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Wie geriet Deutschland in den Kosovo-Krieg? Den einmal gegenüber Milosevic angedrohten Luftkrieg nicht umzusetzen, schien den Akteuren der NATO-Mitgliedstaaten 1999 undenkbar. Hans-Peter Kriemann analysiert in seinem Buch die Wechselwirkungen zwischen dem internationalen politischen Prozess zur Bewältigung des Kosovo-Konflikts, der Logik militärischen Denkens und der innenpolitischen Debatte über das Wann und Wofür der deutschen Beteiligung an internationalen Einsätzen. Am Beispiel des Kosovo-Konflikts spürt er damit der Frage nach, wie solche Dynamiken zum Ausbruch von Konflikten und Kriegen beitragen können.…mehr

Produktbeschreibung
Wie geriet Deutschland in den Kosovo-Krieg? Den einmal gegenüber Milosevic angedrohten Luftkrieg nicht umzusetzen, schien den Akteuren der NATO-Mitgliedstaaten 1999 undenkbar. Hans-Peter Kriemann analysiert in seinem Buch die Wechselwirkungen zwischen dem internationalen politischen Prozess zur Bewältigung des Kosovo-Konflikts, der Logik militärischen Denkens und der innenpolitischen Debatte über das Wann und Wofür der deutschen Beteiligung an internationalen Einsätzen. Am Beispiel des Kosovo-Konflikts spürt er damit der Frage nach, wie solche Dynamiken zum Ausbruch von Konflikten und Kriegen beitragen können.
Autorenporträt
Dr. Hans-Peter Kriemann ist Historikerstabsoffizier und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2022

Rudolf Scharpings balkanische Legenden
Ein Buch untersucht Deutschlands Rolle im Kosovo-Krieg

Am 13. Mai 1999 riss Joschka Fischer erst das Trommelfell und dann die Geduld. Auf dem Sonderparteitag der Grünen hatte ein Delegierter einen Beutel mit roter Farbe auf den Außenminister geschleudert und ihn am Ohr verletzt. Als er dann mit verschmierter Jacke ans Rednerpult trat, hatte er kaum zu sprechen begonnen, da versuchte eine lautstarke Minderheit, ihn als "Kriegshetzer" niederzubrüllen. Die Partei und damit die rot-grüne Koalition Gerhard Schröders stand vor einem Bruch. Im März hatte der Kosovo-Krieg der NATO begonnen, unter deutscher Beteiligung. In der wichtigsten Rede seines Lebens, wie Fischer sie später nannte, versuchte er den "Freundinnen und Freunden" die Ansicht auszureden, grüne Friedenspolitik sei es, die Soldateska des serbisch-jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic ungehindert morden zu lassen. Als Kriegshetzer-Rufe aufkamen, spottete Fischer: "Ich habe nur drauf gewartet - Kriegshetzer! Hier spricht ein Kriegshetzer - und Herrn Milosevic schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor!". Frieden setze voraus, "dass Menschen nicht ermordet, dass Menschen nicht vertrieben, das Frauen nicht vergewaltigt werden." (...) Wenn wir diese Politik akzeptieren, werden wir dieses Europa nicht wiederkennen."

Der Krieg der NATO gegen Milosevics Jugoslawien vom März bis Juni 1999 war eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Hans-Peter Kriemann hat sie umfassend analysiert. Grundlage der "multiperspektivischen Studie", wie der Autor sie nennt, ist eine 2018 vorgelegte Dissertation. Dank einer ihm gewährten Schutzfristverkürzung konnte der Autor Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amts einsehen, die eigentlich noch bis 2029 gesperrt sind. Er wertete zudem Material aus dem Militärarchiv in Freiburg sowie aus den Parteiarchiven von CDU, SPD, FDP und Grünen aus, sprach auch mit Zeitzeugen wie Wolfgang Ischinger, damals politischer Direktor im Auswärtigen Amt.

