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Am 1. Januar 1938 führt eine Dienstreise Josef Erdmann in seine Geburtsstadt Maribor, das ehemalige Marburg a. d. Drau. Das vergebliche Warten auf einen Geschäftspartner wird für ihn zu einer Suche nach Orten seiner Kindheit sowie zu einer Verkettung schicksalshafter Begegnungen.

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Produktbeschreibung
Am 1. Januar 1938 führt eine Dienstreise Josef Erdmann in seine Geburtsstadt Maribor, das ehemalige Marburg a. d. Drau. Das vergebliche Warten auf einen Geschäftspartner wird für ihn zu einer Suche nach Orten seiner Kindheit sowie zu einer Verkettung schicksalshafter Begegnungen.
Autorenporträt
Klaus Detlef Olof, geboren 1939, lebt in Zagreb und in Graz. Slawist und Übersetzer, u.a. von Dzevad Karahasan, Miljenko Jergovic, Zoran Feric und Igor Stiks.

Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a.: 1993 Preseren-Preis, 1994 Europäischer Preis für Kurzprosa, 2003 Herder Preis, im Jahr 2011 wurde ihm der Prix Européen de Littérature verliehen. Seine Essays und Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2012

Die blaue Kugel
in der Hand des Heiligen
Maribor in Slowenien ist Kulturhauptstadt Europas 2012:
In Drago Jancars Roman liegt sie in blutrotem „Nordlicht“
Eines Morgens kommt Erdmann an. Dem Bahnhof gegenüber sieht er eine dunkle Hauswand, hoch oben zwei erleuchtete Fenster. „Für einen Moment schien ihm, als schauten ihn die Augen einer kauernden Stadt an.“ Erdmann tritt hinaus in Schnee und Matsch. „Als er um die Ecke des Hauses mit den hellen Augen bog, wankte ihm in der Dunkelheit eine menschliche Gestalt entgegen.“
Drago Jancar, 1948 in Maribor geboren, ist derzeit der bekannteste Schriftsteller Sloweniens, als dessen erster Präsident nach der Unabhängigkeit er im Gespräch war. Das hat mit Jancars geradezu unbalkanischer, der Aufklärung verpflichteter Sicht von Politik zu tun. Gut informiert und argumentativ bestechend klar, wirken Jancars Essays, die vor einigen Jahren unter dem Titel „Brioni“ erschienen sind. Es geht um die Hinterlassenschaften des Kommunismus – ohne sentimentales Ständchen für den, zumindest in den ersten Jahren, brutalen Autokraten Tito.
„Nordlicht“, einer der frühen Romane Jancars, der jetzt, nach knapp dreißig Jahren, in neuer, sehr gut lesbarer Übersetzung erscheint, baut eine ganz andere Weltsicht auf. Wie im Eingangszitat schafft Jancar mit seiner bilderreichen, kräftig zupackenden Sprache, gleich auf den ersten Seiten eine unheimliche Atmosphäre vor expressionistischer Szenerie. Erdmann, dessen Vornamen Josef spät bekannt wird, muss sich in dieser Welt bewähren. Das ist nicht einfach. Jancar setzt ihn aus wie einen ersten Menschen, allein in fremder Umgebung. Dabei ist Erdmann, wie Jancar, ein Kind von Maribor, wie die Stadt bald heißt. Doch Erdmann war schon lange Jahre nicht mehr da, ist, als Handelsreisender in Speziallaboreinrichtungen, auch nur vor Ort, um sich mit seinem Chef zu treffen, der noch nach Tagen nicht erscheint, nichts von sich hören lässt.
Der Roman beginnt am 1. Januar 1938, doch von Politik ist anfangs nicht die Rede. Erdmann ist einsam, lernt auf dem Flur seines schäbigen Hotels andere Leute kennen, die sich nur über düstere Mystik unterhalten. Wieso? „Weil in uns allen noch diese schummrigen Bauernstuben stecken, in denen man sich des Abends (. . .) wohlig-schaurige Erscheinungen vor Augen ruft, um leichter einzuschlafen? Deshalb?“ Vielleicht, denkt Erdmann, wollen sie auch nur „etwas Aufregung und etwas weniger Licht“.
Unmerklich lässt Jancar seinen sensiblen Erdmann in für ihn gefährliche, weiter verunsichernde Gesellschaft gleiten, macht ihn dabei zum Alter Ego des Lesers: „Jeder von uns trägt den Keim des Wahnsinns in sich. Wir, die wir einsam sind, wissen das am besten. Wenn wir unser Gesicht im Spiegel betrachten und nicht wissen, wohin wir gehen und woher wir kommen.“
