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Wenn etwas heute die Europäer vereint, dann nicht das große Haus Europa, sondern die historische Unruhe: die Unruhe des Austritts der Einzelnen aus herkömmlichen politischen Bindungen. Daraus resultiert auch die Krise des Nationalstaats und seines politischen Ordnungssystems, der repräsentativen Demokratie. Europa könnte dagegen die Chance der Demokratie sein, sich noch einmal neu zu erfinden. Anzusetzen wäre dafür ganz oben - und ganz unten: Abgabe nationalstaatlicher Macht nach oben zugunsten einer handlungsfähigen EU, und nach unten zugunsten freigestellter lokaler Selbstbestimmung. Nur so kann der grassierende Populismus aufgefangen werden.…mehr

Produktbeschreibung
Wenn etwas heute die Europäer vereint, dann nicht das große Haus Europa, sondern die historische Unruhe: die Unruhe des Austritts der Einzelnen aus herkömmlichen politischen Bindungen. Daraus resultiert auch die Krise des Nationalstaats und seines politischen Ordnungssystems, der repräsentativen Demokratie. Europa könnte dagegen die Chance der Demokratie sein, sich noch einmal neu zu erfinden. Anzusetzen wäre dafür ganz oben - und ganz unten: Abgabe nationalstaatlicher Macht nach oben zugunsten einer handlungsfähigen EU, und nach unten zugunsten freigestellter lokaler Selbstbestimmung. Nur so kann der grassierende Populismus aufgefangen werden.
Autorenporträt
Hoffmann-Axthelm, DieterDieter Hoffmann-Axthelm (Dr. theol.), geb. 1940, arbeitet als Planer und Publizist in Berlin. Er ist u.a. Mitgründer der Bürgerstadt AG und wurde ausgezeichnet mit dem Kritikerpreis des BDA (1992) sowie dem Bundesverdienstkreuz am Bande (2006). Seit 1974 ist er Mitherausgeber von »Ästhetik und Kommunikation«. Er veröffentlichte zahlreiche Monografien - darunter »Die dritte Stadt. Bausteine eines neuen Gründungsvertrags« (1993), »Lokale Selbstverwaltung. Möglichkeit und Grenzen direkter Demokratie« (2004) sowie »Berlin-Testament. Beiträge zum Berlin des 21. Jahrhunderts« (2013) - sowie Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden und publizierte u.a. im Tagesspiegel, taz, DIE ZEIT, SZ und FAZ.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.12.2016

Das eigene Ich in die Hand nehmen
Dieter Hoffmann-Axthelm entwirft ein kühnes Reformprojekt zur Mobilisierung frustrierter Wut- und Wohlstandsbürger
Selten wurden in einem so dünnen Buch so dicke Bretter gebohrt. Ausgehend vom Tagesalarm über postfaktische Gefühlsausbrüche populistischer Protestbewegungen macht der Berliner Publizist Dieter Hoffmann-Axthelm eine Rechnung über die Gewinne und Verluste auf, die die Individuen in zweihundert Jahren moderner Staats- und Nationenbildung erfahren haben. Das klingt nach politologischer Sonntagspredigt, enthält aber wichtige Einsichten, wie brandgefährliche Konflikte zu bewältigen sind, die aus der Unzufriedenheit der Einzelnen herrühren, sich politisch nicht mehr repräsentiert zu fühlen.
Der Autor möchte alle Wahl-, Wohlstands- und Wutbürger aus ihren Komfortzonen und Meckerecken heraustreiben und zeigen, wie sie durch wiedergewonnene politische und soziale Autonomie dem Erstickungstod der totalen Vergesellschaftung entgehen. Das Bündnis der modernen Staatsbildung, so beginnt er mit Thomas Hobbes, war die Freistellung der Menschen vom Kampf aller gegen alle; für den neuen Genuss von Leben und Eigentum mussten sie jedoch auf substanzielle politische Eingriffsrechte verzichten. Mit der Steigerung von Komfort und Sicherheit wuchs die Abhängigkeit der Einzelnen von Leistungen außerhalb ihrer Reichweite. Bei jeder Versorgungskrise sieht Hoffmann-Axthelm das Dilemma moderner Individualisierung: dass die Einzelnen nicht mehr des primären Überlebens fähig sind.
