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Staat ohne Gott ist keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse. Die These von Horst Dreier lautet: In der modernen Demokratie darf sich der Staat mit keiner bestimmten Religion identifizieren, und heiße sie auch Christentum. Nur in einem Staat ohne Gott können alle Bürger gemäß ihren durchaus unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen in Freiheit leben. Staat ohne Gott heißt also nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott. Es heißt vielmehr, dass die Demokratie des Grundgesetzes mit jeder Form eines Gottesstaates,…mehr

Produktbeschreibung
Staat ohne Gott ist keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse. Die These von Horst Dreier lautet: In der modernen Demokratie darf sich der Staat mit keiner bestimmten Religion identifizieren, und heiße sie auch Christentum. Nur in einem Staat ohne Gott können alle Bürger gemäß ihren durchaus unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen in Freiheit leben. Staat ohne Gott heißt also nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott. Es heißt vielmehr, dass die Demokratie des Grundgesetzes mit jeder Form eines Gottesstaates, einer Theokratie, einer sakralen Ordnung oder eines christlichen Staates gänzlich unvereinbar ist. Die Entwicklung Deutschlands hin zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft hat neue Konfliktfelder zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt entstehen lassen. Gerade angesichts der intensiv geführten Debatte um den Zusammenprall der Kulturen und die Herausforderung freiheitlicher westlicher Gesellschaften durch den Islam aber ist eine Besinnung auf die Grundstrukturen und Grundfragen des säkularen Staates geboten - auf sein Programm, sein Profil, seine Problematik.
Autorenporträt
Horst Dreier ist Professor für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Für seine Lehre wurde er mehrfach ausgezeichnet. Horst Dreier ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina. Die Ursprünge von Staat ohne Gott gehen auf seine Zeit als Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München zurück.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2018

