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Erst seit den 1960er Jahren widmen sich die Künste gezielt der technischen Klang- und Bildaufzeichnung. Wo vorher nur Slapstick und Surrealismus war, schießen nun Genres in großer Zahl aus dem Boden. Als behäbig erweist sich dabei eine Kulturkritik, die immer noch versucht, die Filme der Nouvelle Vague, das Cinéma Vérité, Punk, HipHop, Heavy Metal und Minimalismus, Fluxus, Performance Art, Pop Art, Nouveau Réalisme, Arte Povera, Soul-Musik und Concept Art entlang der Unterscheidung von E und U zu sortieren - als entweder hohe oder populäre Künste. In seinen Adorno-Vorlesungen zeigt Diedrich…mehr

Produktbeschreibung
Erst seit den 1960er Jahren widmen sich die Künste gezielt der technischen Klang- und Bildaufzeichnung. Wo vorher nur Slapstick und Surrealismus war, schießen nun Genres in großer Zahl aus dem Boden. Als behäbig erweist sich dabei eine Kulturkritik, die immer noch versucht, die Filme der Nouvelle Vague, das Cinéma Vérité, Punk, HipHop, Heavy Metal und Minimalismus, Fluxus, Performance Art, Pop Art, Nouveau Réalisme, Arte Povera, Soul-Musik und Concept Art entlang der Unterscheidung von E und U zu sortieren - als entweder hohe oder populäre Künste.
In seinen Adorno-Vorlesungen zeigt Diedrich Diederichsen, dass ihr Gemeinsames viel entscheidender ist: das Bemühen, den verstörenden Effekt der Aufzeichnung und Wiedergabe von Körpern, Stimmen und anderen Realweltsplittern einzuarbeiten, zu verstärken, umzuleiten, der Kunst anzupassen oder die Kunst um den - sei es aggressiven oder zärtlichen - Effekt herum zu entwickeln. Im Lichte dieser Effekte von Phonographie und Photographie müssen alte Unterscheidungen über Bord geworfen und auch die Folgen von Kunst neu gedacht werden - egal, ob man Kinder schützen oder Erwachsene politisieren will.
Autorenporträt
Diedrich Diederichsen, geboren 1957 in Hamburg, war in den 1980er Jahren Chefredakteur der Musik- und Popkulturzeitschrift Spex. Er veröffentlicht u.a. auch Texte in der Süddeutschen Zeitung, DIE ZEIT und der taz. Nach seinem Rückzug aus der Spex-Redaktion konzentrierte sich Diedrich Diederichsen auf seine Arbeit im kulturtheoretischen und akademischen Bereich. Seit 2006 lehrt er als Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2017

Tritte ins schlechte Gewissen

Der Kulturkritiker Diedrich Diederichsen findet in seinen Adorno-Vorlesungen zu triftigen Thesen über Künste, die nicht mehr nach alten Kriterien des Populären oder Elitären sortiert werden können.

Früher war alles Bedeutung. Nicht unbedingt in der Natur oder in der Gesellschaft zwar, wo der Blitz oder die Faust des Mitmenschen ganz und gar bedeutungslos ein- oder zuschlagen konnte. Wohl aber im Gehege von Kultur und Kunst, also da, wo dem Ästhetischen zugerechnete Zeichen produziert und interpretiert wurden: Ein Bild stand für einen Glauben, ein Klang für eine Empfindung oder umgekehrt, und Gedichte wurden geschüttelt, auf dass ein Sinn herausfiele. Inzwischen drückt sich ein beachtlicher Teil des Publikums vor der Verantwortung eigene Interpretationen und ästhetische Urteile mit fadenscheinigen Ablenkungsmanövern, redet also etwa lieber davon, wie "verstörend", "berührend", "spannend" oder "nervig" irgendein Kunstprodukt sei, kurz: darüber, "was das mit mir macht".

Dieses oft unbedachte Gerede trifft das neue Buch des Berliner Kulturkritikers Diedrich Diederichsen mit Begriffen, die Hand und Fuß haben, mitten ins schlechte Gewissen, das selbst die größten Erlebnisverzückten im Kulturpublikum wie im Kritikwesen mühsam verdrängen müssen. Denn immer dann, wenn sie ihre Erfahrungssprüchlein aufsagen, wissen sie in Wahrheit sehr wohl, dass sie beim ästhetischen Erleben urteilen und interpretieren, weil ja die Wirkungen, von denen sie da dauernd reden, allemal solche aufs Bewusstsein sind, nicht auf triviale Reflexmaschinen - selbst wenn es sich, so der Titel des Buches, um "Körpertreffer" handelt.

Die ästhetische Moderne begann, als sowohl die Kunstschaffenden wie das Deutungsfachpersonal sich mit Mitteln so zu befassen begannen, als wären es Zwecke, mit Formen, als wären es Inhalte - Malerei über Farbe statt über Begebenheiten, Landschaften, Dinge kam auf, Musik über Töne (erst Noten, später "Sounds"), und selbst Gedichte durften jetzt zugeben, dass sie aus Wörtern hergestellt worden waren. Eine Unterströmung der Kulturanalyse warf sich auf die industriellen unter diesen Mitteln, sie beginnt in Deutschland mit Walter Benjamins "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935) und führt über Friedrich Kittlers "Grammophon Film Typewriter" (1986) bis zu den gedanklichen Tiefebenen von zwanzig Millionen Zeitungsartikeln über die Krise der Schallplattenindustrie.

