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Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstanden um die Jahrhundertwende in konservativ-christlichen Milieus Europas esoterische und okkultistische Zirkel, die sich auf mystische Religionsformen des Fernen Ostens und des Islam bezogen und sich zum Ziel gesetzt hatten, die dekadente Moderne mit ihrem Individualismus und Materialismus zu bekämpfen. In seiner großen und packenden Studie über den "Traditionalismus" rekonstruiert Mark Sedgwick zum ersten Mal diese geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie die antidemokratischen Glaubenslehren so verschiedene Zusammenhänge wie die…mehr

Produktbeschreibung
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstanden um die Jahrhundertwende in konservativ-christlichen Milieus Europas esoterische und okkultistische Zirkel, die sich auf mystische Religionsformen des Fernen Ostens und des Islam bezogen und sich zum Ziel gesetzt hatten, die dekadente Moderne mit ihrem Individualismus und Materialismus zu bekämpfen. In seiner großen und packenden Studie über den "Traditionalismus" rekonstruiert Mark Sedgwick zum ersten Mal diese geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts und zeigt, wie die antidemokratischen Glaubenslehren so verschiedene Zusammenhänge wie die Theosophie, den Thule- und Runenkult der NSDAP, das Denken Mircea Eliades und Julius Evolas Theorien des frühen italienischen Faschismus entscheidend prägten. Dabei ist Sedgwicks Detektivgeschichte in unserer Zeit von erschreckender Brisanz. Nicht nur, dass sich viele Protagonisten des Traditionalismus später zu Strömungen des Islamismus hingezogen fühlten, die von ihnen entwickelte Denkströmung ist heute aus den Hinterzimmern auf die große Weltbühne gerückt: Während der Neo-Traditionalist Alexander Dugin wichtigen Einfluss auf die antimoderne Kulturpolitik Putins hat, gilt Julius Evola als entscheidende Inspirationsquelle für Stephen Bannon und die Alt-Right.
Autorenporträt
Mark J. Sedgwick, 1960 geboren, ist ein britischer Historiker und forscht zu Traditionalismus, Sufismus und Terrorismus. Nach Stationen in Oxford und an der American University in Kairo lehrt er heute als Professor für Arabische und Islamische Studien an der Aarhus University in Dänemark. Er betreibt den Blog www.traditionalistblog.blogspot.de.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2019