Gott
im Rucksack
Der Rechtswissenschaftler Horst Dreier plädiert
für den säkularen Staat – mit streitbaren Thesen
VON ROLF LAMPRECHT
D as muss einer wollen und können – den Anspruch eines Buches gleich am Anfang und ganz beiläufig auch noch erschöpfend zu präzisieren. Beim gerade erschienenen „Staat ohne Gott“ – „keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse“ – ist dem Würzburger Rechtsprofessor Horst Dreier das Kunststück gelungen. „Staat ohne Gott“, schreibt er, heiße nicht „Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott und schon gar nicht: Mensch ohne Gott.“ Wohl aber ziele „die titelgebende Wendung“ auf den Umstand, dass sich der Staat in der modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie „mit keiner bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren darf“.
Ein großes Wort, das an der Präambel des Grundgesetzes nicht vorbeikommt; die gelobt feierlich: Das deutsche Volk habe sich diese Verfassung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben. Welcher Gott mag da 1949 gemeint gewesen sein: der „christliche“ oder der „liebe“, zu dem Kinder und Ungläubige beten? An Allah hat damals bestimmt noch keiner gedacht.
Wie neutral kann ein Staat sein, der mit Gott im Rucksack angetreten ist? Dreiers Vademekum weckt Neugier. Er selbst ist kein unbeschriebenes Blatt. 2008 wäre er um ein Haar ins Bundesverfassungsgericht gewählt worden – auf die Planstelle des künftigen Präsidenten. Doch schnell stellte sich heraus, dass er die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlen würde. Den orthodoxen katholischen Flügel der Union störte seine Haltung zur Stammzellenforschung, viele Linksliberale misstrauten seinem vielfach geäußerten Bekenntnis zum Folterverbot. Der Grund: Ein Halbsatz, in dem er etwa für den Fall, dass die Menschenwürde eines Geiselnehmers und die seiner Geisel gleichzeitig auf der Waagschale liegen, den Gedanken einer „rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vorneherein ausschließen“ wollte.
Alles in allem: ein eigenwilliger Mann. Als solcher erweist er sich auch bei seinem Plädoyer für den „säkularen Staat“. Der verhält sich, wie er meint „zur absoluten Wahrheitsfrage distanziert“; er will und kann sie nicht beantworten, „weil ihm dafür schlicht die Kompetenz fehlt“. Unter Berufung auf den legendären Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde fasst Dreier zusammen: „Religionsfreiheit der Bürger und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates sind die beiden Säulen, auf denen die Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates beruht.“
In einem eigenen Kapitel „Der Präambel-Gott“ stellt sich Dreier den naheliegenden kritischen Nachfragen. Er bemüht die Geschichte und verweist darauf, dass alle früheren deutschen Verfassungen ohne Gottesbezug ausgekommen sind – die von Weimar, die Bismarcks und die der Paulskirche. „Es handelte sich also um ein Novum“, das auf „verschlungenen Pfaden“ zustande gekommen ist – nach überwiegender Interpretation sei es nicht mehr als „eine Demutsformel“. Diese wiederum liefere, zitiert Dreier den früheren Vizepräsidenten des Gerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, „keine verfassungskräftige Erkenntnis, dass es Gott gibt“.
Der „Allmächtige“ taugt kaum zur Legitimation des modernen Rechts. Gänzlich auf ihn verzichten wollen die Politiker aber auch nicht. Die Mitglieder der „Gemeinsamen Verfassungskommission“, die nach der Wiedervereinigung über das weitere Schicksal des Grundgesetzes berieten, lehnten noch 1991 mit breiter Mehrheit die Streichung des Gottesbezugs ab. Sie nahmen ihrem Votum die Schärfe – durch einen treffenden und zugleich begütigenden Vorbehalt: Diese Verfassung ergehe nicht im Namen Gottes.
Gleichwohl sind die Überlieferungen des christlichen Abendlandes offenbar noch tief verwurzelt; das erklärt nicht nur die Scheu vor Veränderungen, sondern auch den widersprüchlichen Umgang des Staates mit seiner Neutralitätspflicht in Glaubensfragen. In fünf Landesverfassungen wird fast wortgleich die Ehrfurcht vor Gott als „vornehmstes Ziel“ der Erziehung deklariert. Was gilt nun? Nicht nur bei diesen Passagen gibt es Fragen. Dreier ironisiert, wie Richter und Kommentatoren herumeiern: „Den einschlägigen Bestimmungen werden sozusagen ihre Glaubenszähne gezogen, indem man sie abpuffert und herunterdimmt zu allgemeinen Kulturwerten.“ Was allerdings die Verbindlichkeit von Texten, die schwarz auf weiß in Verfassungen stehen, nicht illusorisch macht.
