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'Erschlagt die Armen!' ist Titel eines Prosagedichts von Charles Baudelaire, und die Protagonistin dieses Romans scheint ihn wörtlich genommen zu haben: Die junge Frau schlägt einem Migranten in der Metro eine Weinflasche über den Kopf und findet sich in Polizeigewahrsam wieder. Dort soll sie sich erklären: Was treibt eine Frau indischer Abstammung, die in der Asylbehörde als Dolmetscherin zwischen Asylbewerbern und Beamten vermittelt, zu einer solchen Tat? Täglich übersetzt sie das Jammern und die Lügen der Asylbewerber, deren offensichtliches Elend der Behörde nicht reicht - und ist…mehr

Produktbeschreibung
'Erschlagt die Armen!' ist Titel eines Prosagedichts von Charles Baudelaire, und die Protagonistin dieses Romans scheint ihn wörtlich genommen zu haben: Die junge Frau schlägt einem Migranten in der Metro eine Weinflasche über den Kopf und findet sich in Polizeigewahrsam wieder. Dort soll sie sich erklären: Was treibt eine Frau indischer Abstammung, die in der Asylbehörde als Dolmetscherin zwischen Asylbewerbern und Beamten vermittelt, zu einer solchen Tat? Täglich übersetzt sie das Jammern und die Lügen der Asylbewerber, deren offensichtliches Elend der Behörde nicht reicht - und ist angewidert vom System, deren Teil sie geworden ist. Als Migrantin bleibt sie fremd in den Augen der Beamten, aber auch für ihre ehemaligen Landsleute ist sie fremd - als eine, die es geschafft hat. Schließlich scheint es auch für sie in der menschengemachten Enge der Welt keine andere Begegnung als den Angriff zu geben.Ein zorniger Roman, der in kraftvoller, bilderreicher Sprache aufrüttelnde Fragenzu Identität und Zusammenleben in einer globalisierten Welt stellt.
Autorenporträt
Sinha, ShumonaShumona Sinha, geboren 1973 in Kalkutta, lebt seit 2001 in Frankreich. An der Sorbonne schloss sie ihren Magister in Literaturwissenschaft ab. Sie ist Herausgeberin mehrerer Lyrikbände auf Bengalisch und Französisch. Ihr Roman »Erschlagt die Armen!« (2011, dt. 2015) wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, 2016 erhielten Shumona Sinha und Lena Müller den Internationalen Literaturpreis für Roman und Übersetzung. 2016 und 2017 erschienen die Romane »Kalkutta« und »Staatenlos«, 2021 »Das russische Testament«.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2015

