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»Warlam Schalamow ist die große Gegenfigur zu den literarischen Zeugen der nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er gehört in eine Reihe mit Primo Levi, Jorge Semprún oder Imre Kertész.« (Gregor Dotzauer, Tagesspiegel) Mit »Linkes Ufer« wird die Werkausgabe von Warlam Schalamow fortgesetzt, deren erster Band "Durch den Schnee" seit seinem Erscheinen 2007 ungebrochen hohe Aufmerksamkeit genießt.Schalamow zieht den Leser in die Gegenwart des Lager-alltags hinein und geht der Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunhunderte in der Tradition des…mehr

Produktbeschreibung
»Warlam Schalamow ist die große Gegenfigur zu den literarischen Zeugen der nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er gehört in eine Reihe mit Primo Levi, Jorge Semprún oder Imre Kertész.« (Gregor Dotzauer, Tagesspiegel) Mit »Linkes Ufer« wird die Werkausgabe von Warlam Schalamow fortgesetzt, deren erster Band "Durch den Schnee" seit seinem Erscheinen 2007 ungebrochen hohe Aufmerksamkeit genießt.Schalamow zieht den Leser in die Gegenwart des Lager-alltags hinein und geht der Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Ausschwitz oder Kolyma hervorbringen? Lange Jahre im Westen unbekannt, erfährt er in den letz-ten Jahren zunächst in Frankreich und Deutschland endlich die verdiente Anerkennung als einer der Großen der russischen Literatur. Die »Erzählungen aus Kolyma«, deren zweiter Zyklus in der Übersetzung von Gabriele Leupold hier veröffentlicht wird, sind Weltliteratur.
Autorenporträt
Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, studierte zunächst sowjetisches Recht in Moskau. Nach seiner Verhaftung wegen »konterrevolutionärer Agitation« wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt und in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens deportiert. 1956 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1982 starb. Bei Matthes & Seitz Berlin erscheint eine Ausgabe seiner Werke in Einzelbänden.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Olga Martynova beschäftigt sich in einem Essay mit der Frage, warum Solschenizyns Roman "Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch" in der Sowjetunion veröffentlicht werden konnte und dem Autor letztlich zum Nobelpreis verhalf, während Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" nahezu unbekannt blieb. Für die Rezensentin, das lässt sie durchblicken, ist Schalamow der größere Schriftsteller von beiden, dessen "Erzählungen aus Kolyma" in der Sowjetunion nicht mehr zu seinen Lebzeiten erschienen sind. In ihnen berichtet der Autor in "schonungsloser" Präzision und knapper Nüchternheit vom unmenschlichen Alltag in den Lagern der unwirtlichen Kolyma-Region, wobei für ihn die Erniedrigungen durch die mitinhaftierten "Kriminellen" noch schwerer zu ertragen waren als die menschenfeindliche Natur, so Martynova. Grundsätzlicher Unterschied zwischen Solschenizyn und Schalamow sei, dass ersterer sich in seinem Werk für "große Ideen" und Politik einsetzte, Schalamow dagegen, desillusioniert und verbittert, vor allem seine Erlebnisse dokumentieren wollte. Martynova erhofft sich, dass durch die deutsche Publikation der "Erzählungen aus der Kolyma" der Blick für das "herzzerreißend vollendete" Leben und Werk dieses Schriftstellers geöffnet wird.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2009

Wer wird zum Verräter?
Der zweite Band von Schalamows „Erzählungen aus Kolyma”
In den Lagern der Taiga glich das Holzmachen der Gewinnung von Gold. Beides fand man entlang dem Lauf derselben Bäche, „wo in tiefen Schluchten, sich nach der Sonne streckend, die Bäume im Dunkeln, vor Wind geschützt, Höhe erlangen. Im Wind, im Licht, auf dem sumpfigen Berghang, stehen Zwerge, verkrüppelt, verstümmelt, gequält.” Die Strafgefangenen des Gulag hatten das Holz der bleischweren dahurischen Lärche zu stemmen, aus den Schluchten den Hügel hinauf. Pferde konnten dabei nicht helfen, sie brachen zusammen.
So war es schön, als man in der Frostluft „die Seufzer, das Ächzen des neuen amerikanischen Tiers” hörte. „Der Bulldozer hustete im Frost, er war böse. Und dann schnaufte er, knurrte er und setzte sich beherzt in Bewegung, drückte Erdhöcker platt, glitt leicht über Baumstümpfe.” Anders als die geschmackslosen amerikanischen Konserven, die das faulige alte Rentier nicht ersetzen konnten, machten die Bulldozer Sinn.
Der Prozess gegen das Ich
Der zweite Band von Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma”, der jetzt unter dem Titel „Linkes Ufer” auch auf Deutsch vorliegt, wartet mit Überraschungen auf. Nicht nur die satirisch-sarkastische Erzählung „Lend-Lease”, die vorführt, welch fruchtbare Auswirkungen die Anti-Nazi-Koalition im Zweiten Weltkrieg hatte, wirkt anders als viele Erzählungen im ersten Band „Durch den Schnee”. War dieser mehrheitlich eine atemberaubend existentielle Vision des Lebens in den stalinistischen Lagern aus der Sicht der Gefangenen, einem hilflosen Leben ohne jeden Überblick, geht es diesmal um historisch genauer lokalisierbare Erfahrungen. Wer hat was wann gemacht?
Solche Fragen kann man an die jetzt übersetzten Erzählungen durchaus stellen. Oft geht es in ihnen um die Frage individueller Verantwortung. Schalamows außergewöhnlicher, nicht nur im Vergleich zu Solschenizyn in jeglicher Hinsicht lakonischer Ansatz, der hierzulande erst 2007, zu Schalamows hundertstem Geburtstag, zum ersten Mal wirklich gewürdigt wurde, ist meist ganz verschieden präsent. Die Sprache ist einem entspannten Umgangston angeglichen, die einzelnen Menschen sind deutlicher zu erkennen. Was diese Erzählungen nur auf den ersten Blick gemütlicher macht.