Aus gutem Grund setzt sich Dreier auch mit Einwänden auseinander, die der Rechtsgelehrte und Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof in die Debatte geworfen hat. Nach dessen Ansicht ist es „für den Staat wesentlich, ob die Kirchen zum Krieg oder zum Frieden auffordern“, ob sie „Fanatismus oder eine Kultur des Maßes“ propagieren, ob sie „die Verfassungsprinzipien von Rechtsstaat, Demokratie und Sozialstaatlichkeit zurückweisen oder aber anerkennen“. Kirchhof hat da, ohne ihn zu nennen, ersichtlich den Islam und seine unübersehbaren Varianten im Auge. Und er spricht aus, was viele irritiert.
Dreier sieht den Staat bei den vielfältigen Äußerungsformen von Religionen nicht in der Pflicht. „Das hieße ja im Klartext: Je heftiger der Widerspruch Dritter ausfällt, desto geringer die Religionsfreiheit.“ Es gehöre aber, doziert er, zu den ehernen Prinzipien der Grundrechtsdogmatik, „die Reichweite grundrechtlicher Freiheit nicht vom Einverständnis oder Wohlwollen Dritter abhängig zu machen“. Der Staat habe hier „keine Noten zu vergeben und keine buchhalterischen Bilanzen aufzumachen“.
Das erscheint konsequent bis zur Selbstaufgabe. Und weckt Erinnerungen: Bei der Glaubens- und Religionsfreiheit verlaufen die Fronten offenbar wie beim Streit um die Meinungsfreiheit. Da tolerieren manche Interpreten extreme Positionen bis zur Grenze der Strafbarkeit; aus ihrer Sicht genießen Täter des Wortes eine nahezu schrankenlose Narrenfreiheit.
Eine kompromisslose Haltung, die ernüchtert. Sie lässt die Wärme vermissen, die etwa von einem Begriff wie Verfassungspatriotismus ausgeht. Wohl mit Absicht. Die Verfechter der distanzierten Position argumentieren, das Grundgesetz verzichte „auf allgemein verbindliche Sinnstiftungsansprüche“. Dreier pointiert: „Das Grundgesetz ist keine Bibel, das politische Leben kein Gottesdienst, der Verfassungsexeget kein Hohepriester.“
Das hört sich endgültig an. Trotzdem treibt den Autor eine letzte Frage um: Worin die Ordnung des Grundgesetzes, das „ganz auf Freiheit und Offenheit setzt“ eigentlich ihren Halt finden soll? Auch Dreier kennt keine „umfassende Lösung“. Stattdessen verweist er auf eine „seit Langem geläufige Formel“: das „Böckenförde-Diktum (dem er ein ganzes Kapitel widmet). Der große Staats- und Verfassungsrechtler hatte 1967 geschrieben: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und er folgerte: Das sei das „große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“.
Das Diktum ist mehr als ein halbes Jahrhundert alt. Da ist die Frage erlaubt: Heißt „großes Wagnis“ nicht womöglich, dass es gilt, um diese Freiheit zu kämpfen? Insofern enttäuscht Dreier. Beispiel Islam. Denkbar wäre, eine Religionsgemeinschaft auf die Verfassung zu verpflichten, deren Schutz sie genießt und beansprucht; sie würde damit dreierlei akzeptieren: die Alleingeltung des deutschen Rechts, die Gleichberechtigung der Frau und die Gleichrangigkeit anderer Bekenntnisse. Doch dem Rechtsphilosophen missfällt, wenn „einer rechtlich folgenreichen Differenzierung zwischen kulturadäquaten und kultur-fremden Religionen das Wort geredet“ wird.
Er resümiert: Eine freiheitliche Verfassung betrachte man am besten „ganz nüchtern als Form friedensstiftender und freiheitsgarantierender Herrschaftsrationalisierung“. Wird dieser „nüchterne“ Blick einer Verfassung gerecht, die sich an einem beeindruckenden Wertekanon orientiert? Der Gedanke, dass diesem langsam gewachsenen Fundus eine stabilisierende, ja „sinnstiftende“ Wirkung zukommen könnte, liegt nicht fern. Aber er ist Dreier, der jede „Moralisierung und Ethisierung der Rechtsordnung“ ablehnt, vermutlich zu sentimental.
Auch diese Tatsache, dass er Widerspruch provoziert, gehört zum Reiz seines Buches. Dreier füllt Wissenslücken, präsentiert ein spannendes Thema und liefert reichhaltigen Stoff – zum Nachdenken wie zum Streiten. Was will man mehr?
Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Berichterstatter an den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.
„Das Grundgesetz ist keine Bibel,
das politische Leben kein
Gottesdienst“, schreibt der Autor
Dreiers Blick auf die
Verfassung ist nüchtern.
Vielleicht zu nüchtern?
Horst Dreier:
Staat ohne Gott.
Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck München 2018.
256 Seiten, 26,95 Euro.
E-Book: 21,99 Euro.
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, …“ Das Grundgesetz vor seiner Unterzeichnung am 23. Mai 1949 in Bonn.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2018