Die Lügen der Zugvögel
Shumona Sinha stammt aus Kalkutta und lebt in Paris – wegen ihres
Romans über Flüchtlinge verlor sie ihre Stelle in der Asylbehörde
INTERVIEW: ALEX RÜHLE
Assommons les Pauvres!“ Erschlagt die Armen. So heißt ein Gedicht von Charles Baudelaire. Und so heißt auch das neue Buch der indischstämmigen, 1973 in Kalkutta geborenen Autorin Shumona Sinha: Eine junge Frau hat in der Pariser U-Bahn einem Migranten eine Weinflasche über den Kopf gezogen und soll jetzt im Polizeigewahrsam erklären, warum sie sich derart aggressiv verhalten hat, ausgerechnet sie, die doch selbst Migrantin aus Indien ist. Ein großartiger Roman, bilderreich, aggressiv, witzig und hochintelligent, ein Antidot zu allen Predigttexten zum Thema Migration, ein hochpolitisches Plädoyer für einen anderen Umgang mit dem Thema Asyl.
SZ: Ihre Erzählerin arbeitet für die Pariser Asyl-Anlaufstelle OFPRA. Sie haben selbst in dieser staatlichen Behörde als Übersetzerin gearbeitet, während Sie an „Erschlagt die Armen“ schrieben. Für den Roman haben Sie dann mehrere Preise gewonnen, wurden aber auch gefeuert. Warum?
Shumona Sinha: Ich habe von 2009 bis 2011 bei der OFPRA gearbeitet. Den Roman habe ich geschrieben, weil ich nicht anders konnte. Die Lebensumstände und die Not der Asylbewerber haben mich so überwältigt, dass ich darüber schreiben musste, jeden Abend, wenn ich aus dem Büro nach Hause kam. Über meinen Entlassungsbrief war ich schockiert, sie schrieben, ich hätte ihnen das Manuskript früher geben müssen, damit sie für mich entscheiden, was davon veröffentlicht werden darf und welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Damals war ich sehr wütend, heute kann ich darüber lachen.
Der Übersetzerjob, dem Ihre Erzählerin Tag für Tag nachgeht, ist extrem schwierig. Nicht weil das Übersetzen selbst so anspruchsvoll wäre, sondern weil sie als „Sprachgymnastin“ eine qualvolle Mittlerrolle einnimmt.
Ja, genau diese extrem schwierige Zwischenposition liefert den Schlüssel zum Roman. Dass meine Erzählerin – und ich habe das selbst sehr stark bei der Arbeit erlebt – gleich zweifach unter Generalverdacht steht: Die eine Seite hat die Macht, über das Leben der anderen zu entscheiden. Von ihr wird sie verdächtigt, dass sie den inneren Zwang verspürt, ihren Leuten aus der Patsche zu helfen. Die Asylsuchenden hingegen erwarten automatisch, dass eine Übersetzerin aus ihrem eigenen Volk ihnen hilft, indem sie für sie lügt oder die Geschichten aufpoliert. Ich habe diese ethnische Solidarität nie empfunden, ich verstehe gar nicht, was das sein soll, ja, ich halte sie sogar für umgekehrten Rassismus.
Das wundert mich in dieser Schroffheit. Gibt es bei Ihnen gar keine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl anderen Indern oder Bengalen gegenüber?
Nein. Vielleicht, weil ich von Kindheit an mit Weltliteratur gefüttert wurde. Wenn wir Tagore, Premchand, Victor Hugo oder Maxim Gorki lesen, können wir nicht mehr mit solchen lokalen Begrifflichkeiten operieren und die einen den anderen vorziehen, sondern müssen die ganze Menschheit umarmen.
Ganz schön anspruchsvolles Programm. Zumal es nicht so aussieht, als ob die Menschheit zurückumarmt. In Bangladesch wurden seit Februar fünf Blogger von Fundamentalisten ermordet.
Ja, ich weiß, es ist grauenhaft, wie sich der religiöse Fundamentalismus überall radikalisiert, bei uns in Indien sind es die Hindu-Nationalisten.
Sie stammen aus Kalkutta, kamen 2001 nach Paris und veröffentlichen seit 2008 literarische Texte auf Französisch, obwohl Sie die Sprache erst hier gelernt haben. Warum nicht auf Englisch?
Als ehemalige englische Kolonie ist Indien bis heute total von der englischen Sprache beherrscht. Die indische Verfassung ist eine Kopie der britischen. Von früher Kindheit an, über die Schule, die Uni, das berufliche Leben – überall herrscht das Englische vor. Rimbaud hat gesagt: „Das wahre Leben ist abwesend.“ Ich hab mir daraus eine etwas optimistischere Version gebastelt: Das wahre Leben ist anderswo. Ich schätze, ich habe diesen anderen Ort gebraucht, ich musste frische Luft atmen. Und nur dank der französischen Sprache bin ich in diesem Land angekommen. Ich meine damit nicht die Nation Frankreich. Eher die Idee eines Landes. Das, was du dir darunter vorstellst, mit deinen eigenen Illusionen, Träumen, Hoffnungen.
Fühlen Sie sich in Frankreich zu Hause?
Ja. Französisch ist meine Sprache der Freiheit. Ich fühle mich nicht nur frei, dadurch dass ich auf Französisch schreibe, ich fühle mich auch frei als Frau in Paris. Hier bin ich zu Hause. Auch wenn ich heute nach Kalkutta fahre, fliege ich danach nach Hause, nach Paris.
Warum haben Sie sich für den Titel Ihres Romans eine Gedichtzeile von Baudelaire ausgesucht?
In seinem Prosagedicht „Assommons les Pauvres!“ (wörtlich: Lasst uns die Armen erschlagen) trifft Baudelaire einen Bettler vor der Bar, die er immer besuchte. Um die Würde und Selbstachtung des Bettlers anzustacheln, beschimpft ihn Baudelaire so lange, bis der Bettler zurückschimpft. Erst, als der Bettler sich so zur Wehr setzt, sagt Baudelaire, dass er jetzt sein Geld mit ihm teilen kann. Vielleicht wollte ich in meinem Roman die Würde und den Stolz meiner Landsleute anstacheln, damit sie damit aufhören zu betteln und sich selbst zu erniedrigen. Die Armen aus dem Titel sind all jene, die alles hinter sich lassen und ihr Leben auf Schlauchbooten riskieren; die alles aufs Spiel setzen in der Illusion, Europa sei das Eldorado. Stattdessen sind sie hier wieder die Armen, arbeiten auf dem Schwarzmarkt, leben auf der Straße . . .
