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Zwei Schwestern. Die eine auf der Rückbank, die andere auf dem Beifahrersitz, die eine scharfzüngig und kampflustig, die andere nachsichtig und höflich: Sie sind unterwegs im heutigen Bulgarien. Auf der ersten Hälfte ihrer Reise waren sie Teil eines prächtigen Limousinenkonvois, der die Leichen von 19 Exilbulgaren in den Vierzigern von Sofia nach Stuttgart ausgewandert in ihre alte Heimat überführte. Darunter der frühverstorbene Vater der Schwestern. Jetzt sind sie Touristinnen, chauffiert vom langmütigen Rumen Apostoloff. Er möchte den beiden die Schätze seines Landes zeigen, die Keramik mit…mehr

Produktbeschreibung
Zwei Schwestern. Die eine auf der Rückbank, die andere auf dem Beifahrersitz, die eine scharfzüngig und kampflustig, die andere nachsichtig und höflich: Sie sind unterwegs im heutigen Bulgarien. Auf der ersten Hälfte ihrer Reise waren sie Teil eines prächtigen Limousinenkonvois, der die Leichen von 19 Exilbulgaren in den Vierzigern von Sofia nach Stuttgart ausgewandert in ihre alte Heimat überführte. Darunter der frühverstorbene Vater der Schwestern. Jetzt sind sie Touristinnen, chauffiert vom langmütigen Rumen Apostoloff. Er möchte den beiden die Schätze seines Landes zeigen, die Keramik mit Pfauenaugendekor (dessen Kobaltblau giftig ist), die Schwarzmeerküste (komplett versaut), die Architektur (ein Verbrechen des 20. Jahrhunderts). Die Jüngere, die Erzählerin, spuckt Gift und Galle.
Apostoloffs Vermittlungsversuche zwischen Sofia und Stuttgart sind zunächst wenig erfolgreich. Denn das bulgarische Erbe der Schwestern wiegt schwer wenn der Vater, der erfolgreiche Arzt und schwermütige Einwanderer, in ihren Träumen auftaucht, schlängelt das Ende des Stricks, an dem er sich erhängt hat, noch hinter ihm her. Doch dem "Unglück, das dieses Aas von einem Vater auf Häupter und Herzen seiner Töchter geladen hat" wird nicht auf melancholische Art begegnet.
Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman ist eine Suada von der Rückbank, die bissige, rabenschwarze und erzkomische Abrechnung einer Tochter mit dem Vater und seinem Land.
Autorenporträt
Lewitscharoff, Sibylle
Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin, wo sie, nach längeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris, heute lebt. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Sie veröffentlichte Radiofeatures, Hörspiele und Essays. Für Pong erhielt sie 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane Der Höfliche Harald (1999), Montgomery (2003) und Consummatus (2006). Der Roman Apostoloff wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Sibylle Lewitscharoff ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der Künste. 2013/14 verbrachte sie ein Jahr als Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom, danach war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2013

Apostoloff
„Apostoloff“ ( Suhrkamp, Berlin 2009 ) heißt der vierte Roman von Sibylle Lewitscharoff und der erste, der bei Suhrkamp erschien. Dieses stark autobiografisch gefärbte Buch ist ihr persönlichstes. Es schildert in einer so halsbrecherischen wie furiosen Suada eine Reise von Stuttgart nach Sofia, die sich zu einer Abrechnung mit der Herkunftswelt auswächst, dem Vaterland in zweifacher Bedeutung. Denn der Vater im Buch, ein Exil-Bulgare wie Lewitscharoffs eigener, hatte sich am Dachsparren erhängt, als die Ich-Erzählerin neun Jahre alt war. Nun überführt sie zusammen mit ihrer Schwester seine exhumierten sterblichen Überreste in die alte Heimat. Während der Fahrer des Daihatsu, ein Mann namens Apostoloff, in Balkan-Folklore schwelgt, reißt man auf der Rückbank das Steuer des Erinnerungsarbeit herum. Die Schwestern lästern genüsslich über Land und Leute und die postsozialistische Plattenbau-Tristesse. „Landhass und Vaterhass“ befeuern sich gegenseitig, doch die Hasstiraden sind nichts anderes als eine umgekehrte Klage über den frühen Verlust des Vaters und die Verstoßung aus dem Paradies der Kindheit. Gift und Galle werden zum Antidot, um die Familientragödie zu bannen. So treibt Lewitscharoff die bösen Geister ihrer Lebensgeschichte aus. Ein finsterfröhlicher Exorzismus.
MIDT
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2009

Die Ideenlehre des Schafskäses

Echte Engel fürchten keine Funklöcher: Sibylle Lewitscharoff sucht in Bulgarien das Vaterland und setzt ihre Totengespräche fort.

