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Ein Vogt, der seinem Herrn die Stirn bietet, eine junge Frau, die sich weigert, eine schon geschlossene Ehe zu vollziehen, ein zündelnder "Kurpfuscher " - das sind nur drei der Geschichten aus der Zeit zwischen 1600 und 1800, mit denen Otto Ulbricht in die unterschiedlichen Welten unbekannter Menschen einführt. Sie stehen als Beispiele für wichtige Themen der Frühneuzeitforschung wie Sozialdisziplinierung oder Medikalisierung. Gleichzeitig führt der Autor in die Entwicklung der Mikrohistorie als geschichtswissenschaftlicher Betrachtungsweise ein, referiert deren neuesten Stand und macht…mehr

Produktbeschreibung
Ein Vogt, der seinem Herrn die Stirn bietet, eine junge Frau, die sich weigert, eine schon geschlossene Ehe zu vollziehen, ein zündelnder "Kurpfuscher " - das sind nur drei der Geschichten aus der Zeit zwischen 1600 und 1800, mit denen Otto Ulbricht in die unterschiedlichen Welten unbekannter Menschen einführt. Sie stehen als Beispiele für wichtige Themen der Frühneuzeitforschung wie Sozialdisziplinierung oder Medikalisierung. Gleichzeitig führt der Autor in die Entwicklung der Mikrohistorie als geschichtswissenschaftlicher Betrachtungsweise ein, referiert deren neuesten Stand und macht deutlich, welche Felder historischer Forschung die Mikrogeschichte in Zukunft erschließen kann.
Autorenporträt
Otto Ulbricht ist außerplanmäßiger Professor für Geschichte an der Universität Kiel. Seine wichtigsten Forschungsgebiete sind Kriminalität, Pest und Armut in der Frühen Neuzeit.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2009