Denn Schalamow brilliert hier mit einem gnadenlosen Blick auf das Zusammenleben im Lager. Jeder, der auf diesen Seiten auftaucht, hat eine Prüfung durchzustehen. Wer wird zum Verräter, wer nicht? „Mein Leben lang kann ich mich nicht zwingen, einen Schurken einen rechtschaffenen Menschen zu nennen.” Schalamow bleibt im Ton knapp und kalt, wie in „Durch den Schnee”, aber er setzt die Opfer deutlicher als dort ins Verhältnis zu den Tätern, deren wirkliche Namen genannt werden, verfasst dabei dennoch beinahe soziologisch wirkende Analysen der Lagerwelt.
„Mein Prozess” etwa verfolgt die Mechanismen, die zwei Brigademitglieder gegen ein Ich in Gang bringen, dessen Schicksal dem Schalamows sehr verwandt ist. Einen davon, Saslawskij, der alle Gespräche der Gruppe an den Brigadier oder dessen Stellvertreter weitergegeben hat, habe er „mehrmals geschlagen”. Saslawskij, Ex-Reporter bei der „Iswestija”, und Kriwizkij, Stellvertreter und Ex-Minister für Verteidigungsindustrie, werden zu Feinden. Die schlichte Behauptung, Ivan Bunin sei ein „großer russischer Schriftsteller”, wird Schalamow, der vor der Entlassung stand, zum Verhängnis. Ob man ihm dafür eine Haftstrafe geben könne, fragt der Ich-Erzähler: „Man kann”, sagt sein Gegenüber: „Er ist Emigrant. Ein feindlicher Emigrant.” Zehn Jahre, plus fünf Jahre Aberkennung der bürgerlichen Rechte.
Doch auch das Bild von Schalamows eigener Existenz im Lager zwischen 1937 und 1953 wirkt im Vergleich zum ersten Band deutlich verändert. Aus der anfangs hilflosen Position eines ahnungslosen Intellektuellen, schafft er mit der Ausbildung zum Feldscher den lebensrettenden Schritt. Sie holt ihn aus der unmenschlichen Arbeit in den Minen. Im Lager gelten andere Gesetze, aber einen Hilfsarzt mit Diplom wird man nicht so leicht los. Schalamow erscheint in diesen Erzählungen als einer, der sich, lange bevor er in den siebziger und achtziger Jahren an den Spätfolgen des Lagers psychisch zerrüttet zugrunde ging, immer wieder kämpfend zu helfen weiß.
Wichtig sind auch die politischen Bezüge der Texte, die ins Herz der Diskussion um das stalinistische Russland treffen. Beim Lehrgang zum Feldscher in Magadan trifft Schalamow in „Der Antiquar” auf einen „Hauptmann”, der in der neurologischen Abteilung tätig ist, vor allem aber 1938 die Schauprozesse mit vorbereitet hat. Dieser erklärt ihm „das größte Geheimnis unserer Zeit”. Wie die Öffentlichkeit der Prozesse möglich war, „offen auch für ausländische Korrespondenten, auch für jeden Feuchtwanger. In diesen Prozessen gab es keinerlei Doppelgänger. Das Geheimnis der Prozesse war das Geheimnis der Pharmakologie.” Die Genfer Konvention? Wichtig gewesen sei die „Unterdrückung des Willens mit chemischen Mitteln. Solche Mittel gibt es, soviel du willst.” Zielstrebig schraubt sich die Erzählung immer tiefer in die Geheimnisse des Hauptmanns. Schalamow versucht, ihn zum Schreiben zu bewegen. Er sei, meint der andere, kein Schriftsteller.
„Das letzte Gefecht des Majors Pugatschow” analysiert ein bis heute heikles Thema: das Schicksal jener, die aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrten. „Jeder Kriegsgefangene ist ein Verräter in den Augen eurer Macht”, sagten die Werber des zu Hitler übergelaufenen Generals Wlassow. Die Kriegsgefangenen konnten das ahnen. Ob Franzosen, Amerikaner, Engländer, alle erhielten Päckchen, nur die Russen nicht. Major Pugatschow aber gehörte zu denen, die den Wlassow-Leuten nicht glaubten, bis er, nach der Flucht aus dem deutschen Lager, die Rotarmisten erreichte. Was folgte, war keine Begrüßung, sondern „Anklage wegen Spionage, und Urteil – fünfundzwanzig Jahre Gefängnis.”
Formkunst und Wahrhaftigkeit
Alle Texte dieses zweiten Bands der Erzählungen aus Kolyma sind Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre entstanden, nach Schalamows endgültiger Entlassung aus dem Lager. In der Sowjetunion konnten sie nie erscheinen. Was sie damals so gefährlich und heute noch so beeindruckend macht, ist das Zusammenspiel von literarischer Formkunst und einer Wahrhaftigkeit, die man hinter jeder Zeile zu spüren meint.
Editorisch gesehen etwas seltsam ist an diesem Band, der genau so viele Leser verdient, wie der erste, nur, dass er zwar mit ein paar Worterklärungen und Anmerkungen ausgestattet ist, aber ohne jeden eigenständig kommentierenden Text. Gerade weil der Gesamteindruck des zweiten Erzählzyklus von dem des ersten doch sehr verschieden ist, würde man da gerne einiges genauer wissen.
HANS-PETER KUNISCH
WARLAM SCHALAMOW: Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz. Berlin 2008. 328 S., 22,80 Euro.
Warlam Schalamow Foto: Verlag Matthes & Seitz
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