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Anna Stern übertrifft mit »Beim Auftauchen der Himmel« die Erwartungen, die sie mit »Schneestill« und »Der Gutachter« geweckt hat. Ihr neues Buch versammelt zehn Erzählungen, die nicht nur hohen literarischen Schaffensdrang beweisen, sondern von außergewöhnlichem Talent zeugen.Da ist der junge Wissenschaftler, der regelmäßig mit seiner Großmutter telefoniert und für sie eine Freundin erfindet, deren Charakterzüge auf denen einer Arbeitskollegin basieren. Oder der Alleinstehende, in dessen Leben überall und immer Eidechsen hausen. Die Titelgeschichte handelt von einem Mann, der ein ertrinkendes…mehr

Produktbeschreibung
Anna Stern übertrifft mit »Beim Auftauchen der Himmel« die Erwartungen, die sie mit »Schneestill« und »Der Gutachter« geweckt hat. Ihr neues Buch versammelt zehn Erzählungen, die nicht nur hohen literarischen Schaffensdrang beweisen, sondern von außergewöhnlichem Talent zeugen.Da ist der junge Wissenschaftler, der regelmäßig mit seiner Großmutter telefoniert und für sie eine Freundin erfindet, deren Charakterzüge auf denen einer Arbeitskollegin basieren. Oder der Alleinstehende, in dessen Leben überall und immer Eidechsen hausen. Die Titelgeschichte handelt von einem Mann, der ein ertrinkendes Kind rettet, aber danach nicht weiß, ob es überlebt hat oder nicht. Schließlich schafft Anna Stern eine wundervolle, charmante Hommage an den großen, 2016 verstorbenen David Bowie und verhandelt das autobiografische Schreiben mit raffinierten Bezügen zu Knausgård.Vom subtilen Teenagerdrama über einen kurzen, fiesen Krimi bis zum fein ausgearbeiteten Beziehungsdrama: Anna Stern bewegt sich souverän und immer spannend zwischen Stilen und Genres. So verschieden die Geschichten auch sind, sie werden stets von der Atmosphäre und Anna Sterns eigenem, charakteristischem Stil getragen und ergeben einen Erzählband, der weit mehr ist als die Summe der einzelnen Texte.
Autorenporträt
Stern, Anna§Anna Stern, _1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studentin der Umweltnaturwissenschaften MSc an der ETH Zürich. Sterns Debüt »Schneestill« erschien 2014 im Salis Verlag (»Diese verwegene Geschichte zieht die Leser sofort in ihren Bann.« Heike Hauf, literaturkritik.de). 2015 erhielt Stern vom Amt für Kultur des Kantons St. Gallen einen Werkbeitrag für das Romanprojekt »Der Gutachter« zugesprochen; die »packende Kriminalgeschichte« (Miriam Hefti, viceversaliteratur.ch) erschien 2016 im Salis Verlag und 2017 in der Edition Büchergilde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017

Lies genau, was hier nicht steht

Zehn Erzählungen entdecken ganze Welten in Details: "Beim Auftauchen der Himmel" von Anna Stern ist ein seltenes Sprachfest.

Von Dietmar Dath

Anna Stern wurde 1990 geboren und wird seit drei Jahren als Prosadichterin auf schnurgerader, aber alles andere als eindimensionaler Schriftbahn immer besser.