Betteln zwischen Hannover und Osnabrück
Otto Ulbricht erzählt von einem Kaufmann, nimmt die Perspektive der Unterschicht ein, analysiert Liebesbriefe – ein Manifest der Mikrogeschichte
Wie’s den Bettlern ging? Nun, das waren arme Teufel in Lumpen, unerwünschter Abschaum, der dazu da war, dass man ihm gelegentlich Almosen zukommen lassen und damit die eigene Güte demonstrieren konnte. Im Grunde musste man ihn jedoch durch strenge Verordnungen in die Schranken weisen, zum Schutz der ehrbaren Leute. Bettler brauchten eine amtliche Lizenz, an einem bestimmten Tag in der Woche durften sie dann ausrücken, diese Nervensägen. Das war die Sichtweise der Obrigkeit, und lange Zeit haben auch die Geschichtswissenschaftler das Bettlertum aus dieser behördlichen Perspektive betrachtet. Sie durchleuchteten Verordnungen, aber Namen, Gesichter und Geschichten hatten die Bettler nicht. Umso reizvoller ist es nun, aus dem Leben des Johann Gottfried Kestner zu erfahren.
Kestner, 1746 als Sohn eines Berliner Metzgers geboren, war professioneller Bettler, der sich zwischen Göttingen, Hannover und Osnabrück herumtrieb. Ein Invalide mit einem versehrten Arm zwar, aber gerissen genug, um sich mit allerlei Finten durchs Leben zu schlagen. Ein Angehöriger der untersten Schicht, aber kein Opfer seiner Gesellschaft. Der Kieler Historiker Otto Ulbricht hat mehrere Quellen aufgetan, mit denen er Kestner und seine Lebenswelt unter die Lupe nimmt. Wobei diese Lupe die Schärfe eines äußerst sensiblen Mikroskops hat, mit dem kleinste Bestandteile des Quellenmaterials seziert werden. Diese Vorgehensweise nennen Historiker Mikrogeschichte, es handelt sich um einen Forschungsansatz, der sich in den letzten Jahren zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hat. Gleichwohl scheinen seine Verfechter noch um Anerkennung zu ringen.
Otto Ulbrichts Buch „Mikrogeschichte” ist als Manifest seines Fachs zu verstehen. Breiten Raum nimmt der theoretische Diskurs ein, der schließlich reflektiert, unterfüttert und erläutert wird durch sechs Beispiele für die Praxis mikrogeschichtlichen Forschens. Der Bettler Kestner ist eines dieser Studiensubjekte. Dieser Mann vertritt die Subkultur seiner Zeit.
Daneben bietet Ulbricht dicht erzählte Untersuchungen über einen Flensburger Kaufmann dar, der im Jahr 1713 in geheimer Mission für den dänischen König schwedische Truppen ausspionierte, sowie über eine junge Frau, die sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfolgreich gegen eine Verheiratung wehrte. Durch die messerscharfe Analyse von Liebesbriefen vermittelt Ulbricht dem Leser die Gefühlswelt eines frühneuzeitlichen Goldschmiedegesellen, freilich nicht ohne den Liebesbrief als Quellengattung zu definieren. Dass Mikrogeschichte nicht unbedingt Menschen aus untersten Schichten fokussieren muss, betont Ulbricht nicht nur. Er führt anhand einer Studie über einen Gutsvogt vor, wie auch Funktionsträger eingebunden werden können.
Ihren Reiz erhalten die Beiträge aus der Darstellung. Geschichtswissenschaftlicher Wert ergibt sich aus der Fragestellung, vor allem aber aus dem Abgleich von Ergebnissen der Fallstudien mit den Erkenntnissen, die andere historische Teildisziplinen bereits zutage gefördert haben. Dies setzt ein breites Spektrum des Forschers voraus. Am Beispiel des Bettlers Kestner vermag Ulbricht das Thesengebäude der frühneuzeitlichen Sozialdisziplinierung ins Wanken zu bringen, die von einer ganzen Historikergeneration propagiert und akzeptiert, aber Ulbricht zufolge nicht hinreichend hinterfragt wurde. Aus der Perspektive der Bettlerquellen waren die obrigkeitlichen Maßnahmen nicht allzu wirkungsvoll.
Der Mikrohistoriker Otto Ulbricht betreibt mit seinem Buch Werbung in eigener Sache. Zweifellos will er damit eine Debatte neu anregen, die nie wirklich geführt wurde. Nicht umsonst pfeffert er seine Theorien mit Provokationen. Sie sind ebenso leidenschaftlich wie logisch nachvollziehbar und richten sich gegen die Vertreter der aus seiner Sicht überholten historischen Sozialwissenschaft. Ob sich die Nestoren Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka zu einer Reaktion bemüßigt fühlen, muss bezweifelt werden. Bislang schenkten sie der Historischen Anthropologie und der darauf fußenden Mikrogeschichte nur beiläufig Beachtung: Sie kanzelten sie ab. Ulbricht zitiert ihre Verdikte („mikro-historische Besenkammer”, „Klein-Klein”) mit merklicher Verstimmung.
Die Mikrogeschichte mag sich schwer in den geschichtswissenschaftlichen Kanon einbauen lassen, der auf Generalisierungen basiert. Dennoch stellt sie eine enorme Bereicherung dar. Kein anderer Forschungsansatz wendet sich intensiver dem Menschen zu. Wenn es dabei wie hier Otto Ulbricht gelingt, Geschichte an einem Individuum entlang aufzubereiten und nicht die nackte Geschichte eines x-beliebigen Individuums aus den Quellen nachzubeten, ist die Lektüre für alle gewinnbringend. Die Perspektive des Bettlers, die Warte der Gosse, der Blick von unten nach oben – all das wirft ein neues Licht auf die Geschichte.
RUDOLF NEUMAIER
OTTO ULBRICHT: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 410 S., 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rudolf Neumaier hat Otto Ulbrichts "Mikrogeschichte" als "Manifest" einer historischen Spezialdisziplin gelesen, die noch um allgemeine Anerkennung kämpft, und er findet, dass es dem Autor glänzend gelungen ist, Reiz und Wert dieser Forschungsrichtung zu demonstrieren. Der Autor wende sich - durchaus provokant - gegen die historische Sozialwissenschaft, wie sie von Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka vertreten wird, indem er statt auf "Generalisierungen" auf individuelle Geschichten abzielt, erklärt der Rezensent gefesselt. In Fallbeispielen schildert er das Leben eines Bettlers, einer jungen Frau, eines Goldschmiedegesellen oder eines Gutsvogts, das er akribischem Quellenstudium und mikroskopisch genauer Auslegung abgewinnt, wie Neumaier mitteilt. Ihn nimmt die Leidenschaft, mit der sich der Autor für seine Fachrichtung einsetzt, sehr ein, und er findet, dass die Mikrogeschichte gerade in Auseinandersetzung mit anderen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft zu interessanten Ergebnissen kommt und ein "neues Licht auf die Geschichte" wirft, wie der faszinierte Rezensent versichert.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Auf jeden Fall zeigt dieses Buch allen, die dachten, Mikrogeschichte stelle keinen Gegenstand grundsätzlicher Diskussion mehr dar, eines sehr deutlich: Mikrogeschichte ist quicklebendig! Ulbrichts "Mikrogeschichte" ist fraglos zu empfehlen." (sehepunkte, 15.09.2009)

Mikrogeschichte
"Otto Ulbrichts Buch ist als Manifest seines Fachs zu verstehen." (Süddeutsche Zeitung, 12.11.2009)

Ein engagiertes und ehrliches Lehr- und Lernbuch im besten Sinne.
- Norbert Schindler - (H-Soz-u-Kult, 03.03.2011)