Erdmanns Verlorenheits-Pathos hat etwas deutlich Existentialistisches. Unauffälliger verstört als Roquentin in Sartres „Ekel“, ist Erdmann ähnlich ortlos, seinen Begegnungen mit Menschen ausgeliefert. Zuerst lernt er, eine überflüssige Anlehnung an Kafkas schmale Schultern, Franjo Samsa kennen, einen Ingenieur der Hutter’schen Textilwerke. Samsa ist kein Käfer mehr und lobt doch seinen Chef und dessen Sozialleistungen auf unterwürfige Art. Währenddessen muss Samsas Frau Marjeta für ihn die Mieten eines ärmlichen Wohnhauses eintreiben. Marjeta fühlt sich unwohl – integriert, aber nicht dazugehörig. Mit Erdmann beginnt sie ein Verhältnis. In einer wunderbaren, tragikomischen Szene zeigt Jancar, dass es ihr nur darauf ankommt, dass alles anders ist als mit Samsa – und dass Erdmann dies versteht.   Erst allmählich verankert Jancar seinen stimmungsreichen Spät-Existentialismus in der Gegenwart der ersten Monate des Jahres 1938. Bei einer Fahrt in die Weinberge der Umgebung, zu der ihn Samsas mitnehmen, erkennt Erdmann, dass die slowenisch- wie die deutschstämmigen Grundbesitzer nur hier miteinander sprechen.
Die Gesellschaft ist in allen Schichten von Zerwürfnissen durchsetzt. Als Erdmann über den nach der russischen Revolution angespülten, düsteren Gottesmann Fedjatin den Arbeitslosen Glavina kennen lernt, der Gott, die Deutschen, die Juden und alle anderen hasst, erkennt er, dass Gefahr droht. Selber wird Erdmann, als die Affäre mit Marjeta auffliegt, von der besseren Gesellschaft einfach wieder ausgesondert. Noch einmal versucht Marjeta, mit ihm zu fliehen, doch ist sie mindestens so schwach wie er.
Deutlich spielt der vernunftorientierte Jancar hier mit Symbolen, die die Unberechenbarkeit, das Irrationale der Weltgeschichte andeuten. Erdmann kann sich an seine Kindheit kaum mehr erinnern. Nur die blaue Kugel in der Hand eines Heiligen einer vergessenen städtischen Kirche kehrt immer wieder. „Und so weiß ich, dass auch ich auf den Boden der Erinnerung sehen muss. In dieser Stadt ist er, und ich werde ihn finden.“ Als Erdmann die Kirche schließlich aufspürt, sieht er erstaunt, dass sein Heiliger kein „goldener Riese“ ist, der die Weltkugel mit Leichtigkeit hält, sondern ein alter, gekrümmter Mann mit grauem Haar: „Ich sah, dass er sie nicht würde festhalten können. Sie glitt ihm aus den Händen, und fiel unendlich langsam (. . .).“ Das Kirchenschiff schwankt, gleitet zum Fluss hinunter, Erdmann wirft sich auf den Boden und rollt sich „wie ein Embryo“ zusammen.
Immer wieder lässt Jancar Erdmann in ein Zwischenreich albtraumhaften Halbschlafs fallen, macht ihn dabei zum Medium der Geschichte, ohne dass er sich dagegen schützen könnte. Er ist einer, der erkennt, aber nicht helfen kann.
Geschickt spielt Jancar mit zweierlei Erzählebenen. Die eine erzeugt durch historische Details und eine geraffte, bis in die Nachkriegszeit führende Geschichte einzelner Plätze der europäischen Kulturhauptstadt 2012 und ihrer Bewohner, ein Klima der Wahrscheinlichkeit und Alltagsnähe, das erst den Boden für die „verrückteren Erscheinungen“ Erdmanns schafft. Im blutroten „Nordlicht“, das im Februar 1938 über Mitteleuropa hinaus zu sehen ist, kündigt sich der Untergang der alten Welt für alle an. Die Gesellschaft gerät aus den Fugen, ein bestialischer Mord geschieht. Erdmann wird verdächtigt, damit zu tun zu haben.
HANS-PETER KUNISCH
DRAGO JANCAR: Nordlicht. Roman. Aus dem Slowenischen von Klaus-Detlef Olof. Folio Verlag. Wien und Bozen 2011. 261 Seiten, 22,90 Euro.
„Jeder von uns trägt den Keim des
Wahnsinns in sich. Wir, die wir
einsam sind, wissen das am besten“
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Karl-Markus Gauß freut sich, dass Drago Jancars bereits 1984 veröffentlichter Roman "Nordlicht" nun in einer gelungenen Übersetzung vorliegt. Gauß erlebt hier nicht nur die düstere Stimmung in der slowenischen Stadt Maribor, in der die zerrissene Bevölkerung im Jahre 1938 unter dem blutroten Leuchten des Nordlichtes den drohenden Einmarsch der deutschen Wehrmacht erwartet, sondern begleitet auch Jancars zerrütteten Protagonisten Joseph Erdmann von einem – von Jancar herausragend beschriebenen – Rausch zum nächsten, der abwechselnd ausgelöst wird von hemmungslosen Saufgelagen und seiner Liebe zur verheirateten Marjeta. Tief beeindruckt ist der Rezensent allerdings auch von der Vielzahl an Nebenfiguren, die der Autor in ihrem persönlichen und moralischen Verfall angesichts der drohenden politischen Katastrophe porträtiert. Selten hat der Kritiker einen so kunstvollen Roman über "eine Welt am Abgrund" gelesen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2023