In Verkennung ihrer Abhängigkeiten wandern die Menschen heute aus den großen Einigungsgehäusen von Staat, Nation, Kirche oder Parteien wieder aus und betreiben eine „Ich-Politik der Selbstanmeldung“ – was bis zur Reklame „Unterm Strich zähl ich“ durchgedrungen ist. Darin sieht der Autor jedoch weniger Freiheitsstreben als vielmehr den „Austritt aus dem Verständigungszwang“. Mit dem Dauerton der Empörung klagen die Unzufriedenen und Verkannten so etwas wie ein „Naturrecht des Nichtverstehenmüssens“ von politischen Einigungszwängen ein.
Je brüchiger die institutionellen Behälter und sozialen Bindungen werden, umso mehr wächst der „Druck zur öffentlichen Ausstellung des eigenen Ich“. Doch die daraus entstehende Selbstermächtigung der Ich-Politik ergebe nur einen „unzuständigen Souverän“, der zudem zur Zerstörungswut neigt, wenn Mehrheiten nicht durch Vermittlung gebrochen werden – wie jeder Shitstorm zeigt. Hier sieht Hoffmann-Axthelm das zentrale politische Problem: dass es für den Versuch, das eigene Ich in die Hand zu nehmen, bislang keinen abstützenden institutionellen Rahmen gibt und dass dafür neue Freiheiten der Selbstregierung auf unterster Ebene nötig sind, die sich aber nur durch große Machtverschiebungen oben erreichen lassen.
Dafür macht der Autor ein Panorama auf, das wie ein Idealstaatsentwurf wirkt, aber gut recherchierte Realienkunde ist. Weil die europäischen Nationen Entscheidungsmacht an die EU abgeben, könnten die nationalen Regierungen die Zügel lockern und politische Spielräume auf kommunaler Ebene freigeben. Der Überdruck der nationalen Erregungsgemeinschaften soll also nach oben und unten entweichen. Hoffmann-Axthelm spricht von der „Aufspaltung nationalstaatlicher Macht zugunsten europäischer Gesamtverantwortung einerseits und einer untersten Selbstregierungsebene andererseits“.
Im Gegensatz zu den gewerbsmäßigen EU-Kritikern weiß der Autor viel Erfreuliches über Brüssel. Die EU-Verwaltung sei keine opake Superbehörde, sondern transparenter und effizienter als viele Nationalregierungen. Das Brüsseler Demokratiedefizit sei kein Skandal, sondern eher ein historisches Kuriosum, das große Chancen für Rat und Kommission biete, ohne egoistische Partialinteressen von Ländern, Parteien und Fraktionen überhaupt Entscheidungen treffen zu können.
Denn im Grund verfolge die EU überparteiliche Gemeinwohlinteressen, wie es schon der „allgemeine Stand“ der Beamten im alten Preußen im Kampf gegen die Aristokratie getan habe. Insofern wiederhole die EU auf supranationaler Ebene nur das neuzeitliche Programm der Verstaatlichung: die Angleichung der Rechte, Pflichten, Normen, Chancen und Freiheiten aller Individuen. Und bei alledem spiele das Europaparlament eine wachsende Rolle: in Vertretung der nationalen Parlamente eine neue Öffentlichkeit zu schaffen – aber nicht als Parlament der Staaten, sondern der „europäischen Einzelnen.“
Freilich neigen die Zukunftsszenarien des Autors zuweilen zu sozialutopischer Idealisierung: Wenn oben die EU über die internationalen Schicksalsfragen entscheidet, dann kann auf nationaler Ebene die beschäftigungsstarke Maschinerie des autoritären Finanz- und Wohlfahrtsstaates zurückgebaut werden, weil niemand mehr der Illusion der privaten Kostenlosigkeit staatlicher Leistungen aufsitzt. Und unten gibt es schließlich wieder die volle Selbstverwaltung und fiskalische Autonomie der Kommunen. Als Resultat kommt dabei ein neuer Mensch heraus, der sich vom großen Vater des Leviathan verabschiedet, wie er es mit früheren Autoritäten von Gott oder Kaiser tat. Das alles ist ein bisschen zu viel Erlösung auf einen Schlag.