In der Darstellung der Vorgeschichte des Krieges begegnen wir Helmut Kohl, der 1998 auf einer Sitzung des CDU-Parteivorstands vor einer neuen Flüchtlingswelle vom Balkan warnte: "Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das heißt für junge Männer, die ohne einen weiblichen Anhang hierher kommen, für die es keinen Arbeitsplatz gibt usw. Es tauchen hier explosionsartig Dinge auf, die die problematische Situation noch weiter eskalieren lassen." Kohl sprach von der Gefahr, dass die CDU dadurch Stimmen an Rechtsradikale verlieren könnte. Sein Nachfolger Gerhard Schröder verwies im Bundestag wenige Monate später auf die deutsche Geschichte als Argument dafür, dass Deutschland nicht abseits stehen dürfe im Kosovo. Gerade die historische Schuld erlaube Deutschland nicht, auf dem Balkan Verbrechen geschehen zu lassen. Die US-Außenministerin Madeleine Albright hatte zuvor versichert, es werde keine Lockerung der Sanktionen gegen Jugoslawien geben, bis Belgrad konkrete Schritte unternehme, um das Los der Kosovo-Albaner zu verbessern. "Und zugleich unterstützen die Vereinigten Staaten nicht die Unabhängigkeit für das Kosovo. Die einseitige Neuziehung von Grenzen würde nicht zur Stabilität der Region beitragen. Eine Lösung für Probleme des Kosovos kann und muss innerhalb des Rahmens von Serbien und der 'Bundesrepublik Jugoslawien' gefunden werden", ließ Bill Clintons Chefdiplomatin mitteilen.

Nachdem in Rambouillet im Februar 1999 Verhandlungen gescheitert waren, die einen Krieg zwischen Jugoslawien und der NATO in letzter Minute hätten abwenden sollen, ließ Milosevic immer mehr Truppen ins Kosovo verlegen oder in Bereitschaft versetzen. Laut Kriemann verfügte er schließlich über kampfkräftige Truppen von mehr als 40 000 Mann mit 517 Kampfpanzern, 377 Schützenpanzern und Luftwaffe, hervorgegangen aus der über Jahrzehnte hochgerüsteten Armee von Titos Jugoslawien. Gegen die NATO hätte sie trotzdem nur mit russischer Unterstützung bestehen können - doch das damalige Russland, so Kriemann, habe zwar gegen den geplanten Angriff der NATO protestiert, "tolerierte aber letztendlich die Anwendung militärischer Gewalt".

Die Allianz hatte dennoch ein Problem: Der Einsatz von Bodentruppen sollte vermieden werden, aus der Luft allein aber war Jugoslawien nicht beizukommen, wie sich bald zeigte. Statt mit ihren numerisch und technisch unterlegenen Kräften den offenen Kampf zu suchen, "blieben die jugoslawischen Verbände im Verborgenen und in Deckung, tarnten sich und täuschten die NATO-Luftaufklärung erfolgreich durch Attrappen. Diese Strategie der Asymmetrie eines Staates mit einem jährlichen Verteidigungsbudget von schätzungsweise 1,5 Milliarden Dollar und 110 000 aktiven Soldaten gegen ein Bündnis mit einem Jahresbudget von 450 Milliarden Dollar und einer Personalstärke von vier Millionen Aktiven verfehlte seine Wirkung nicht", schreibt Kriemann. Als Jugoslawiens Luftabwehr wenige Tage nach Kriegsbeginn einen amerikanischen F-117-Tarnkappenbomber abschoss, jubilierte Belgrads Propaganda, geleitet vom heutigen serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic.

Auch einen Monat nach Kriegsbeginn waren die jugoslawischen Landstreitkräfte noch "nahezu unversehrt und kampfkräftig" urteilte die NATO seinerzeit. Die verminderte Durchschlagskraft der Luftangriffe hatte damit zu tun, dass Fehlschläge ("Kollateralschäden") auch mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in den NATO-Staaten unbedingt vermieden werden sollten. "Das betraf vor allem Deutschland und das Verhalten von Bündnis 90/Die Grünen", urteilt Kriemann: "Insofern gelang es der Partei der Grünen (...) indirekt ein wenig Einfluss auf die Zielauswahl sowie die Art und Weise der Luftkriegsführung zu nehmen." Wichtig war zudem das serbophile Griechenland, da der Hafen von Saloniki ein Angelpunkt für die Versorgung der NATO-Truppen zu Lande war. Um die öffentliche Meinung im Westen zu konsolidieren, hätte es wohl gereicht, die tatsächlichen Gräueltaten der Serben hervorzuheben, doch dem deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping reichte das nicht. Er behauptete, serbische Soldaten hätten Schwangere ermordet, ihnen die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten gegrillt. Eine absurde, durch nichts je belegte Legende.

