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In der Gegend gilt er als Besessener, »besessen nicht allein von einem, sondern von mehreren, vielen, gar unzähligen Dämonen«. Tags geht er, der eigentlich Obstgärtner ist, durch den Ort. Leise redet er in Zungen in einer nichtexistierenden Sprache, erschreckt die Dorfbewohner mit Beschimpfungen und Schmähreden, mit Orakelsprüchen. Nur die Schwester hält zu ihm, die Eltern leben schon lang nicht mehr. Sie beobachtet, wie er anderen Lebewesen, Tieren zuspricht, und will nicht wahrhaben, dass er wie aus der Kehle eines Engels singt. Sie folgt ihm, auch an den See »mit dem anderen Land an dem…mehr

Produktbeschreibung
In der Gegend gilt er als Besessener, »besessen nicht allein von einem, sondern von mehreren, vielen, gar unzähligen Dämonen«. Tags geht er, der eigentlich Obstgärtner ist, durch den Ort. Leise redet er in Zungen in einer nichtexistierenden Sprache, erschreckt die Dorfbewohner mit Beschimpfungen und Schmähreden, mit Orakelsprüchen. Nur die Schwester hält zu ihm, die Eltern leben schon lang nicht mehr. Sie beobachtet, wie er anderen Lebewesen, Tieren zuspricht, und will nicht wahrhaben, dass er wie aus der Kehle eines Engels singt. Sie folgt ihm, auch an den See »mit dem anderen Land an dem Ufer gegenüber« - dort blickt ihn ein Mann an, wie er »noch keinmal von einem Menschen angeblickt worden war«, und da fahren die Dämonen aus ihm heraus. So macht er sich, »nach einem freilich langgezogenen Abschied, auf den Weg hinüber ins andere Land«.
Peter Handke erzählt von Dämonen, die ihren Schrecken verlieren im Blick desjenigen, der sagt: »Da bist du mir ja wieder, mein Freund!« Im Moment, in dem der Besessene so ist, wie er da war. Er erzählt von einer poetischen Verwandlung, einer Befreiung, die neben den Harmonien das »unausrottbar Widerständige« bewahrt; denn: »Ohne es wird nichts. Ohne es nichts als Dasein, Dortsein, und ewig unbeseeltes Sein.«
Autorenporträt
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.« 2019 wurde Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit feiner Ironie berichtet Rezensentin Iris Radisch über Handkes erstes Post-Nobelpreis-Buch. Zunächst zählt sie die üblichen Handke-Ingredienzien auf, die hier wiederum zur Vorführung kommen, insbesondere das erzählende männliche Ich in üblich "erlösungsbedürftiger" Verfassung, wie die Kritikerin schreibt. Im mittleren Teil dieses dreiteilig angelegten Textes allerdings scheint ihr auch etwas bisher noch nicht so Gewohntes zu geschehen, nämlich eine Art "Radikalisierung der kunstreligiösen" Momente des Dichters. Ihr Urteil darüber bleibt ein wenig vage, immerhin aber fällt ein Ausdruck wie "zeitgemäße Erbauungsliteratur". Wirklich begeistert scheint die Kritikerin also nicht zu sein, dennoch verbeugt sie sich am Ende doch auch vor des Dichters "Gabe zur sanften Selbstverhöhnung".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2021

Schön, aber wo bleibt der Widerstand?

Maul halten, Amseln! In Peter Handkes "Mein Tag im anderen Land" wird ein Obstgärtner seine Dämonen los und gründet im Jenseits eine Familie.

Ein Obstgärtner erlebt eine "Wahnperiode", er hat kein Bewusstsein seiner selbst und gilt seiner dörflichen Umgebung als "Schlafwandler auch tagsüber". Er verlässt sein Haus, schlägt sein Zelt auf einem alten Friedhof auf, läuft durch die Straßen und gibt "Beschimpfungen und Schmähreden" von sich, die auf alle und keinen zielen, ihn selbst aber nicht davon ausnehmen - er nennt sich "Spaltpilz" und "Ausgeburt der Hölle".

Kehrt er von seinen Ausflügen ins Dorf auf den Friedhof zurück, ist er dann plötzlich "die Sanftmut in Person". Er zetert nicht mehr, sondern lässt einen Singsang in einer nicht zu deutenden Sprache hören, ein "urfremdes Idiom", gerichtet an die anwesenden Tiere. Die Neugierigen, die aus der Umgebung zu dem Besessenen kommen, werden von ihm mit Orakelsprüchen traktiert. Er macht Schule, immer mehr "Platz- und Marktschreier" folgen seinem Beispiel, dies allerdings nicht als Gruppe, sondern als Einzelne, jeder für sich mit seinem Geschrei "aus abgrundloser Seelenverlorenheit".