Damit alle zuständig sein können, möchte der Autor das Labyrinth der Repräsentation lichten: kurze Amtszeiten, imperatives Mandat, Auswahl per Losverfahren – was übrigens schon Montesquieu forderte. So etwas funktioniere freilich nur in engen räumlichen Grenzen auf Stadtebene, um die zentrale Handlungsfähigkeit nicht zu ruinieren. Das klingt wie ein Spleen des auf Stadtgeschichte spezialisierten Autors, der hier nur andeutet, was er anderswo über Stadtumbau, Kommunalfinanzen und Selbstregierung ausgeführt hat: dass Autonomie nur über die Selbstbindung der Leute funktioniert und jeder für die Folgen des eigenen Handelns einstehen soll.
Als Staatskritiker von links liegt Hoffmann-Axthelm quer zur deutschen Sozialwissenschaft. Denn er entwirft eine Art von Systemtheorie des kommunikativen Handelns, die frei von den alltagsfernen Verschrobenheiten der Frankfurter oder Bielefelder Schule ist. Seine extrem verdichtete Roadmap versteht sich durchaus als Handreichung, wie die Ich-Politik aus der Verzweiflung des Privaten wieder zum Genuss öffentlicher Handlungsfähigkeit zurückfindet.
MICHAEL MÖNNINGER
Der Überdruck der
Erregungsgemeinschaften soll
nach oben und unten entweichen
Dieter Hoffmann-Axthelm: Lokaldemokratie und Europäisches Haus. Roadmap für eine geöffnete Republik. Transcript-Verlag, Bielefeld 2016. 114 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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»Hoffmann-Axthelm ist kein Sozialromantiker, aber eben auch kein Technokrat; er hat streitbare, sachkundige, parteipolitisch unabhängige Befunde aufgeschrieben, die niemandem nach dem Mund reden.« OXI, 6 (2017) »Die Gedanken sind allen Schnellschüssen und leichthin ausgesprochenen 'Man müsste'- Überlegungen weit überlegen, und sie lohnen das Nach- und Weiterdenken. Insbesondere sind sie grundsätzlich erweiterungsfähig bezüglich der Referenzen und historischen Beispiele. Es wäre sinnvoll, wenn heutige politische Akteure sich davon inspirieren ließen.« Dieter Kramer, Kulturation, 20 (2017) »Ein überraschend konstruktives Szenario, das aus einer politischen Schräglage heraus auch planungsrelevante, Diskussionen anreichernde Argumente entwickelt.« Ursula Baus, www.marlowes.de, 14.02.2017 »Dieter Hoffmann-Axthelm entwirft ein kühnes Reformprojekt zur Mobilisierung frustrierter Wut- und Wohlstandsbürger. Selten wurden in einem so dünnen Buch so dicke Bretter gebohrt.« Michael Mönninger, Süddeutsche Zeitung, 28.12.2016 »'Lokaldemokratie und Europäisches Haus' nimmt ernst, dass all die Einzelnen gegenwärtig mit ihren Auffassungen und Wünschen eine Art Demokratie für sich selbst bilden wollen.« Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT, 24.11.16 Besprochen in: Portal für Politikwissenschaft, 08.12.2016, Matthias Lemke Zeitschrift für Parlamentsfragen, 4 (2017), Erich Röper