Traditionalisten werden Orientalen, um das Abendland zu retten
Der Historiker Mark Sedgwick erkundet in seiner Studie „Gegen die moderne Welt“ die spirituelle Revolte des frühen 20. Jahrhunderts
Bei „homegrown terrorists“ denkt man zuallererst an muslimische Gettoisierung in der Peripherie von Brüssel oder an Hamburg-Harburg. Wer aber weiß schon, dass die Zeitschrift „Il Djihad“ jahrelang im edlen Coppedè-Viertel in Rom von rechtsradikalen Konvertiten herausgegeben wurde, die freilich über Erfahrungen im Bombenbauen verfügten? Und dass die betreffenden Personen zwischen der sehr freimütigen Auslegung hinduistischer Klassiker und Sufi-Praktiken changierten, ja, dass es unter ihnen auch einen Sufi-Scheich gab? Trotzdem wäre es anmaßend zu sagen, der europäische Islam habe viele Gesichter, zu denen auch dieses gehöre. Richtiger liegt, wer argumentiert, die Revolte gegen die moderne Welt setze sich gelegentlich eben auch die islamische Maske auf.
Der britische, aber in Dänemark lehrende Historiker Mark Sedgwick folgt in seinem Buch „Gegen die moderne Welt“ den Fährten dieser „geheimen Geistesgeschichte“. Nichts Geringeres hat er im Sinn, als in einer Mischung aus Feldforschung und philologischer Analyse die ständigen Wechsel einer politischen Avantgarde aufzulösen, die sich als Bewahrer des Ewiggültigen versteht.
Zu diesem Zweck verwendet er eine Kategorie, die zunächst erstaunlich erscheint: die Traditionalisten (den Anhängern einer „tradition with a big T“). Von traditionell gesinnten Menschen unterscheiden sie sich dadurch, dass sie beispielsweise Religion nicht einfach in überlieferter Form ausüben. Statt dessen werten sie die Überlieferung in religiöser Weise auf: Dass ein Text, ein Ritus, eine Praxis aus der Geschichte überkommen ist, heiligt diesen Gegenstand.
Als Begründer des Traditionalismus benennt Sedgwick den französischen Esoteriker René Guénon (1886 bis 1951). Seiner Biografie ist der erste Teil des Buches gewidmet, der zweite Teil enthält gleichsam seine Wirkungsgeschichte. Guénon hatte es über katholische, freimaurerische und hinduistische Stationen schließlich in Kairo zum Sufismus verschlagen. Er bekämpfte die spiritistische Experimentalreligion seiner Tage und hatte wenig übrig für die Klopfzeichen einer demokratischen Geistergesellschaft. Stattdessen suchte er eine Elite anzuleiten, die die transzendentale Einheit des Immergleichen in der Religion in der genauen Befolgung ihrer unterschiedlichen Äußerungsformen aufspüren sollte.
Während Guénon in kargen Verhältnissen ein dem Studium und der gelehrten Korrespondenz gewidmetes Leben führte, bis als Beweis für seine hohe Geistigkeit seine Haut transparent oder lichtfarben wurde (je nach Auslegung), liefen einige seiner Anhänger zu Lehren des „New Age“ über. Der Schweizer Religionsphilosoph Frithjof Schuon (1907 bis 1998) zum Beispiel suchte ebenfalls die Initiation als Sufi, entschied aber selbst, welche islamischen Regeln er seiner Gemeinschaft zumuten konnte. Seine Gruppe zog es später in die Vereinigten Staaten, wo Schuons Nacktheitskult die Polizei auf den Plan rief. Schuon war unter den Traditionalisten mit großem „T“ der einzige, der christliche Elemente als Teil einer traditionalistischen Initiation gelten ließ, und vermutlich ist er auch derjenige, der seine eigene Autobiografie am stärksten als von Zeichen, Weisungen, versteckten Bedeutungen durchzogen sah. Seine Schriften tragen deswegen auch pietistische Züge.
Dem Pietismus völlig fremd ist allerdings der Kampf gegen die Moderne, wie ihn Guénon in seinem spiritualistischen Programm führen wollte. In den posthum herausgegeben Aufsätzen des Bandes „East and West“ (2007) brachte er gegen den „Aberglauben des Fortschritts“ die in „orientalischen Zivilisationen“ konservierte “reine Geistigkeit” in Stellung. Sie sollte vor allem die traditionellen Zivilisationen des Westens in angemessener Weise wiederherstellen. Dass Guénon dabei dem eigenen Modernismus nicht ins Auge sehen wollte – nur ein aufgeklärter Europäer mochte an die Verfügbarkeit religiöser Identitäten glauben, anstatt sie als vorgegeben anzusehen –, versteht sich beinahe von selbst.
Die Suche nach den geistigen Ursprüngen des Abendlands brachte daneben manche Schattengewächse hervor wie den dadaistischen Maler, Kulturphilosophen und Okkultisten Giulio „Julius“ Evola (1898 bis 1974). Dieser hatte Guénon voller Begeisterung gelesen und reicherte dessen Vorstellungen mit Lektüren Bachofens und Nietzsches an. Stärker als sein Vorbild polemisierte Evola gegen die Illegitimität der Neuzeit. Im Jahr 1934 veröffentlichte er das Buch „Revolte gegen die moderne Welt“, in dem er deren geistig-geistlichen Sündenfall in der angeblichen Trennung von spiritueller Autorität und Kriegerkaste gefunden zu haben meinte. Während Guénon die Wiederherstellung des Abendlands durch elitäre spirituelle Praxisgemeinschaften anvisierte, sah Evola in der gesellschaftlichen Mobilisierung einen Weg, das „absolute Individuum“ zurückzugewinnen. Sein Umweg war nicht der Orient, sondern der Faschismus.
Evolas Einfluss auf den Faschismus war geringer, als von ihm erhofft worden war. Stärker indessen war seine Wirkung auf den Neofaschismus und den italienischen Rechtsterrorismus zwischen den Sechzigern und den Achtzigern. Dieses Umfeld leuchtet Sedgwick anhand von Interviews detailliert aus. Keine Strömung, kein bedeutender Protagonist in diesen Kreisen, der nicht irgendwann zum „Meister“ in dessen heruntergekommene Einzimmerwohnung in Roms Altstadt pilgerte. Dem Abfall der modernen Welt, so Evola, konnte man nur noch die reine Tat, die Tat als leeres Zeichen entgegensetzen.
Diese Mystik der Tat, der Selbst- und Fremdopferung gehört vermutlich in das Zeitalter eines Kalten Krieges, in dem weder Traditionalisten noch die Anhänger eines rechten Kults von Souveränität eine Seite fanden, auf der sie stehen konnten. Sie verwechselten einander (und laden bis heute zur Verwechslung ein). Dazu galt in diesen letztlich sektiererisch verfassten Gruppen: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Diese Logik bestimmte eine Reihe islamischer Konversionen, vor allem im Gefolge der iranischen Revolution von 1979. Wenngleich die Logik nicht bedeutet, es habe keine traditionalistischen Konvertiten gegeben, offenbart sie deren sprichwörtlich reaktionären Kern.
Nach der Lektüre von Sedgwicks materialreichem, dabei stets gut lesbarem Buch, wird man sich fragen, warum ausgerechnet Deutschland von solchen Strömungen ausgespart bleibt. Der französische, italienische, rumänische, ungarische, amerikanische, der identitätspolitisch folgenreiche russische Traditionalismus werden ebenso behandelt wie der Traditionalismus der vergleichenden Religionswissenschaft. Aber was ist mit dem von Evola übersetzten Ernst Jünger, der mit Mircea Eliade – einem der wichtigsten Traditionalisten – eine Zeitschrift gründete, die das zu bewahrende Europa in esoterischen Traditionen aufspürte? Und warum bleibt Martin Heidegger außen vor, für den die “Schwarzen Hefte” das esoterische Zentrum seines Denkens bildeten, wenigstens, wenn man seine Publikationspolitik ernst nimmt?
Man könnte antworten: Weil ihre intellektuelle Ausbildung nichts mit Guénon zu tun hat. Oder weil die beschworene „Wiederkehr des Gleichen unter den Zeitgewändern“ (Ernst Jünger) zu deutlich die Kriegsschuld kaschierte. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Zum Traditionalismus gehört neben Meistern, Schülern und Initiationen auch eine lebensweltliche Randständigkeit, die sich aus der Unterscheidung von öffentlicher und geistiger Sphäre ergibt. Es geht gerade nicht um Authentizität als vielmehr um Unterscheidungen. Und um das Bewusstsein, nicht in der gegenwärtigen Welt aufzugehen.
ULRICH VAN LOYEN
Mark Sedgwick: Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Nadine Miller. Berlin, Matthes & Seitz 2019. 532 Seiten, 38 Euro.
Der Esoteriker René Guénon
führte ein karges Leben, bis seine Haut lichtfarben wurde.
Foto: mauritius images / The History C
Von größtem Einfluss
auf die italienischen
Neofaschisten: Julius Evola.
Foto: imago/Leemage
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2020