Diederichsens "Körpertreffer" setzen diese Strömung nicht fort, sondern konfrontieren ihr Treibgut mit genuin ästhetischen Überlegungen, zum Beispiel dem Befund, es gebe "seit die Künste über eine (elektro)technisch-mediale Seite verfügen, einfach andere ästhetische Valeurs - ohne dass die alten aber deshalb gleich verschwinden würden".

Die Bedeutungsproduktion besagter Künste organisiert Diederichsen entlang einer Unterscheidung von Zeichenformen, die aus dem Instrumentarium von Charles Sanders Peirce stammt - es gibt das auf Ähnlichkeit setzende Zeichen (Kreis heißt Sonne), das auf Verabredung setzende Zeichen ("dog" bedeutet Hund, wie übrigens auch "Hund" Hund bedeutet) und endlich das Anzeichen, den "Index" (Rauch ist ein Anzeichen für Feuer).

Diederichsen geht davon aus, dass die Indexikalität von Ton- oder Bildaufnahmen (ein Schrei in einem Soundfile ist Anzeichen dafür, dass jemand irgendwann irgendwo geschrien hat) den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis historisch neher Arten von Kultur darstellt. Diesen Einfall legt er dann nach zwei Seiten hin aus, in Gestalt zweier Thesen: Erstens habe Kunst im letzten Jahrhundert ihre Wirkungsweise von verabredeten und auf Ähnlichkeit gestützten Zeichen hin zu Indizes dergestalt verlagert, dass man dem Vorgehen der Musikindustrie dabei Modellcharakter zuschreiben kann. Diese habe nämlich "nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Stil von Partituren und Kompositionsrechten auf Aufnahmen bzw. Tonträger als Hauptprodukt" umgestellt. Zweitens habe sich diese Umstellung in einem sozialen Vermittlungsraum vollzogen, in dem "mit der zunehmenden Selbstverständlichkeit von Klang- und Bildaufzeichnungseffekten und dem dabei gewonnenen Niveau ihrer künstlerischen Reflexion auch die vormals scharfe Scheidung in ,hohe' und ,niedere' Kunst gefallen" sei.

Man darf das nicht zu beckmesserisch lesen: Dass jene Unterscheidung "gefalllen" sei, heißt nicht, dass man mit ihr heute überhaupt nicht mehr arbeitet. Es bedeutet nur, dass man vieles, was man damit früher anstellen konnte, heute kaum noch damit machen kann (Karriere zum Beispiel). Die technisch-ökonomischen Voraussetzungen der von ihm untersuchten Gewichtungsverschiebungen interessieren Diederichsen allerdings nicht deshalb, weil er die Kunst tout court auf sie reduzieren wollte. Im Gegenteil: Erst die aus der Ästhetiktradition gerettete Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen liefert ihm die hinreichenden Bedingungen für seine Analysen, da er nun mal tun will, was viel zu viele in seinem Fach nicht tun, nämlich zwischen einerseits notwendigen (das technisch-sozial-ökonomische Zeug) und andererseits hinreichenden (das Ästhetische) Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände seiner Kritik unterscheiden. Damit öffnet er sich einen wesentlich größeren Reflexionsraum, als er denen offensteht, die immer noch glauben, mit einsilbig richtungsweisenden Interjektionen wie "Pop!" ließen sich Lektüren von Kunstäußerungen näher an der Empirie ausrichten als ohne. So steigt Diederichsen recht tief in einen spezifischen Schauplatz der von ihm konstatierten Entwicklung ein, den New Yorker Underground der sechziger Jahre nämlich, und prägt auf dem Weg durch die dort vorgefundenen Einzelphänomene den einen oder anderen nützlichen Begriff ("Indexploitation" etwa).

Am Ende seiner Erkundungsfahrt gelangt er bei so etwas wie dem Gegenteil des Apparatefetischismus an: bei der schlechthin antiinstrumentellen Sehnsucht von kulturfähigen Menschen, die "an einem Realismus interessiert sind, der die Narration durchbricht", die derzeit überall einen Event an den anderen reiht, auf der Perlenschnur eines indifferenten Stimmungskulturalismus.

Der Text fordert Widerspruch heraus, der sich unter anderem länger als Diederichsen bei dem Faktum aufhalten könnte, dass digitale Kunstproduktionsmittel nicht (nur) Indizes herstellen, sondern (auch) das, was der Modernismus am allerwenigsten schätzte und was jetzt vielfach aus seinen ästhetischen Gesten wird, nämlich Illusionen. "Solange Index-Akte in Ton und Bild produziert werden", schreibt Diederichsen, "ist es zweitrangig, ob sie ,sauber', also im technisch-medialen Sinne indexikal sind." Zweitrangig für wen?

Die virtuelle Sängerin Miku Hatsune macht als Rechnergeschöpf die von Diederichsen in seinem Standardwerk "Über Popmusik" (2016) erläuterte Wahrheit, dass es bei Popmusik um Typen, nicht um Werke geht, auf eine Weise sinnfällig, die das, was an Naturalismus und Realismus einmal politisch war, rückstandslos verbrennt. Ob Thesen, die ein sehr weites Erscheinungsfeld blitzartig erhellen, von Gegenbeispielen präzisiert oder zerstört werden, soll die Karl-Popper-Nachlassverwaltung entscheiden. Die in "Körpertreffer" erprobten Behauptungen jedenfalls sind Anzeichen für etwas, das geschärfte Aufmerksamkeit verdient.

DIETMAR DATH

Diedrich Diederichsen: "Körpertreffer".

Zur Ästhetik der nachpopulären Künste.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 147 S., br., 17,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Diederichsens Skizzen zu einer Ästhetik des Umgangs mit Aufzeichnungsmedien speisen sich aus seinem Kenntnisreichtum vieler Quellen.« kreuzer