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Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah galt lange als bundesdeutsche Erfolgsgeschichte. Dieses Image beginnt mit der zunehmenden Rechtsradikalisierung in Politik und Gesellschaft mehr und mehr zu bröckeln. Das vorliegende Buch zeigt, dass in diesem bundesdeutschen Selbstbild immer schon die Geschichte der Schuld- und Erinnerungsabwehr, der Täter-Opfer-Umkehr, der Selbststilisierung als Opfer und der antisemitischen Projektion ausgeblendet wurde. Eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der Vergangenheit hat auch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus…mehr

Produktbeschreibung
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah galt lange als bundesdeutsche Erfolgsgeschichte. Dieses Image beginnt mit der zunehmenden Rechtsradikalisierung in Politik und Gesellschaft mehr und mehr zu bröckeln. Das vorliegende Buch zeigt, dass in diesem bundesdeutschen Selbstbild immer schon die Geschichte der Schuld- und Erinnerungsabwehr, der Täter-Opfer-Umkehr, der Selbststilisierung als Opfer und der antisemitischen Projektion ausgeblendet wurde. Eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der Vergangenheit hat auch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus auf gesellschaftlicher Ebene kaum stattgefunden: durch die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern manifestiert sich vielmehr ein Selbstbild, das um den Mythos kollektiver Unschuld kreist.
Autorenporträt
geboren 1977 in Hannover, ist Antisemitismus- und Rechtsextremismusforscher und lehrt Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er ist u.a. Leiter einer Nachwuchsforschungsgruppe zum NSU-Prozess und wurde 2015 ausgezeichnet mit dem Preis der Stiftungsrates der Universität Göttingen in der Kategorie "Wissenschaft und Öffentlichkeit" für den "vorbildlichen Transfer aktueller wissenschaftlicher Themen in eine breite Öffentlichkeit".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.04.2020

Abwehren
statt erinnern
Samuel Salzborns scharfer Essay
über Deutschlands „Opfermythos“
Deutschland rühmt sich, zumal an Gedenktagen, gern seiner mutigen und ehrlichen Erinnerungskultur, seines verantwortungsvollen Umgangs mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust und einer Politik nach dem Grundsatz „Nie wieder Auschwitz“. Dass vieles daran vielleicht allzu wohlfeil ist, ist oft vermutet worden. Samuel Salzborn, Politikwissenschaftler an der Universität Gießen, geht aber ein paar Schritte weiter. Er sagt: Eine echte und wahrhaftige Aufarbeitung der Vergangenheit hat es praktisch nicht gegeben, aus der „Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus“ sei über die Jahrzehnte eine „Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik“ geworden. Der schmale Essay heißt provokativ: „Kollektive Unschuld“.
Salzborn ist bekannt für klare Aussagen, hier geht es aber um nichts weniger als die „größte Lebenslüge der Bundesrepublik“. Nur eine linksliberale, kleine Elite glaubt demnach, dass die Verbrechen des Holocaust aufgearbeitet wurden – die große Mehrheit verdrängt und verleugnet seit Jahrzehnten die deutsche Täterschaft und ergeht sich in einem „Opfermythos“. Diese „Erinnerungsabwehr“ wiederum befeuert den aktuellen Antisemitismus.
Viele treffende Argumente folgen. Manches gerät pauschal, einiges fehlt. Es verwundert, dass Salzborn deutschen Historikern im Grunde (Ausnahme: Götz Aly) zu misstrauen scheint, seine Referenzgrößen sind Theodor Adorno und Daniel Jonah Goldhagen. Und alles, was unbestreitbar an positiver Aufarbeitung geleistet wurde – von der Arbeit in KZ-Gedenkstätten bis zu Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 etwa – wird nur in Nebensätzen abgehandelt.
Und leider machen Salzborns Wissenschaftssprache und die langen Sätze das Lesen nicht gerade leicht. Die Adressaten dieser düsteren Diagnose – also die Mehrheit der Bürger jenseits der Erinnerungselite – dürfte er damit kaum zum Nachdenken bringen. Dabei wäre es durchaus lohnenswert, über Salzborns Thesen zu diskutieren und sie auf ihre Haltbarkeit in der Realität zu überprüfen.
ROBERT PROBST
Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020. 136 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2020

Die größte Lüge?
Debattenbeitrag zur Erinnerungskultur

Die deutsche Erinnerungskultur gilt vielen als beispielhaft. Samuel Salzborn sieht das anders. Der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sei "nicht weniger als die größte Lüge der Bundesrepublik" und die Entnazifizierung der Gesellschaft allein gute Absicht geblieben, heißt es in seinem Buch "Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern". Dass geschichtsrevisionistische Positionen kein Phänomen der Gegenwart sind, sondern tiefer greifende Wurzeln besitzen und nicht urplötzlich vom Himmel fallen, zeigt der Politikwissenschaftler in seinem Werk.