Der kürzeste Satz, der nicht nur Interjektion oder Geräusch ist ("Ja.", "Mmh."), zugleich ein ganzer Absatz, in ihrem Debütroman "Schneestill" (2014), einem Krimi über Kindstötung, Selbst- und Mitmenschentäuschung, ist ein einziges Wort: "Glück." Dieses Wort, mittels je einer Leerzeile davor und danach vom Textrest abgesetzt, ist für sich genommen eines der freundlichsten Wörter, reine Affirmation, aber hier wird es eingeklammert vom vorherigen Absatz - "Er konnte von Glück reden, dass er nicht ausrutschte und stürzte" - und vom folgenden: "Daran hatte er doch nicht mehr denken wollen, in keinem Sinn des Wortes." Entlarvte Homonymie: Glück als Seligkeit, Glück als begrüßter Zufall, beides trifft nicht, beide Bedeutungsmagnetfelder sind zu schwach, um das Wort zu fixieren. In Sterns zweitem Roman, "Der Gutachter" (2016), wird gegen derlei Unschärfe ein Ermittlungverfahren geführt, das vor allem deshalb schwierig ist, weil der ordnende Verstand, der Beobachtungen und Befunde "darlegt, analysiert und schließlich zusammenfasst", von vornherein abgängig ist - vielleicht ermordet - und daher lange gesucht werden muss.

Ihr neues und bislang bestes Buch, "Beim Auftauchen der Himmel", zirkelt in zehn Erzählungen den gesamten Gesichtskreis dieser bemerkenswerten Autorin ab. Lügen, Träume, Dichtungen, Ausreden, Wahn. In der ersten Erzählung, "Die Tochter des Botschafters", tröstet ein Mann namens Anthony seine Großmutter, die er nach einem berufsbedingten Wohnsitzwechsel ins Ausland zu Hause hat zurücklassen müssen, mit Geschichten über eine erfüllte Liebesbeziehung zu einer Frau, die es zwar gibt, die er aber in Wirklichkeit nur oberflächlich kennt. In der sechsten Erzählung, "The Protector", ersetzt eine Frau, die davon überzeugt ist, dass sie nicht auf der Welt wäre, wenn ihre Mutter nicht zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein Lied eines ganz bestimmten Sängers gehört hätte, schließlich sogar ein verlorengegangenes Körperteil ihres Begleiters Maurin durch eines, das demselben Körperteil des Sängers gleicht, dem Maurin ohnehin stark ähnelt. In der siebten Erzählung, "Die Geschichte vom umgedrehten Land", wird ein Vorschlag formuliert, der die Bevölkerung eines verunsicherten Staates beruhigen soll: "Die Stimmung im Land wandelt sich - fremde Richter, fremde Vögte, nicht zu vergessen die ganzen Flüchtlinge."

Der Vorschlag, den diese Erzählung formuliert, krempelt wie Lüge, Traum, Dichtung, Ausrede und Wahn die Wirklichkeit um, der die Verunsicherung entsprungen ist; die kindliche Phantastik des Trickfilms "Sakasama no Patema" (2013), wo etwas, das kopfsteht, auf etwas trifft, das kopflos vor sich hin rattert, wird in Sterns umgedrehtem Land durch eine Sorte böser Vernunft dividiert, wie sie die Satire "A Modest Proposal" (1729) von Jonathan Swift trägt, in der Hungernden geraten wird, sich die Linderung ihrer Not durch Kannibalismus zu verschaffen. Halt, stimmt das? Dividiert?

Wann immer Anna Stern Metaphernkörper zerteilt, geliehene oder selbsterschaffene, sind das keine Teilungs-, sondern Vervielfältigungsakte; ihre scheinbare Division multipliziert Perspektiven zum Zweck der Selbstüberraschung von Erkenntnislust. Denn ihr ist klar, dass die drei Grundrechenarten deutscher Literatur, nämlich erstens die Aufzählung, zweitens die Herstellung von Über- und Unterordnung durch ein Gefüge von Haupt- und Nebensätzen und drittens die Auflösung solcher Ordnungen durch bewusste Zersetzung der Syntax, absolute Unendlichkeiten von Erfahrungsweisen generieren können.