Von Richard Kämmerlings

Gibt es im Fegefeuer eigentlich ein Handynetz? Auf dem Friedhof von Sofia findet sich das monumentale Grabmal eines jüngst verstorbenen Mafioso, lebensgroß ist er auf einer polierten Stele abgebildet, das Mobiltelefon am Ohr, im Hintergrund ein Mercedes. Mit dreiunddreißig Jahren ist der Mann mit Namen Angelow gestorben, im besten Messias-Alter also, und seine letzten Worte werden vielleicht gewesen sein: "Mein Gott, mein Gott, warum gehst du nicht ran?"

Sibylle Lewitscharoff setzt in ihrem neuen Buch ihren Dialog mit den Toten fort und kann dafür auf alle technischen Medien verzichten. Denn die Erzählerin bekommt regelmäßig, meist des Nachts, Besuch von ihrem aus Bulgarien stammenden Vater, der sich erhängte, als sie neun Jahre alt war. Jetzt überführt sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester seine exhumierten Überreste; Grund der merkwürdigen Reise ist die Obsession eines steinreichen Exilanten, der alle seine einstigen Stuttgarter Freunde in bulgarischer Erde ruhen wissen will.

So rollt ein seltsamer Tross aus elf schwarzen Limousinen, halb Staatsbesuch, halb Rosenmontagszug, von Stuttgart-Degerloch nach Sofia, mit den Angehörigen als Eskorte von "kyrotechnisch" spezialbehandelten Knochenhaufen. "Von den vierzig leibhaftigen Bulgarien-Fahrern hatte jeder im Schnitt vielleicht fünfzehn Geistleute um seinen Kopf zirkulieren, das mochten selbst erinnerte oder vom Hörensagen erinnerte sein, also grob gerechnet sechshundert tote, aber mit einiger Schwungkraft um uns kreisende Begleitpersonen". Die Erinnerung hat auch unterwegs immer Empfang.

"Apostoloff" ist das persönlichste Buch von Sibylle Lewitscharoff, das mit dem erkennbar höchsten autobiographischen Anteil, was auch gar nicht verborgen wird. Viele Details teilt die Ich-Erzählerin mit der Autorin, viele Motive und Themen aus früheren Büchern finden sich wieder. Der einstige Aufbruch der Erzählerin aus der engen schwäbischen Herkunftswelt wurde schon in "Montgomery" in ganz andere Lebensgeschichten eingenäht; das Motiv der unentwegt plappernden Stimmen aus dem Jenseits war der erzählerische Grundeinfall des letzten Buchs "Consummatus".

Auch der Orpheus-Mythos wurde darin variiert, der Versuch, die Geliebte aus der Unterwelt zurückzuholen. Hier heißt es nun, der Vater, Kristo mit Vornamen, soll so wunderbar gesungen haben, "dass es nicht auszuhalten gewesen sei". Von Beruf Frauenarzt, dabei ein melancholischer Schwerenöter, Nietzsche-Leser und schon lange vor seinem Ende ein seelisches Wrack, wird der Vater in den Phantasien der zurückgelassenen Tochter zum allwissenden und mahnenden Gott, zum "bösen, entzündeten Auge", dessen Blick von klein an zu fliehen war. Der Selbstmord des Vaters ein Höllensturz, die Vertreibung aus dem Himmel der Kindheit.

Solche Verweiskrumen streut die studierte Religionswissenschaftlerin Lewitscharoff mit links als Dünger in ihre dann auch barock-manieristisch sprießenden Erzählbeete: "Engel sind Wahrhalter, denke ich mit eigensinniger Kraft gegen den Daihatsu an, von den in Luftzügen schwebenden, driftenden, flatternden Wörtern müssen sie noch die winzigsten darin verfitzten Botschaftskörner vernehmen." Zum reinen Gefäß des göttlichen Logos geworden, eignet sich der Engel aber gerade nicht zum Romancier, dessen Kunst auch im Überhören und Weglassen liegt.

Sibylle Lewitscharoff will dieses Praxisproblem lösen, indem sie ihrem Vaterroman eine doppelte Reisestruktur unterlegt. Die Schwestern lassen sich von einem Verwandten, Rumen Apostoloff, am Steuer auf einer Entdeckungsreise durch Bulgarien begleiten. Dies bietet genügend Anlass zu bösen (und böswilligen) Reisenotizen über ein im Sozialismus verheertes Land, sein ungenießbares Essen, den schlechten Wein, die verschandelten Städte und zubetonierten Küsten, der allgemeinen sittlichen Verwahrlosung. Da räuspert sich die Großmutter, "als warte in ihrer Brusthöhle ein Riesenbatzen Schleim auf eigenes Rederecht", und die Engangshalle eines Luxushotels wirkt "wie das Aufmarschgelände zu einer monumentalen Fußpilzhölle". Doch werden diese bis zum Exzess gesteigerten Tiraden psychologisch wieder relativiert: "Vaterhass und Landhass sind verquickt und werden auf vertrotzte Weise am Köcheln gehalten."