Die Analyse des Rechtsextremismusforschers unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Formen der deutschen Gedenkkultur: Erstere betrifft das im Kalender verankerte Erinnern im öffentlichen Raum, etwa durch Reden und Kranzniederlegungen an Gedenkorten. Schwierig verhalte es sich vor allem damit, sich mit der Schuld der eigenen Väter, Großväter und Urgroßväter zu beschäftigen, deren Fotos in Wehrmachts- und SS-Uniformen in alte Fotoalben geklebt sind: Ihrer Schuld, Juden als Ursprung allen Übels geglaubt zu haben; ihrer Schuld, von Hitler fasziniert gewesen zu sein - und nicht zuletzt ihrer Schuld, weggesehen zu haben.

Die Bundesrepublik fußt dem Autor nach auf einem Opfermythos der Deutschen, in dem Opfer und Täter in einem Nebel historischer Entkontextualisierung verschwimmen. In einem der insgesamt sechs Kapitel stellt Salzborn in diesem Kontext etwa filmische Produktionen der jungen Bundesrepublik an den Pranger, darunter "Des Teufels General", den "Arzt von Stalingrad" oder "Die Brücke". Solche Filme würden den Mythos aufrechterhalten, das deutsche Volk habe "nichts gewusst oder nichts gegen die Massenvernichtung tun können". Der Massenmord an den europäischen Juden werde nur am Rande erwähnt oder falle gar gänzlich unter den Tisch. Die Opferrolle sei für nichtjüdische Deutsche reserviert.

Dass ein Phantasma eines kollektiven Opferstatus bis in die Gegenwart weit verbreitet ist, belegt Salzborn mit empirischen Studien und Erkenntnissen aus der Antisemitismusforschung. Aus einer 2019 veröffentlichten Arbeit des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld geht etwa hervor, dass 69,8 Prozent der Befragten ihre Vorfahren nicht zu den Tätern des Nationalsozialismus zählen. 28,7 Prozent der befragten Deutschen sind der Auffassung, ihre Vorfahren hätten potentiellen Opfern geholfen. Historische Schätzungen besagen allerdings, dass der Anteil derer, die potentiellen Opfern tatsächlich geholfen haben, bei ungefähr 0,3 Prozent liegt. Gut die Hälfte der ungefähr 200 000 als NS-Täter Inhaftierten war zwei Jahre nach Kriegsende wieder auf freiem Fuß, ein nicht geringer Anteil fand danach einen Platz im öffentlichen Dienst, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.

Das sind keine neuen Erkenntnisse. Es sind auch zu großen Teilen keine neuen Zahlen. Doch 75 Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus existiert Antisemitismus nicht nur in Erzählungen der Geschichtsbücher, sondern inmitten der Gesellschaft. Seit Jahren weisen jüdische Organisationen darauf hin, dass diese Sprache in terroristische Gewalt münden kann. Dass das keine unberechtigte Sorge ist, beweist der Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten um 13 Prozent im Jahr 2019, nicht zuletzt das Attentat von Halle im vergangenen Herbst. In den vergangenen Tagen erhielt diese Synagogengemeinde einen rechtsextremistischen Drohbrief und fand Taschentücher, in Hakenkreuzform aufgereiht, vor der Synagoge.

Auf Ärmel aufgenähte "Ungeimpft"-Sterne, an KZ-Kleidung angelehnte Kostümierungen sowie die Instrumentalisierung Anne Franks auf sogenannten Hygienedemos zeugen zudem von Geschichtsvergessenheit, mangelndem Respekt und missbrauchen die Verantwortung gegenüber jüdischen Mitbürgern. Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die Publikation Samuel Salzborns, mag sie auch stellenweise vertiefende Worte zu wünschen übriglassen, als dringend notwendige Warnung.

JOHANNA CHRISTNER

Samuel Salzborn: "Kollektive Unschuld". Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2020. 136 S., br., 15,- [Euro].

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