Alle drei Modi fressen ihr aus der Hand wie zutrauliche Tiere. Die Aufzählung hat langen Atem: "Doch was Maurin mehr fasziniert als dieses Produkt solider Handwerkskunst, ist das, was sich in den Schubladen befindet: einzelne Fuchs- und Biberzähne neben fertig kolorierten Luchs- und Wildschweingebissen; Dachs- und Bärenkrallen über Schubladen mit Zungen von Marder und Wiesel, Auerhahn und Birkhuhn; Schnabelabgüsse, Bärennasen und künstliche Ohrknorpel in allen vorstellbaren Ausführungen; Fisch- und Reptilienaugen aus Glas, Säugetieraugen mit runder oder geschlitzter oder auch ovaler Pupille, Vogelaugen in allen Größen und den verrücktesten Farben." Die an Kleist oder Borchardt erinnernde, harmonisch ausgreifende Haupt- und Nebensatzkonstruktion wird bei ihr zur puren Kontrapunktik: "Er warf den Rucksack auf das breite Bett, dessen quietschender Metallrahmen ihn manchmal weckte, wenn er unruhig schlief, wickelte das kleine Schokoladenherz, das Alice, wie immer, wenn er herkam, um über Nacht bei ihr zu sein, auf das weiße Kopfkissen gelegt hatte, aus der roten Folie und legte es sich auf die Zunge." Das Fragmentarische endlich fährt wie ein jäher Wind in die gefährdete Kommunikation: "Wenn ich einige Jahre jünger wäre . . ., hat er mehr als einmal zum unentschiedenen Maurin gesagt. Oder auch: Wenn Armine nicht in wenigen Monaten das Kind . . . Und am Tag seiner eigenen Hochzeit schließlich (doch Maurin glaubt - hofft -, dass er dies tatsächlich nur als Scherz gemeint hat, um Armines willen): Falls du offen bist für ein Tauschgeschäft, Maurin . . ."

Sterns Kunst befreit das lesende Hirn von der verschmierten und verschleimten Geschwätzigkeit einer Gegenwart, in der zum Beispiel eine der größten kommerziellen deutschen Medienplattformen im Internet unter der Überschrift "Alles zur Festnahme vom Kindesmörder" ihre Schockware anpreist, als wäre es, wie die Müllpräposition "vom" suggeriert, der Mörder selbst gewesen, der den Sensationshändlern verraten hat, was man da anklicken soll. In Anna Sterns Sprache kann man nichts anklicken, sie enthüllt nichts, ohne anderes zu verbergen, immer aus Sinngründen, immer mit Recht.

In "Die Tochter des Botschafters" erfahren wir früh, welche Filme im Kino liefen, als Anthonys Eltern ums Leben kamen, und können uns, wenn wir wissen, wann diese Filme neu waren, denken, dass das 1995 geschah. Einige Seiten später wird es ausgesprochen, wie der Name des Sängers in "The Protector", der erst gar keinen hat, dann "David" und noch später schließlich explizit "David Bowie" heißt. Dieses schrittweise Explizieren könnte man, als Dreischritt betrachtet, "Andeuten, Freilegen, Aussprechen" nennen, in Analogie zum "Darlegen, Analysieren, Zusammenfassen" des verschwundenen Gutachters aus Sterns zweitem Roman. Es dient dazu, etwas nahezulegen, das im weiteren Verlauf der Geschichten manchmal bestätigt wird (die Jahreszahlen, der Name), manchmal aber auch nicht (das Ende von Anthonys Geschichte ist ein unvorhersehbarer Einschnitt).

Damit erinnert die Dichterin an ein Glück, das wir von Neuigkeiten und Archiven umzingelte Menschen nicht vergessen sollten: Geschichten wissen mehr, als sie ausdrücklich sagen. Gerade darin sind sie, anders als das bewusstlose Geplapper der Fakten, dem von Kunst erhobenen und verteidigten Anspruch einer Wahrheit gewachsen, die mehr will als recht haben.

Anna Stern: "Beim Auftauchen der Himmel". Erzählungen.

Lector Books, Zürich 2017. 372 S., geb., 22,- [Euro].

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