Wovon lebt der weltanschaulich neutrale Staat?
Nur nicht subjektiven Betroffenheiten nachgeben: Horst Dreier denkt nüchtern über die säkulare Verfassung in religiös bewegten Zeiten nach

Auf der obersten Ebene der Zeit- und Zeichendeuterei wird viel geraunt und gemunkelt, und zwar seit Jahren über die Wiederkehr des Numinosen, der alten und neuen Götter, des Mythos und des Heiligen. Hier hat ein "religious turn" alle Disziplinen erfasst. Auf der mittleren Ebene geht es um die leidige Frage, ob "der" Islam zu "uns" gehört oder nur bei uns wohnt. Auf der unteren Ebene geht es um Kopftuch und Burka, um die Befreiung vom Schwimmunterricht oder die Zumutbarkeit eines Kreuzes in Schulzimmern und Gerichtssälen. Von all dem ist in Horst Dreiers grundsätzlich angelegtem Buch zwar auch die Rede.

Doch im Zentrum steht das Grundsatzproblem, wie ein Staat zu denken ist, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährt, aber trotz des Drucks neuer Fundamentalismen sein weltanschauungsneutrales Profil bewahrt, indem er alle Formen metaphysischer Sinnstiftung energisch in den Bereich der Gesellschaft verweist. Das führt den Juristen Dreier am Ende zu der bekannten Frage, ob die Verfassungs- und Legalordnung des Staates mit ihrem Vertrauen auf "Verfahren" nicht doch bestimmter außerrechtlicher Kraftspender bedarf, um zu funktionieren, heißen sie nun Heimat, Herkunft, Sprache oder Geschichte.

Dreier beschreibt zunächst das kirchen- und staatskirchenrechtlich enge Verständnis von "Säkularisation". Seit dem neunzehnten Jahrhundert hat es sich jedoch enorm ausgeweitet und entsprechend an Schärfe verloren. Diesem semantischen Ausgangspunkt folgt die historische Entwicklung der Religionsfreiheit, die sich nach der gegenseitigen Tolerierung von Katholizismus und Luthertum schrittweise auch für die Reformierten, später für das Judentum und ganz am Ende - in der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz - auch für Weltanschauungen und für die Freiheit, "nichts zu glauben", öffnete.

Nach diesem Entrée kommt Dreier zur Sache selbst und rekonstruiert noch einmal das Fundament des modernen (deutschen) Staates "ohne Gott". Seit 1919 gibt es kein landesherrliches Kirchenregiment mehr und keine "Staatskirche". Der Staat darf sich in Glaubenssachen nicht einmischen, und niemand darf wegen seiner Glaubens- oder Weltanschauungsüberzeugung diskriminiert werden. Staat und Gesellschaft stehen in Distanz, aber der Staat hat jeder transzendenten Überzeugung ihren Entfaltungsraum zu sichern, vorausgesetzt, sie dient nicht zur Bemäntelung wirtschaftlicher Interessen oder verstößt gegen das geltende Recht. Damit hat man zwar noch keine scharfen Grenzen, aber diese Grenzen lassen sich immer noch von Fall zu Fall richterlich konkretisieren.

Freilich sind die deutschen Länderverfassungen und das Grundgesetz aufgrund ihrer Vorgeschichte in einem konfessionell inhomogenen Land voller Abweichungen vom reinen Neutralitätsprinzip, durchweg zugunsten der traditionellen großen Bekenntnisse. Hinzu kommen die Konkordate mit dem Heiligen Stuhl sowie die Verträge mit Kirchen und jüdischen Gemeinden. Deutschland praktiziert, wie man gesagt hat, eine "hinkende Trennung", ist aber offen für alle Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Auch wenn Letztere in der politischen Diskussion unterschiedlich bewertet werden mögen, so darf doch der religiös-weltanschaulich neutrale Staat sie nicht grundlos unterschiedlich behandeln. Wie schwierig dies im Einzelnen ist, nicht nur wegen ihrer Texte, sondern auch wegen der offenen oder subkutanen Prägung ihrer Interpreten, wird von Dreier scharfsinnig dargelegt. Aber er spricht sich klar dagegen aus, verfassungsrechtliche Argumente derart zu instrumentalisieren, dass der neutrale Staat unter der Hand wieder zu einem "christlichen Staat" wird, etwa bei der Interpretation des Gottesbezugs in der Präambel des Grundgesetzes. Zur Lösung der auftretenden Abwägungsprobleme votiert er mit Recht für eine objektivere, normorientierte Sicht, also für eine Abkehr von der Einfühlung in schwankende subjektive Betroffenheiten.

In seiner dem Ethos der Nüchternheit und Freiheitlichkeit verpflichteten Sicht rechnet Dreier auch deutlich mit einem an den Rändern der Staatsrechtslehre aufsteigenden Wirrwarr von Metaphern des Mythos, des Numinosen und Heiligen ab. Das ist erfrischende Polemik ("agambenhafter Obskurantismus") und Warnung vor einer Sakralisierung der Verfassung.

Dreier verteidigt hier gewissermaßen die Aufklärung und das auf ihr ruhende moderne rationale Verfassungsverständnis gegen eine Remythisierung des Staatsdenkens, das entweder auf eine auf Unterwerfung gerichtete "Theorie des Bürgeropfers", auf eine Sakralisierung des Souveräns oder auf ein Verständnis des Menschen als "sakrale Monade" hinausliefe.

