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Hans Robert Jauss (1921-1997), seit 1966 Professor der Universität Konstanz, gilt als einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler Deutschlands der Nachkriegszeit. Mit seiner Konstanzer Antrittsvorlesung »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«, die bereits 1967 in Buchform erschien, begründete er die Rezeptionsästhetik, welche Ausweitungen in die Sozial-, Kultur- und Fachgeschichte erhielt, und die später als »Konstanzer Schule« bezeichnet wurde. Seit der Literaturwissenschaftler Earl Jeffrey Richards 1995 zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam auf die…mehr

Produktbeschreibung
Hans Robert Jauss (1921-1997), seit 1966 Professor der Universität Konstanz, gilt als einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler Deutschlands der Nachkriegszeit. Mit seiner Konstanzer Antrittsvorlesung »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«, die bereits 1967 in Buchform erschien, begründete er die Rezeptionsästhetik, welche Ausweitungen in die Sozial-, Kultur- und Fachgeschichte erhielt, und die später als »Konstanzer Schule« bezeichnet wurde. Seit der Literaturwissenschaftler Earl Jeffrey Richards 1995 zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam auf die SS-Mitgliedschaft von Hans Robert Jauss hinwies, entbrannte über die Frage der Konsequenzen dieses Faktums eine Debatte, die nicht abebben sollte. Der französische Philologe Maurice Olender, der im September 1996 das einzige große Interview über die Vergangenheit mit Hans Robert Jauss für 'Le Monde' geführt hat, machte in Jauss' Äußerung ein signifikantes »Schweigen einer Generation« aus. Vergleiche mit anderen diskutierten Fällen wie jene von Günter Grass oder Martin Heidegger drängen sich auf.Vor diesem Hintergrund dient die Publikation von Ottmar Ette der Diskussion von Fragen wie: Wie ist Jauss' Verhalten zu verstehen? Welche Rolle spielt es für die Neugestaltung der Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik? Sind Leben und Werk getrennt zu betrachten? Oder gibt es doch - vergleichbar etwa mit dem Fall Heideggers - einen Zusammenhang zwischen Jauss' Leben und seiner Rezeptionstheorie? Welche Konsequenzen zieht man aus möglichen Erkenntnissen für die Beurteilung eines wissenschaftlichen Werks von internationaler Ausstrahlung? Und schließlich: Warum wird das Leben von Hans Robert Jauss in Deutschland erst so spät zum Thema, während es in Frankreich und den USA längst diskutiert worden war?
Autorenporträt
Ette, Ottmar§Prof. Dr. Ottmar Ette ist Romanist und Komparatist (Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft) an der Universität Potsdam. Seit 2010 Mitglied der Academia Europaea, seit 2013 Mitglied der BBAW und seit 2014 Honorary Member der Modern Language Association (MLA).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Werner von Koppenfels bescheinigt Ottmar Ette keine Behutsamkeit im Umgang mit Hans Robert Jauß. Fachspezifisch orientiert nimmt die Studie des Postdamer Romanisten die Moral des Ästhetischen ernst, meint Koppenfels, und spürt einer Hermeneutik des Verschweigens nach, in Jauß' Spätwerk sowie in der Philologie insgesamt. Dass der Autor die Philologie als diskreditiert empfindet und die Rezeptionsästhetik als Kriegsmaschine bezeichnet, nimmt Koppenfels zur Kenntnis, erkennt aber auch, wie Ette die Causa Jauß als Lehre verstanden haben möchte. Inwieweit Ette mit seiner Spurensuche ins Schwarze trifft, darüber möchte Koppenfels nicht urteilen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2016

Ein Kriegsverbrecher und Überlebenskünstler

Unbestreitbar hohe Führungsqualitäten: Jens Westemeier und Ottmar Ette über die zwei Karrieren des Romanisten Hans Robert Jauß.

Erinnerung des Rezensenten an sein erstes romanistisches Proseminar, Heidelberg, Ende der fünfziger Jahre. Es ging um Baudelaire. Der Dozent, noch jung, doch ruhige Autorität ausstrahlend, entfaltete die "Blumen des Bösen" nach allen Regeln der exegetischen Kunst. Als wichtigster Schlüssel zum Verständnis der Texte dienten - noch ehe eine reuige Germanistik den von den Nazis zu Tode Gehetzten zu ihrem Schutzheiligen erkor - Walter Benjamins Essays, eine ebenso fordernde wie erhellende Lektüre. Nicht nur zu wissen, was angesagt ist, sondern es selbst anzusagen: darin war Hans Robert Jauß der Meister seines Faches. Keiner ahnte, wo und wie er seine evidenten, bald in noch viel hellerem Licht leuchtenden Führungsqualitäten erworben hatte.