Ich will sofort die blaue Weltkugel haben, sagt das Kind
Kneipentour mit Rasputin: In seinem Roman "Nordlicht" schickt Drago Jancar einen verwirrten Fremden im slowenischen Maribor auf Höllenfahrt

Den Mann, der ihn in seinem Hotelzimmer aufsucht, hat Josef Erdmann kurz zuvor zum ersten Mal gesehen. Er hat ihn vertraulich angesprochen, im Park an der Eislaufbahn, hat ihn gefragt, ob er nach dem Essen in seinem Hotel sein werde, und ist dann tatsächlich dort erschienen.

Jetzt schließt der Fremde die Tür hinter sich, wechselt augenblicklich vom "Sie" zum "Du", nennt irgendwelche Namen und spricht von "Konspiration", die es zu beachten gelte. Schließlich richtet er Erdmann etwas von einem gewissen Filip aus: Man habe auf der Hochzeit beschlossen, "dass es noch eine Menge Tanz geben wird. Aber vorerst einmal, innerhalb der nächsten vierzehn Tage, beginnt der große Abverkauf der Drucksachen zu stark gesenkten Preisen. Das Datum wird kurz vor dem Abverkauf festgelegt. Die Verkäufer stehen bereit, und die Käufer ahnen nichts. Klar?"

Was immer damit kodiert werden soll, Erdmann kann nichts damit anfangen und weiß erst recht nicht, was nun von ihm erwartet wird. Das jedenfalls berichtet er in Drago Jancars Roman "Nordlicht", wo er als Icherzähler auftritt. Dass sein Bericht nur einen Teil der Geschehnisse wiedergibt, ahnt man rasch, und dass auch dieser Ausschnitt massiv von Erdmanns spezieller Wahrnehmung eingefärbt ist, teilt sich ebenfalls mit. Ihm zur Seite steht kapitelweise ein zweiter Erzähler, der andere Figuren in den Fokus nimmt, die Erdmann begegnen, von denen er aber nichts Näheres weiß, und der sich von der eigentlichen Handlung löst, um in die Vergangenheit und die Zukunft der Protagonisten zu blicken.

Das schließt den wichtigsten Akteur ein: die slowenische Stadt Maribor, auf Deutsch Marburg an der Drau, auf deren Bahnhof Erdmann am Neujahrstag 1938 strandet und die er ein gutes Vierteljahr später, kurz vor Ostern, vom selben Bahnhof aus wieder verlässt. Der Kreis schließt sich auch in anderer Hinsicht. Im Januar hatte ihn Fedjatin, eine Art Rasputingestalt, empfangen, mit den jahreszeitlich unpassenden Worten "Christus ist auferstanden". Nun sind sie bald am Platz.