Eine Prosa in transzendentem Dauerglühen.

Diese reportagehaften Passagen werden durch Rückblicke auf den skurrilen paneuropäischen Trauerzug durchbrochen, bei dem Mitglieder der bulgarischen Exilantengemeinde Mosaiksteinchen zur dunkel schillernden Ikone des anwesend-abwesenden Vaters ergänzen. Die Kindheitserinnerungen an den sozialistischen Alltag der nicht ausgereisten Verwandten dienen der Erzählerin als Spiegel ihrer früheren eigenen Begeisterung für Lenin, Trotzki und Mao. Reiselektüre ist Martin Amis' Stalin-Buch, nicht zufällig ebenfalls ein literarischer Vatermord (Kingsley Amis war lange fanatischer Kommunist).

Es ist leicht zu erkennen, was Lewitscharoff sozusagen wider Willen an Bulgarien faszniniert: Es ist Nation gewordener Platonismus; die herrliche Idee und ihr tristes Abbild sind nur als Ganzes zu bekommen: "Bulgarien, wie es ist, kommt in den Köpfen der Bulgaren kaum vor. Nur ihre Leiber sind darin gefangen." Wie die Verehrung der Ikonen kein Götzendienst ist, da nicht sie, sondern die dahinter liegende Wahrheit angebetet wird, so ist auch die Abfertigung des sichtbaren Trümmerhaufens gleichen Namens kein Sakrileg gegen die strahlende Idee des Vaterlandes. Oder der stinkende Fettklumpen kein Widerspruch gegen die Idee des Schafskäses: "Er ist glatt, feucht, feinporig, frisch, er leuchtet in lammhafter Unschuld, ist weder versalzen noch verwässert. Seine Substanz ist überirdisch. Kein Schafskäse der Gegenwart reicht an ihn heran. Sicher, Koljo Wuteff verkaufte an seinem Stand in der Stuttgarter Markthalle den besten Schafskäse, der in der Bundesrepublik zu kriegen war, aber die Differenz zum mythischen Original war groß."

Diese Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit, Seele und Körper, reinem Logos und seinen schwachen Emanationen im Kunstwerk ist der Motor des Schreibens von Sibylle Lewitscharoff. Spannungsfunken wirft hier nicht der Plot ab, der so banal ist wie ein Billigflug an die Schwarzmeerküste (Urlaubsliebschaft inklusive), sondern nur die unaufhörlich rotierende Gedankenmaschine der Erzählerin. In diesem Buch wird deutlich wie nie zuvor, dass das tranzendente Dauerglühen dieser Prosa Konsequenz einer radikalen und frühen Verlusterfahrung ist (wie auch die manchmal verkrampfte Komik ein Antidot gegen die Schwermut). Mittels der Sprache wird alles durchsichtig auf eine höhere Wirklichkeit; man kann das auch Simulation von Mystik nennen. Diese Sprache kann viel, muss vieles können, am Ende gar Tote zum Leben erwecken. Dass es daran immer wieder scheitert, anders scheitert, besser scheitert, gehört zum Wesen dieses Werks.

Sibylle Lewitscharoff: "Apostoloff". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 254 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Christoph Schröder haben die misanthropischen Kaskaden dieser wortreichen schwarzen Komödie mitgerissen. Die Erzählerin in Sibylle Lewitscharoffs Roman hat eine mächtige "Vernichtungs- und Wortmaschinerie" angeworfen, um dem Bann des toten Übervaters zu entkommen, der durch eigene Hand aus dem Leben geschieden nun als Leiche mit einem illustren Autokorso von Schwaben nach Bulgarien überführt und unter die Erde gebracht werden soll. In ihrer wütenden Suada gegen die Familie rechnet die Erzählerin auch gleich mit den Verheerungen der kommunistischen Diktatur ab, die bis in alle Lebensbereiche vorgedrungen sind und das ehemals blühende Land ihrer Herkunft auf Jahrzehnte hinaus ruiniert haben: "Es wird gewütet und gezetert, geätzt und schikaniert, rumort und lamentiert", freut sich der Rezensent und findet an dem fast perfekt durchkomponierten Roman nichts auszusetzen. 

© Perlentaucher Medien GmbH
"Mit grosser Genauigkeit und einem sprachlichen Furor, der in der deutschen Literatur einzigartig ist, macht Sibylle Lewitscharoff den Zusammenhang zwischen Schmerz und Hass deutlich."
Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung
»Die glanzvollste Stilistin der deutschen Gegenwartsliteratur lässt eine Suada gegen Bulgarien los.« Tilman Krause DIE WELT 20090916
Lewitscharoff hat eine eigene, einzigartige Sprache entwickelt, die bis an die Grenzen dessen geht, in Schönheit und Ausdruckskraft, was man auf Deutsch überhaupt ausdrücken kann.