Erst spät erfuhr man es. Aus Amerika und Frankreich kamen, unter dem beschämenden Schweigen der heimischen Disziplin, lästige Fragen nach dem Jauß'schen Vorleben alias seinem Dienst in der Waffen-SS, die der Betroffene souverän bis barsch abwehrte. Den hartnäckigsten Herausforderer titulierte er gern als "Gartenzwerg". Kollegen und Schüler ergriffen lauthals Partei.

Um die erst nach dem Tod des Konstanzer Ordinarius in voller Schärfe entbrannte Diskussion aus dem Dunstkreis von Anschwärzung und Weißwaschung zu nehmen, beauftragte seine Heimatuniversität den auf diesem Feld ausgewiesenen Potsdamer Historiker Jens Westemeier damit, die frühe Biographie, vor allem aber die SS- und Internierungszeit von Jauß zu erforschen. Im Mai 2015 wurden die Ergebnisse von der Universität Konstanz in einer Dokumentation öffentlich gemacht und ins Netz gestellt; ausgearbeitet und erweitert liegen sie jetzt als Buch vor. Die sich aufdrängende Frage nach dem inneren Zusammenhang der zwei Leben und Karrieren des Hans Robert Jauß will Westemeier nicht beantworten. Hier setzt, etwas weniger behutsam, die kurz zuvor veröffentlichte, eher fachspezifische Studie des Potsdamer Romanisten Ottmar Ette "Der Fall Jauß" an. Beide Untersuchungen zitieren und ergänzen sich vielfach.

So wohltuend sachlich und penibel dokumentiert das Buch des Historikers ist, sein Fazit lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "Jauß war ein in der Wolle gefärbter Weltanschauungskrieger und Waffen-SS-Täter in Hitlers Vernichtungskrieg." Eingehend wird die frühe Sozialisation des vielfach Begabten ausgeleuchtet. Das stramm nazistische, aufstiegsorientierte Elternhaus in der schwäbischen Provinz, seine frühe Führerrolle in der Hitlerjugend und sein unbedingter Einsatzwille waren Voraussetzung für eine steile Karriere bei der SS-Verfügungstruppe, von 1940 an Waffen-SS genannt, in die der Siebzehnjährige gleich bei Kriegsbeginn und noch vor dem Abitur eintrat und in der er es bis zum Hauptsturmführer (entspricht dem Hauptmann) brachte.

Es folgten, unterbrochen von Aufenthalten an SS-Junkerschulen, die Einsätze an der Westfront, dann im Osten, unter anderem bei der Belagerung und Aushungerung Leningrads, dann bei der "Bandenbekämpfung" in Kroatien. Für die dortigen Übergriffe seines Bataillons, so Westemeier, trage Jauß als Kompaniechef Mitverantwortung, auch wenn eine individuelle Tatbeteiligung nicht nachweisbar sei. Im Sinn gängiger Rechtsprechung müsse man ihn deshalb wegen funktioneller Mittäterschaft als Kriegsverbrecher betrachten - ein hartes Wort. Später, in der Schlacht von Narwa und beim Rückzug aus Pommern, erwies sich Jauß als höchst fähiger, ja heroischer Truppenführer.

"Mit ihm wären wir auf den Knien bis ans Ende der Welt gegangen." - Diese Worte finden sich in den 1989 veröffentlichten Erinnerungen des Unterscharführers Gilbert Gilles aus der französischen SS-Freiwilligen-Division Charlemagne, der Jauß als Inspizient und Verbindungsoffizier zugeteilt war. Die Kameradschaft mit den frankophonen Faschisten dürfte für seinen romanistischen Werdegang nicht ohne Einfluss gewesen sein. Was alle beseelte, war der Kampf für ein neues Europa im Sinn der SS: unter germanischer Führung und von allem vermeintlichen Untermenschentum gesäubert. Naturgemäß musste ein vorwärts blickender Mann über Krieg und Sieg hinausdenken. Als späteres Berufsziel steht in Jauß' SS-Akte "Lehrer an einer Hochschule oder politische Tätigkeit".

Dem Lehrersohn lag der pädagogische Eros quasi im Blut; vom Oberjungzugführer der HJ bis zum hochdekorierten SS-Hauptsturmführer gehörte die weltanschauliche Schulung der ihm Anvertrauten zu seinen wichtigsten Dienstaufgaben. Jauß war nicht nur Draufgänger, sondern auch Glückskind und Überlebenskünstler. Davor, mit seiner Kompanie in Russland vernichtet zu werden, bewahrte ihn eine Versetzung, aus dem Pommerschen Kessel konnte er sich gerade noch durchschlagen, von Berlin setzte er sich in letzter Minute nach Süddeutschland ab. Den Versuch, mit gefälschten Papieren unterzutauchen und als Student ein neues Leben zu beginnen, verhinderte ein Steckbrief der Alliierten; eine zweijährige Internierung in Recklinghausen war die Folge. Doch wie schrieb er damals geradezu prophetisch an einen Schulfreund? "Wir gehören zu den Menschen, denen alles Schicksal zum Guten wird."