Die Präzision der Luftschläge ließ sich in der Belgrader Innenstadt noch Jahre später an Ruinen von Gebäuden bestaunen, die punktgenau getroffen worden waren. Dennoch kamen im Laufe des Krieges etwa 500 serbische und albanische Zivilisten um, davon allein 73, als NATO-Piloten einen Flüchtlingstreck für einen Militärkonvoi hielten und beschossen. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, bei der drei Chinesen getötet wurden, drohte eine Eskalation des Kosovo-Konflikts. Angeblich hatten amerikanische Dienste das Botschaftsgebäude mit Serbiens Rüstungsbeschaffungsamt verwechselt. Angesichts der sonstigen Präzision amerikanischer Schläge und der frei stehenden Lage der damaligen chinesischen Botschaft überzeugt das bis heute nicht.

Am Ende hatten mehr als 900 Flugzeuge aus 14 Nationen bei 38 000 Einsätzen mehr als 28 000 Bomben und Flugkörper abgeworfen. Unter anderem Graphitbomben, um Kraftwerke, Umspannanlagen und die Telekommunikation außer Gefecht zu setzen. Gut 60 Prozent der Einsätze flog die US-Luftwaffe. Es folgten Frankreich mit 8, die Niederlande und Großbritannien mit 5, Italien mit 4 und Deutschland mit 3 Prozent.

Dennoch wurden die operativen Fähigkeiten und die Logistik der jugoslawischen Bodentruppen kaum beeinträchtigt, was die NATO bei einem Bodenkrieg teuer hätte zu stehen kommen können. Doch Milosevic lenkte letztlich ein. Der Krieg endete im Juni 1999 mit dem Rückzug von Serbiens Truppen aus dem Kosovo, das sich 2008 für unabhängig erklärte.

Für manchen Geschmack und vor allem für manches Zeitbudget wird dieses Buch zu ausführlich sein. Man muss sich bis Seite 177 vorarbeiten, bis Kriemann seine Ausführungen zum Forschungsstand und zur Vorgeschichte des Konflikts abschließt und es tatsächlich um das Kosovo 1999 geht. Der häufige Rückgriff auf Uhrzeiten wirkt mitunter überflüssig. So erfahren wir, dass Joschka Fischer um 10:40 Uhr mit roter Farbe beworfen wurde und "unter Schmerzen und wütend" um 12:05 Uhr seine berühmte Rede begann. Die bisweilen strapazierende Ausführlichkeit dürfte dem Ziel der Herausgeber vom Zentrum für Militärgeschichte der Bundeswehr entgegenstehen, das Buch möge eine hohe Verbreitung in der Öffentlichkeit erreichen. Sprachliche Fehler und Redundanzen dagegen lassen sich in einer zweiten Auflage gewiss vermeiden. Inhaltlich verwundert, dass Kriemann das für die Vorgeschichte maßgebliche Massaker von Racak nur als sogenanntes Massaker gelten lässt oder in Anführungszeichen setzt. Denn selbst wenn man der verschwörungstheoretisch grundierten Lesart folgt, die Albaner hätten in Racak im Januar 1999 ihre eigenen Leute getötet, um die Welt in den Konflikt hineinzuziehen - ein Massaker fand dort in jedem Fall statt.

Unterm Strich aber bleibt: Kriemanns Arbeit ist das mit Abstand ausführlichste und quellenreichste Buch, das bisher auf Deutsch zum Kosovo-Krieg vorliegt. Eine grundsolide Arbeit, versehen mit ausführlichem und exzellentem Kartenmaterial. MICHAEL MARTENS

Hans-Peter Kriemann: Hineingerutscht? Deutschland und der Kosovo-Krieg.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021. 487 S., 45,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Michael Martens hat einige Kleinigkeiten auszusetzen an Hans-Peter Kriemanns insgesamt "grundsolider", quellenreicher Arbeit zum Kosovo-Krieg in deutscher Sprache. Mitunter geht ihm der Autor zu sehr in die Details, etwa wenn er die Farbbeutelattacke auf Joschka Fischer minutengenau dokumentiert oder er für die Vorgeschichte des Konflikts auf dem Balkan allein 177 Seiten benötigt. Redundanzen und sprachliche Mängel vermerkt Martens auch. Davon abgesehen findet er den Band bemerkenswert. Kriemanns umfangreiche Archivrecherchen und Zeitzeugenbefragungen sowie das "exzellente" Kartenmaterial im Band ergeben laut Martens ein umfassendes Bild der Monate März bis Juni 1999.

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