Wie viel spiritueller doch früher alles war
Elitäre Kreise: Mark Sedgwick folgt den verzweigten Wegen der "Traditionalisten"

Im Jahr 1968 meinte Henri Hartung auf einer der ominösen Bilderberg-Konferenzen, dass der "Übergang der Geschäftswelt von der regionalen und nationalen auf eine weltweite Ebene" der Triumph des Quantitativen über das Qualitative sei. Die Mittel hätten sich zu Zielen verkehrt. Es komme in der Konsequenz zur Entstehung einer "Sklavengesellschaft". Und noch fünfzig Jahre später entfaltet eine solche vollmundige Diagnose einer welthistorischen Krise bei manchen eine verführerische Überzeugungskraft - ein Umstand, der alle Aspekte berührt, die dem Buch des Historikers und Islamwissenschaftlers Mark Sedgwick seit seiner englischen Erstausgabe im Jahr 2004 das Interesse von Spezialisten sichern: Es geht um Krisenerfahrung und "Traditionalismus", eine auf den Franzosen René Guénon zurückgehende rechtsintellektuelle Denkschule, die sich ab den 1920er Jahren formierte. Henri Hartung war ein Anhänger der Lehren Guénons. Die durch heutige Verschwörungstheorien geisternden Bilderberg-Konferenzen verweisen auf das Anliegen Sedgwicks, im Sinne einer "geheimen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts" die Beziehungsnetze und Wirkungsgeschichte dieses "Traditionalismus" bis in die Gegenwart zu verfolgen.