Am Ende geht es um die Frage, wie eine staatliche Rechts- und Verfassungsordnung "neutral" funktionieren kann, wenn sie von einer politisch und religiös brodelnden Gesellschaft umgeben ist. Dass die in einer Gesellschaft herrschenden Ansichten sich über die regulären Verfahren auch in Recht umsetzen, ist zu erwarten. Aber der auf Freiheitlichkeit, Gleichheit und religiös-weltanschauliche Neutralität angelegte Verfassungstext muss dem wiederum standhalten, wenn Rechtsänderungen, die diesen Prinzipien widersprechen, als verfassungswidrig verworfen werden können. Dazu bedarf es eines widerständigen Ethos der Interpreten, die in der Lage sind, sich von ihren individuellen Überzeugungen zu distanzieren, wenn sie als Verfassungsrichter entscheiden.

Wie also ist eine "neutrale" Verfassungsordnung im religiös bewegten gesellschaftlichen Kontext zu denken, und aus welchen Wurzelfasern nährt sich dieses Ethos der Interpreten? Um hier eine Lösung zu gewinnen, setzt sich Dreier am Ende des Buchs noch einmal mit jenem Satz Ernst-Wolfgang Böckenfördes auseinander, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Schon mit der Rückführung dieses Satzes auf seine Ursprünge im Jahr 1967 und mit der Darstellung seiner Missinterpretationen präsentiert Dreier ein Muster klarer Argumentation. Eine Patentlösung bietet der formelhaft gewordene Satz gewiss nicht, vor allem aber keine Basis für einen "christlichen Staat". Gemeint war eher "die gelebte lebendige Kultur", die von allen gesellschaftlichen Kräften getragen wird, so sie denn lebendig sind. Dem fügt Dreier nichts hinzu, aber er streicht auch nichts von dem hier überzeugend entwickelten Verständnis des Staates und seines Religionsverfassungsrechts.

MICHAEL STOLLEIS

Horst Dreier: "Staat ohne Gott". Religion in der säkularen Moderne.

C. H. Beck Verlag, München 2018. 256 S., geb., 26,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wenn der Rechtswissenschaftler Horst Dreier für den säkularen Staat trommelt, hört Rolf Lamprecht aufmerksam zu. So streitbar Dreiers Thesen, so nachvollziehbar erscheinen Lamprecht Dreiers Tiefenbohrungen in die deutsche Verfassungsgeschichte, um zu belegen, dass der Gottesbezug darin nie eine Rolle gespielt hat. Dreiers Auseinandersetzung mit Paul Kirchhofs Debattenbeiträgen lässt Lamprecht die Kompromisslosigkeit des Autors erkennen. Das Buch leistet für ihn dreierlei: Es füllt Wissenslücken, regt zum Nachdenken an und provoziert Widerspruch.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Weckruf zum öffentlichen Streit über das, was es heißt, auf menschliche Weise zusammen zu leben"
Theologische Literaturzeitung, Ingolf U. Dalferth

"Ein bestechender Appell."
Manfred Koch, Neue Zürcher Zeitung, 27. Mai 2018

"In beispielgebender Präzision und begrifflich fein differenzierender Weise arbeitet Dreier die geistes- und verfassungsgeschichtlichen Grundlagen der These heraus."
Otfried Höffe, Neue Zürcher Zeitung, 27. April 2018

"Horst Dreier liefert eine hervorragende Analyse und gleichzeitig ein Plädoyer für den freiheitlichen säkularen Staat."
Annette Wilmes, Deutschlandfunk, 7. Mai 2018

"Lehrreich für ein breites Publikum und interessant für Kenner."
Christoph Möllers, Die ZEIT, 19. April 2018

"Eine anspruchsvolle, aber aufregende Lektüre."
Kirsten Dietrich, Deutschlandfunk Kultur, 7. April 2018

"Dreier füllt Wissenslücken, präsentiert ein spannendes Thema und liefert reichhaltigen Stoff - zum Nachdenken wie zum Streiten. Was will man mehr?"
Rolf Lamprecht, Süddeutsche Zeitung, 19. März 2018