In der Campschool, nach Westemeier eine "Volkshochschule für die NS-Elite", belegte man werthaltige Seminare über "Faust" oder die "Göttliche Komödie", und Jauß bereitete sich auf seine Vita Nova vor, indem er sechzehn Stunden lang täglich las. Im Übrigen stellte man sich großzügig Persilscheine aus und hatte von KZs oder irgendwelchen Kriegsgreueln keine Ahnung. O-Ton Jauß: "Über Mißhandlungen und Ermordungen von Juden habe ich nichts erfahren." Die Spruchkammer verurteilte ihn wegen SS-Mitgliedschaft zu einer Geldstrafe von zweitausend Reichsmark, durch Internierung verbüßt. Die nachfolgende Entnazifizierung stufte ihn als "Mitläufer" ein, eine Jugendamnestie machte ihn kurz darauf zum "Entlasteten". In seinen akademischen Viten fälschte Jauß die Zeit in der Waffen-SS zum normalen Kriegsdienst, die Internierung zur Gefangenschaft um.

Die romanistische Wende leitete er, strategisch geschickt, in Heidelberg mit einer brillanten Doktorarbeit über die Modi der Erinnerung bei Marcel Proust ein. Zu Proust - jüdisch, schwul, dekadent - gab es in Deutschland Nachholbedarf, und die Problematik des eigenen Erinnerns ließ sich so in die Literatur auslagern. Die nachfolgende Habilitation über mittelalterliche Tierdichtung betrat den unpolitischen Raum der Mediävistik, in den sich der - später von Jauß ob seiner Geschichtslosigkeit gescholtene - Ernst Robert Curtius vor der Nazi-Barbarei zurückgezogen hatte.

In Heidelberg legte Jauß als Spiritus Rector mit Kollegen wie dem Anglisten Wolfgang Iser, dem Historiker Reinhart Koselleck und dem hermeneutischen Übervater Hans-Georg Gadamer den Grund für die berühmte Forschergruppe "Poetik und Hermeneutik" - ein interdisziplinärer Exzellenzcluster, von dem die Heutigen nur träumen können. Die Sammelbände der Tagungen, zumal der frühen, waren eine an- und aufregende Lektüre; nicht zuletzt zeigten sie dem philologischen Fußvolk, wo es künftig entlangging. Auf hohem Reflexionsniveau propagierte die Gruppe das Modell einer auf den Rezipienten ausgerichteten Ästhetik. Ihre Hochburg wurde die neugegründete, geschichtlich unbelastete Reformuniversität Konstanz.

Die geradezu epochale Außenwirkung des Wissenschaftlers Jauß machte die Frage nach möglichen Kontinuitäten zwischen der offiziellen und der verdrängten Existenz legitim, ja unabweisbar. Darauf gibt es neuerdings zwei recht unterschiedliche Antwortversuche. In ihrer "Kleinen Apologie", erschienen im "Merkur", erkennt Hannelore Schlaffer im ausgeprägten Gemeinschaftssinn der Konstanzer Schule und in der Disziplin ihrer Kolloquien ein durchaus positives Erbe der braunen Zeit; auch dabei gehe es "um Kampf und Sieg".

Ottmar Ette dagegen beharrt auf der (auch von Jauß beanspruchten) Moral des Ästhetischen. Durch den gebrochenen Diskurs einer Hermeneutik des Verschweigens, deren "kryptographischen" Spuren er in Jauß' Spätwerk nachspürt, sieht er die Philologie insgesamt diskreditiert. Seine Kriegsmetaphern sind alles andere als apologetisch. Da ist die Rede von Schlachtengebrüll, Schreiben im Angriffsmodus, Rezeptionsästhetik als Kriegsmaschine. Sein Respekt für das geistige Format des Romanisten, dem er das Prädikat "groß" abspricht, äußert sich eher am Rand; weniger von ihm als aus ihm habe eine künftige Romanistik zu lernen. Ob Ettes windungsreicher "Weg des Verstehens" das selbstgesteckte Ziel erreicht, ob seine detektivische Jagd nach dem Zweideutigen den "cri" in Jauß' "écriture" überzeugend dingfest macht, muss jeder Leser für sich entscheiden.

Es ist gut, dass wir nun mehr über diesen spektakulären Fall von "Mutismus" wissen, von Verstummen als Geisteshaltung. Doch "Jauß bleibt weiterhin seltsam fremd" (Westemeier). Alte Bewunderung, vermischt mit neuer Trauer. Ein deutscher Fall.

WERNER VON KOPPENFELS

Jens Westemeier: "Hans

Robert Jauß". Jugend, Krieg und Internierung.

Konstanz University Press, Konstanz 2016.

367 S., Abb., geb., 29,90 [Euro].

Ottmar Ette: "Der Fall Jauß". Wege des

Verstehens in eine Zukunft der Philologie.

Kulturverlag Kadmos, Berlin 2016.

155 S., geb., 19,90 [Euro].

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