Am Anfang stand bei Guénon ein Schock angesichts der westlichen Hochmoderne: Wie könne man leben in einer Welt, in der in seinen Augen das Geistige keine Rolle mehr spielte? Alles, auf das es ankomme, sei im Niedergang begriffen - und doch würde die Mehrzahl der Menschen annehmen, sie lebe in einer Epoche des Fortschritts. Angesichts dessen warf Guénon seine Hoffnung auf die Vergangenheit: Es gehe darum, eine verschüttete spirituelle Weltsicht, eine ursprüngliche, allen Religionen vorgängige ewige Philosophie wiederzugewinnen. Daraus wurde eine strikt elitäre Gruppierung mit einem Hang zu Geheimgesellschaften und zum Faschismus. Anders als die heutige Rechte mit ihrem pauschalen Anti-Islamismus schätzten die Traditionalisten des zwanzigsten Jahrhunderts die im Islam wurzelnde mystische Tradition des Sufismus hoch. Der Orient sei das Gegenbild zum Westen; dort seien die Kraftquellen der ursprünglichen Spiritualität noch nicht versiegt.

Sedgwick zeigt, wie aus diesem ins Positive gewendeten Orientalismus ein wechselseitiger Austausch spiritueller Konzepte und Praktiken zwischen dem Westen und der islamischen Welt entstand, der bislang wenig Beachtung gefunden hat. Denn Guénon und andere Traditionalisten wie der Schweizer Fritjof Schuon reisten in den Orient, lebten zeitweise in der arabischen Welt, suchten Anschluss und Initiation bei Sufi-Orden. Der Philosoph und Islamwissenschaftler Seyyed Hossein Nasr, der bis nach der Iranischen Revolution in Teheran und ab 1984 in den Vereinigten Staaten lehrte, kann wohl als prominentester heutiger Vertreter eines islamisch akzentuierten Traditionalismus gelten.

Das erste Drittel des Buches ist den Konzeptionen, Ordensgründungen und Ritualen vor allem in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Im Zentrum stehen Guénon und sein Mitstreiter Ananda Coomaraswamy, ein tamilisch-britischstämmiger Philosoph und Kunsthistoriker. Mehr als ein paar Dutzend Anhänger hatte der Traditionalismus damals nicht, und diese verschrieben sich meist spirituellen Praktiken in esoterischen Gemeinschaften. Mit dem Italiener Julius Evola betrat aber schon ab den 1920er Jahren ein Protagonist die Bühne, der - anders als Guénon - ausdrücklich der politischen Aktion im Zeichen des Traditionalismus das Wort redete. Die arrogante rhetorische Grandezza der Schriften Evolas, sein Kult des Kriegertums wie auch die These, der Rassebegriff sei nicht biologisch, sondern in typischen geistigen Haltungen zu begründen - all das wirkt bis heute nach im rechtsintellektuellen Milieu. Unter Bezug auf die Erkenntnisse des Politologen Franco Ferraresi zeigt Sedgwick die Verwicklungen von Evola-Anhängern in die rechtsterroristischen Umtriebe, die Italien in den 1960er bis 1980er Jahren erschütterten.

Die vielleicht weitestreichende Wirkung traditionalistischen Denkens, die Sedgwick aufarbeitet, betrifft die Ausrichtung der Religionswissenschaften in den Vereinigten Staaten der sechziger und siebziger Jahre - unter anderem bedingt durch den Einfluss des Rumänen Mircea Eliade, der von 1958 bis 1986 in Chicago lehrte, nachdem ihm aufgrund seines faschistischen Engagements eine berufliche Zukunft als Wissenschaftler in Europa verwehrt war. Im vergleichenden und verallgemeinernden Blick Eliades auf die Religionen ist das Fortwirken der traditionalistischen Suche nach überzeitlichen Konstanten spiritueller Ordnungen erkennbar.

Wenn es bei Sedgwick um Eliade geht, scheint kurz ein Thema auf, das wegen der engen Traditionalismus-Definition gleichsam rechts liegen gelassen wird: Der aufgrund der Sprachbarriere bislang kaum erschlossene intellektuelle Diskurs im Rumänien der zwanziger und dreißiger Jahre, offenbar ein Zentrum des avantgardistisch-faschistischen Negativismus, in dem der Traditionalismus nur ein Element unter weiteren war. Eliades Denken könnte im Kontext seiner Diskussionen mit Nae Ionescu, Emile Cioran oder Stéphane Lupasco in neuem Licht erscheinen.