Eine der Stärken Ihres Romans ist der nichtpaternalistische, moralisch trockene Ton, in dem Sie über Migranten sprechen. Darin liegt aber auch ein Problem: Ihre Erzählerin sagt Sachen, die aus dem Mund oder der Feder eines Weißen als rassistisch gebrandmarkt würden.
Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, dass ich eine Farbige bin. Nein, ernsthaft: Sie haben recht, wenn ein Franzose dieses Buch geschrieben hätte, müsste man ihn einen Rassisten nennen. Mein „Ich“, das die Dinge von innen betrachtet, hat den französischen/europäischen Lesern dabei geholfen, politisch inkorrekte Dinge zu lesen, ohne sich dafür schämen zu müssen.
Eine Frage an Sie als ehemalige Asylexpertin: Wie viele der Bangladescher, für die Sie übersetzt haben, wurden seinerzeit vonder OFPRA anerkannt?
Im ersten Anlauf? Kein einziger.
Sie dekonstruieren in Ihrem Buch das manichäische Modell, mit dem die europäische Asylpolitik operiert: Es gibt den politischen und damit guten Flüchtling und den schlechten Wirtschaftsflüchtling: Im Roman wissen alle, die in Ihrem Büro stranden, um diese Dichotomie und erfinden „die Märchen der menschlichen Zugvögel“, neue Biografien, um als politische Flüchtlinge Anerkennung zu finden. Diese Episoden sind sehr lustig zu lesen, so absurd und hanebüchen, wie sie oftmals konstruiert sind. Ich stelle mir aber vor, dass das ein unangenehmer Teil Ihrer Arbeit war: Dabei zu helfen nachzuweisen, dass das Lügen sind.
Am schwersten war, Lügen übersetzen zu müssen, von denen ich wusste, dass es Lügen sind. Und dass wir ihnen nicht helfen können, wenn sie die Wahrheit erzählen. In unserer postkolonialen Welt der Globalisierung und freien Marktwirtschaft können Waren und Rohstoffe jede Grenze überqueren; die billigen Arbeitskräfte dürfen auch vorübergehend Arbeit suchen in den reichen Ländern, aber niemand denkt an die Leute, die durch Armut oder Naturkatastrophen gezwungen werden, ihr Land zu verlassen. Über die Asylsuchenden, die Kriegen und Genoziden entfliehen, habe ich ja gar nicht geschrieben. Die Asylsuchenden aus Bangladesch kommen aus einem ökonomischen und ökologischen Desaster. Die wollen ja gar nicht für immer in Europa leben. Warum können wir also nicht beispielsweise eine dreijährige Arbeitserlaubnis erteilen und dieses ganze scheinheilige und verlogene Asylsystem abschaffen?
Bei uns in Deutschland teilen wir die Flüchtlinge auch nach ihren Nationalitäten in gute und schlechte auf: Syrer sind gut und haben Astrophysik studiert, Balkanflüchtlinge sind fiese Trickser, die unser Sozialsystem ausbeuten wollen. Gibt es diese Aufteilung auch in Frankreich?
Aber ja: Thailänder und Vietnamesen sind arbeitsam und ruhig und machen keinen Ärger. Bangladescher und Tamilen bilden fügsame und emsige Gemeinschaften. Araber und Afrikaner sind schlecht in der Schule.
Wie erleben Sie als ehemalige Migrantin die aktuelle Berichterstattung über die Flüchtlingsproblematik?
Wir operieren immer noch mit diesen Zentralbegriffen: Land, Nation, Grenzen, Pässe, Visa . . . Wir können nicht ignorieren, dass jedes Land seine eigenen geografischen und ökonomischen Möglichkeiten oder Begrenzungen hat. So ein Land kann nicht demografisch explodieren. Einfach einen Ort im armen Süden zu verlassen, um dann im Norden einen Scheißjob anzunehmen und in einem hässlichen Kellerloch zu vegetieren, kann nicht die Lösung sein. Ich wünsche mir stabilere Verhältnisse in Bangladesch, neue, saubere Krankenhäuser, Schulen, Unis, Maßnahmen gegen die grauenhaften Naturkatastrophen. Die Probleme müssten vor Ort gelöst werden. Einfach eine ganze Zone auf diesem Planeten zu verlassen und dann in einer anderen Zone aufeinanderzuhocken, ist keine Lösung, auch nicht für die Migranten.
Die Autorin Shumona Sinha.
Foto: Verlag
  
  
  
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2015.
127 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Einen sehr zornigen Roman hat Shumona Sinha geschrieben, erklärt Claudia Kramatschek, die in ihrer Kritik Sympathie für die Autorin nur durchscheinen lässt. Sinha erzählt in "Erschlagt die Armen!" von einer Dolmetscherin in einer französischen Ausländerbehörde, die der Rassismus der Franzosen ebenso ankotzt wie die gefälschten Geschichten und der Chauvinismus der Asylsuchenden. Es ist auch Sinhas eigene Geschichte, die sie hier erzählt. Die Sprache ist provokant und manchmal "sehr verliebt in das eigene Wortspiel", so die Rezensentin. Eigentlich bekommen alle hier ihr Fett weg. Warum der Roman jedoch in Frankreich so viel Aufsehen erregte, dass Sinha in Folge ihren Dolmetscherjob verlor, versteht Kramatschek beim besten Willen nicht. Das sagt doch mehr über die französische Gesellschaft aus als über das Buch, findet sie.

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