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Was soll, kann und darf die Medizin, was der Arzt, was unser Gesundheitssystem? Kaum eine Frage birgt mehr Aufregung, geht es doch um etwas Existenzielles, um unsere Gesundheit. Und die ist nicht nur etwas ganz Privates, sondern hat - wie die derzeitigen öffentlichen und politischen Debatten zeigen - durchaus eine hohe gesellschaftliche Bedeutung.Themen wie Sterbehilfe, medizinische Versorgung im hohen Alter, Kinderwunsch, Organspende und Transplantationsmedizin sind medizinethische Streitpunkte, die sogar zur Auflösung des Fraktionszwangs im Bundestag führen. Jochen Vollmann, selbst Arzt,…mehr

Produktbeschreibung
Was soll, kann und darf die Medizin, was der Arzt, was unser Gesundheitssystem? Kaum eine Frage birgt mehr Aufregung, geht es doch um etwas Existenzielles, um unsere Gesundheit. Und die ist nicht nur etwas ganz Privates, sondern hat - wie die derzeitigen öffentlichen und politischen Debatten zeigen - durchaus eine hohe gesellschaftliche Bedeutung.Themen wie Sterbehilfe, medizinische Versorgung im hohen Alter, Kinderwunsch, Organspende und Transplantationsmedizin sind medizinethische Streitpunkte, die sogar zur Auflösung des Fraktionszwangs im Bundestag führen. Jochen Vollmann, selbst Arzt, aber auch renommierter Medizinethiker und -historiker, tritt einen Schritt zurück, um Entwicklungen zu erklären und immer wieder zu fragen, welche Medizin wir eigentlich wollen: eine von der ökonomischen Machbarkeit bestimmte, eine von ethischen Grundsätzen geleitete, eine vom medizinischen Fortschritt getriebene oder eine, die den Patienten und seine Selbstbestimmung in den Vordergrund stellt.
Autorenporträt
Jochen Vollmann, geboren 1963 in Dortmund, Medizinethiker und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet seit 2005 das Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er hatte Gastprofessuren an Universitäten in San Francisco, New York, Galveston und Sydney inne und wurde mit zahlreichen akademischen Lehrpreisen ausgezeichnet. Er berät Einrichtungen des Gesundheitswesens und ist Mitglied von Ethikkommissionen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2019

Pflicht zur Aufklärung
Jochen Vollmann verhandelt ethische Fragen der Medizin

Der plakative Titel sollte nicht abschrecken. In seiner kleinen Streitschrift "Die Galle auf Zimmer 7" geht es Jochen Vollmann nicht um Klinikschelte, vielmehr um die großen ethischen Herausforderungen der Medizin: Organspende, Sterbehilfe, Fortpflanzungsmedizin, Ökonomisierung.

Der Medizinethiker aus Bochum hat zahlreiche informative empirische Untersuchungen zu ethischen Fragen in der Medizin vorgelegt. Der Verweis auf eigene Veröffentlichungen macht denn auch den Löwenanteil der Referenzen aus. Zudem handelt es sich bei drei der neun Kapitel um Überarbeitungen von Beiträgen für diese Zeitung. Was den Leser erwartet, ist daher weniger eine akademisch elaborierte Abwägung bioethischer Positionen als vielmehr ein persönlicher Debattenbeitrag.

Wie im bioethischen Mainstream üblich deutet Vollmann die jüngere Geschichte der Beziehung von Patienten zu ihren Ärzten als späte Verwirklichung von Zielen der Aufklärung. So stellt er ein Zitat aus Kants berühmter einschlägiger Schrift voran. Nur ist die Unmündigkeit, aus der die Patienten in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend herausgetreten sind, nur zu einem Teil selbstverschuldet. Ärztlicher Paternalismus und Überheblichkeit haben sie zweifelsohne befördert. Heute zählen Pflicht zur Aufklärung und Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen zur unabdingbaren Voraussetzung der Rechtmäßigkeit ärztlicher Eingriffe.

Doch neue Herausforderungen stellen sich in der Praxis. Etwa im Blick auf Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie. Hier spürt man die Erfahrung des Autors, der auch zum Psychiater ausgebildet wurde. Jüngste Rechtsprechung des Verfassungsgerichts setzt so hohe normative Anforderungen, dass die Kliniken ihnen kaum gerecht werden können, etwa wenn Zwangsmaßnahmen wie kurzfristige Fixierungen auf eine halbe Stunde zu begrenzen sind. Alternativen sind leicht denkbar. Man braucht nur für jeden Patienten eigens einen Pfleger. Das Geld wäre womöglich zu beschaffen, aber das Personal findet sich nicht. Wie sich die Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen reduzieren ließe, dazu unterbreitet Vollmann differenzierte Vorschläge. Seinem Plädoyer für eine Änderung der Krankenhauskultur wird man gerne folgen. Doch was seine Forderung nach Änderung räumlicher Strukturen und Anpassung der Personalschlüssel betrifft, klaffen Wunsch und vorhandene Ressourcen weit auseinander.

Mit Blick auf das Ende des Lebens möchte Vollmann, dass Ärzte Hilfe bei der Selbsttötung sollen anbieten dürfen. Hier zeigen sich blinde Flecken in seiner Argumentation. Vollmann glaubt, dass ein Dammbruch vermieden werden kann, wenn Ärzte das Verlangen prüfen. Er verweist auf Erfahrungen im amerikanischen Bundesstaat Oregon, der auf Befürworter ärztlicher Suizidhilfe offenbar unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt. Die Zahl der Fälle ärztlicher Suizidbegleitung sei dort gering. Was er verschweigt, ist, dass sie auch in Oregon stetig steigt und der Bundesstaat eine der höchsten Suizidraten weltweit aufweist.

Vor dem Hintergrund der amerikanischen Kultur und des Zugangs zu Feuerwaffen in vielen Haushalten bedarf es nicht des Umweges, den Suizid von Ärzten genehmigen zu lassen. Was gegen Suizidhilfe spricht, wird von Vollmann nicht erwähnt. Doch das Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe ist ein Akt der Gefahrenabwehr. Denn die Empirie zeigt, dass dort, wo sie liberalisiert ist, die Zahl der Suizidfälle übermäßig ansteigt, Gewaltsuizide - durch Strangulieren, Feuerwaffen - nicht vermieden werden. Das Angebot macht zum Suizid geneigt.

Im Hinblick auf die anstehende Entscheidung über Regelungen zur Organspende zeigt sich Vollmann schwankend. Er will erst die Effekte abwarten, die das im Frühjahr in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Strukturen bei der Organspende zu zeitigen verspricht. Allerdings ist ihm auch hier Wesentliches entgangen. Er fordert, es müsse festgelegt sein, "dass eine intensivmedizinische Behandlung nicht mit dem Ziel begonnen werden darf, dass der Hirntod eintritt und die Organspende beginnen kann". Doch just dies erlaubt das neue Gesetz und schafft dafür Anreize. Da hätte man einen Aufschrei des Autors erwartet.

Das alles wird auch dem Laien verständlich serviert. Man mag nicht in allem folgen, doch den Streit lohnt es allemal.

STEPHAN SAHM

Jochen Vollmann: "Die Galle auf Zimmer 7". Welche Medizin wollen wir?

Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 128 S., br., 16,- [Euro].

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