Im Klappentext des Buchs wird dessen Aktualität betont, weil Verbindungen zur Alt-Right-Bewegung in den Vereinigten Staaten und zu Wladimir Putin hergestellt werden. Doch die gegenwärtige Neue Rechte kommt auch in der aktualisierten deutschen Ausgabe nicht vor. Durchaus zu Recht, weil diese sich vornehmlich anderer Quellen bedient, selbst wenn Steve Bannon einmal en passant Evola erwähnt hat. Sedgwick stellt seinen Lesern zwar Alexander Dugin vor, der in den Anfängen der Präsidentschaft Putins als neuer Ideologe des Kreml gehandelt wurde. Aber ein konkreter Einfluss auf die russische Politik wird nicht plausibel. Jenseits des Zeitraums, den das Buch abdeckt, hat sich Dugin inzwischen zum tagespolitischen Youtuber gewandelt, der auch schon mal Günstlingswirtschaft und die mangelnde Vorbereitung Russlands auf die Zeit nach Putin kritisiert. Insgesamt leiden die Kapitel zu neueren Entwicklungen darunter, dass Sedgwick sich häufig auf anonymisierte persönliche Mitteilungen von Insidern beruft. Man kann die Validität der Aussagen schlecht einschätzen - und ebenso wenig, ob es sich um notwendigen Informantenschutz handelt oder um ein Kokettieren mit der Mystifikation, wie sie die Traditionalisten selbst gern betreiben.

Wenn es das Ziel traditionalistischer Denker gewesen sein sollte, die Mächtigen als Lehrer und Einflüsterer zu beeinflussen, so sind diese Vorhaben bislang gescheitert: Der Pragmatiker Putin brauchte Dugin nicht, die Faschisten wollten Evola nicht - so wie die Nazis auch auf Heidegger als Führer des Führers verzichten konnten. Am Ende blieben die verschmähten Hohepriester beleidigt zurück. Evola etwa klagte, dass "es die Italiener waren, die den Faschismus ruiniert haben".

Bei aller Akribie der Recherche durchzieht das Buch ein Definitionsproblem: Sedgwick geht in seiner Betrachtung von der Existenz einer ideengeschichtlichen Strömung und spirituellen Praxis aus, die er anhand der Konzepte von Autoren wie Guénon und Schuon umreißt. Die vorgestellten Personenkreise sollte man jedoch treffender als einen Archipel teils locker in Beziehung stehender Gruppen und Einzelpersonen mit ähnlichen Vorstellungswelten beschreiben. Der vom Autor verwendete Begriff einer "Bewegung" will einfach nicht passen. Mit ihm werden eine Homogenität, eine gesellschaftliche Breite und ein Organisationsgrad unterstellt, die der Traditionalismus niemals besaß.

Durch seine starre Definition von Traditionalismus bringt sich Sedgwick in die Lage, beständig die Personen, die er einführt, klassifizieren zu müssen: als Traditionalisten, gemäßigte Traditionalisten, dem Traditionalismus nahestehende Autoren und so fort. Oft genug erweisen sich die nach Sedgwick unechten Traditionalisten oder die inhaltlich nicht klar traditionalistischen Schriften als besonders wirkungsmächtig. Dass dann noch eine verwandte Gestalt wie der charismatische George Gurdjieff von der Betrachtung ausgenommen wird und ein hart am Traditionalismus segelnder Geist wie Antoine Faivre nur am Rande vorkommt, ist unglücklich. Es hat etwas von Kanonisierung. Bezeichnenderweise steht denn auch am Anfang des Buches eine Liste mit den sieben "wichtigsten Traditionalisten".

Beim Blick auf den Traditionalismus in Europa nach 1968 erwähnt Sedgwick zwar Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel", hält sich bei ihm aber nicht weiter auf. Eine verpasste Chance: Der alte Fuchs Eco hätte Sedgwick den blinden Fleck zeigen können, auf dem seine eigene Pionierstudie steht: Geht es im "Foucaultschen Pendel" doch um Verlagslektoren, die aus Jux die Legende einer esoterischen Geheimgesellschaft konstruieren. Das Ergebnis dieser Bemühungen fällt im Roman am Ende sogar schlüssiger aus als die Doktrinen einer real existierenden okkultistischen Loge. Mark Sedgwick hat in gänzlich ernsthafter, jahrzehntelanger Recherche beeindruckend viel herausgefunden. Sein Buch ist für alle, die am Thema interessiert sind, ein guter Ausgangspunkt. Aber es bleibt der Zweifel, ob seine Geschichte des Traditionalismus dem Phänomen nicht doch eine Gestalt gibt, die konturierter ist, als es die dokumentierbaren Fakten hergeben.

DIETHARD SAWICKI

Mark J. Sedgwick: "Gegen die moderne Welt".

Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Nadine Miller. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 549 S., geb., 38,- [Euro].

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