Trägt man das Bild zusammen, das die beiden Erzähler von den Ereignissen in diesem Zeitraum überliefern, dann kann man durchaus von einer Höllenfahrt sprechen, ganz sicher für Erdmann und, wenn auch weniger dramatisch und schleichender, für die Stadt. Josef Erdmann, der von sich behauptet, als österreichischer Verkäufer von Speziallaboreinrichtungen in Maribor mit seinem aus Triest anreisenden Chef Jaroslav verabredet zu sein, wartet auf ihn vergeblich. Er schickt Telegramme, die als unzustellbar zurückkommen, und als sich am Ende herausstellt, dass die betreffende Firma schon längst nicht mehr existiert, ist das keine große Überraschung. Erdmann beginnt eine Affäre mit der verheirateten Margerita - die Worte "das Dach reparieren" etablieren sie als Chiffre für ihre Liebesbegegnungen - und verbringt viel Zeit in einer stinkenden Kaschemme, wo er mit Fedjatin und dessen gewalttätigem Freund Glavina bis zum Umfallen trinkt.

Maribor, die Stadt, in der Drago Jancar zehn Jahre nach der erzählten Zeit des Romans geboren wurde, entzieht sich Erdmanns Verständnis umso mehr, je länger er sich dort aufhält. Er erlebt sie wie ein Gegenüber, das sich ihm öffnet und wieder entzieht, das ihn abweisend und finster empfängt und am Ende ohne das geringste Bedauern gehen lässt. Der zweite Erzähler, ein Chronist der Stadt und ihrer Bewohner, betont ihre Wandelbarkeit unter den wechselnden politischen Systemen, zählt die Namen auf, die Straßen und Plätze vom Kaiserreich bis zum sozialistischen Jugoslawien nacheinander tragen, je nachdem, wer gerade herrscht, und erspart den Lesern auch nicht die Verirrungen einer sich polarisierenden Bevölkerung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die Aufmärsche, Parolen und Gewaltausbrüche bis hin zum Mord, und auch nicht die Machenschaften einer Obrigkeit, die sich ihrer Erfolge rühmt und der dennoch die Kontrolle allmählich entgleitet.

In alldem spielt wie auch in anderen Romanen Drago Jancars der Zufall keine Rolle, schon gar nicht in den wahnhaften Erlebnissen und Deutungen Erdmanns, und auch die Entscheidung ausgerechnet für Maribor als Treffpunkt der beiden Geschäftspartner ist nicht beliebig, sondern hat einen Grund, der allerdings nichts mit Laboreinrichtungen zu tun hat. Erdmann ist in Osttirol aufgewachsen, wurde aber in Maribor geboren und jagt nun in der Stadt verschwommenen Kindheitserinnerungen nach.

Eine davon ist an ein Altarbild geknüpft, auf dem die Welt als blaue Kugel in Gottes Hand dargestellt ist. Erdmann, so erinnert er sich, besuchte als Kind mit seinen Eltern dort einen Gottesdienst und verlangte dabei lautstark nach der Kugel. Nun widerfährt ihm das Gegenteil, die Welt kommt ihm immer weiter abhanden, er spürt, wie unter ihm der Boden zittert, und meint, eine Achse habe sich verschoben - fraglich sei nur, ob in ihm oder in der Stadt. Und als er einen versoffenen Abend mit Fedjatin und Glavina rekapituliert, heißt es über den Kneipenbesuch: "Dort unten habe ich gefühlt, dass in der Luft dieser Stadt und dieser Welt etwas verkehrt ist, dass sich etwas anbahnt und heraufzieht, und ich weiß wirklich nicht, was Schlimmes geschehen wird."

Drago Jancars Roman erschien ursprünglich vor gut dreißig Jahren, Klaus Detlefs Übersetzung erstmals 2011. Nun kommt sie im Vorfeld des slowenischen Gastlandauftritts während der Frankfurter Buchmesse ein weiteres Mal heraus und spricht eindrucksvoll für die Literatur des Landes wie für das Werk des Autors. Wie hier die Auswirkungen europäischer Zeitgeschichte auf die slowenische Stadt eingefangen und glaubwürdig mit ihren Bewohnern verknüpft werden, ist ebenso beeindruckend wie eine Erzählerfigur, die versucht, im Strudel der Ereignisse die Orientierung zu behalten, und dabei immer mehr ins Abseits driftet.

"Entweder fahre ich weg, oder es passiert etwas mit mir", sagt Erdmann nach wenigen Tagen in Maribor. Für den Leser gilt dasselbe. TILMAN SPRECKELSEN

Drago Jancar: "Nordlicht". Roman.

Mit einem Nachwort von Claudio Magris. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien 2022. 271 S., geb., 24,- Euro.

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