letzte Adoneus engführen: "sicherheitshalber / zwischen zwei sternen". Falls jemand eine Sammlung adoneischer Doppelverse führen wollte, diese Preziose könnte ein Anfang sein.

Ohne Vorliebe für den einzelnen Adoneus bekommen die letzten Verse übrigens noch einmal einen ganz anderen Dreh: "nimm jetzt / du die flinte. ziele genau ins dunkel / zwischen zwei sterne." Das ist schlicht großartige Poesie, atemberaubend versiert und dabei leicht, wie es eben nur ganz wenige vermögen. Lyrik? Jetzt!

Jan Wagner: "Regentonnenvariationen". Gedichte.

Hanser Berlin Verlag, München 2014. 102 S., geb., 15,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Wer sich für Sprache interessiert, für das Spiel mit Klängen und Bedeutungen, wird an diesem virtuosen Gedichtband (der sogar zum Bestseller wurde) seine helle Freude haben." Ulrich Greiner, Die Zeit 03.12.15

" ... eine lyrische Festschrift der Naturkunde und der ihr eingeschriebenen Magie." Herbert Wiesner, Die Welt, 13.03.15

"... einer der talentiertesten Lyriker des Landes, der in seinen Gedichten genauso zugänglich ist, wie er sich auf Sprachvielfalt und Raffiniesse versteht. Er ist ein Virtuose der Form, der sich selbst am Ton des Mittelalterlichem elegant erprobt und dem es schon gelungen ist, an Idole wie Dylan Thomas und Elizabeth Bishop sprachlich anzuknüpfen. Und: Jan Wagner schreibt im wahren Sinnn des Wortes schöne Gedichte, manchmal fast zu schöne." Gerrit Bartels, Der Tagesspiegel, 13.03.15

"Jan Wagner ist der beste Lyriker seiner Generation und eine der stärksten und originellsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur." ChristopherSchmidt, Süddeutsche Zeitung, 13.03.15

"Was Wagners Lyrik auszeichnet, ist die Zuwendung zur Welt und zu deren Bewohnern. Zugleich sind seine Motive der Gegenwart entrückt. ... Diesem Lyriker geht es nicht um Kritik an den Verhältnissen, sondern um die verborgene Schönheit der Welt." Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.15

"Man kann nicht anders, als die Meisterschaft des Dichters zu bewundern." Stephan Speicher, Die Zeit, 12.02.15

"Jan Wagner ist nicht nur ein begnadeter Stilist. Wie nebenbei beschenkt er den Leser noch dazu mit einer weisen Einsicht: die von der relativen Marginalität des Menschen." Wiebke Porombka, Die Zeit, 12.12.14

"Jan Wagner bedichtet erkenntnisreich und elegant die Gier im Giersch, spürt formbewußt und naturnah dem Koi, Otter und Dachshund nach - um dann wieder ein Gedicht über Friseure oder Seife zu schreiben. Wer Schönheit und Intelligenz in der zeitgenössischen deutschen Dichtung sucht, bei Jan Wagner wird er fündig." Denis Scheck, ARD Druckfrisch, 05.12.14

"Das ist schlicht großartige Poesie, atemberaubend versiert und dabei leicht, wie es eben nur ganz wenige vermögen. Lyrik? Jetzt!" Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.14

"Dass hier etwas wie von selbst geht, was andere Dichter erhebliche Anstregung kostet, das ist der vorherrschende Eindruck, den man von Wagners Lyrik gewinnt. ... Es ist wohltuend, sich seinen Gedichten zu überlassen, die bei aller Raffinesse ohne Aufwand ins Ohr gehen." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 04.09.14

"Mücken, Zäune, Rosinenteig: Der Lyriker Jan Wagner versteht es, dem Vertrauten mit formbewussten Versen überraschende Facetten abzugewinnen." Dirk Hohnsträter, WDR3, 26.08.14
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