Was jener Obstgärtner, der Erzähler in Peter Handkes als "Dämonengeschichte" bezeichnetem Buch "Mein Tag im anderen Land", aus großem zeitlichen Abstand berichtet, steht unter einem gewichtigen Vorbehalt: Er hat an die Phase seiner Besessenheit so gut wie keine Erinnerungen. Was er berichtet, stammt eigentlich von seiner Schwester und den anderen Dorfbewohnern, und so herrscht in diesem Teil des Buchs die indirekte Rede vor. Das führt zu geschickt gesetzten Distanzierungssignalen, zu Varianten innerhalb der Geschichte oder zu Formulierungen wie "Außer Haus galt es in der Gegend als eine Tatsache", was ja heißt, dass es im Haus schon anders aussehen kann.

Diese Herkunft seiner Geschichte legt der Obstgärtner gleich zu Beginn offen: "Ich habe sie, in ihrem ersten Teil, in Fleisch und Blut erlebt, leibhaftig wie kaum eine der sonstigen Geschichten meines Lebens. Aber ich weiß von ihr allein vom Hörensagen." Über der folgenden Darstellung seines exaltierten Verhaltens überliest man leicht, dass sich der Einschub "in ihrem ersten Teil" nicht nur darauf bezieht, dass der Obstgärtner dann im Gegensatz dazu vom zweiten Teil eben aus erster Hand erzählen kann, nachdem die Dämonen von ihm gewichen sind. Wesentlich aber ist der Hinweis darauf, dass nur dieser erste Teil "in Fleisch und Blut" erlebt wird und dies für den zweiten Teil nicht unbedingt gilt.

Dieses zweite von insgesamt drei Kapiteln beginnt mit einer Begegnung: Der Besessene trifft Fischer am Ufer eines Sees, einer von ihnen, "der gute Zuschauer", blickt ihn auf eine Weise an, die zum sofortigen Auszug der Dämonen führt. Dann schickt ihn der Fischer auf die andere Seite des Sees, in die Region Dekapolis, um dort die Geschichte seiner Besessenheit und Heilung zu erzählen.

Natürlich ruft diese Passage biblische Motive auf, vom See Genezareth in der Region der antiken zehn Städte, dem Austreiben der Dämonen bis hin zur Aussendung des Jüngers. Auch in der Beschreibung der Reise, die nun beginnt, folgt ein aus Jenseitsfahrten oder Apokalypsen herrührendes Bild auf das nächste, wobei das religiöse Arsenal keineswegs nur christlich ist - die Überfahrt mit dem Kahn, bei der ein Blutegel am Reisenden schon nichts mehr zu trinken findet, das selbstauferlegte Gebot, im Jenseits "nichts auflesen und an mich nehmen", die Begegnung mit Verstorbenen, die vage Erinnerung, an diesem Ort schon gewesen zu sein, die Stadt auf einem Hochplateau, das es zu erklimmen gilt, und dergleichen mehr.

Entscheidend ist die Wandlung, die mit dem Reisenden vor sich geht: Der einst Besessene und völlig Vereinzelte geht nun in der Gemeinschaft auf. "Die folgenden Jahre waren Jahre der Harmonie. Ich freute mich jeden Tages, und war mir gewiß, das entspreche auch meiner Natur. Vor allem war ich ein gesellschaftliches Wesen wie nur je eins, wirksam im Tun wie im Lassen, im Sein-und-gelten-Lassen", was für einen Menschen, der eben noch den trillernden Amseln ein "Maul halten!" zugezischt hatte, eine beachtliche Entwicklung ist. Auf sie scheint es dem Autor wesentlich anzukommen, diesen Aspekt malt er aus wie keinen anderen des Buches.

Natürlich mag man darin nicht zuletzt ein Selbstbild des periodisch so zornigen Handke ahnen, der alle beschimpft, die ihn mit unangenehmen Fragen konfrontieren, etwa wenn der Obstgärtner "gegen die gesamte Schöpfung" wütet und sich später "von diesem und jenem" sagen lassen muss, er habe sein "Zeter-und-Mordio-Geschrei" von sich gegeben, "ohne dabei je heiser zu werden" - Letzteres ist im Buch als Zitat gekennzeichnet, so als stammte es von einem realen Kritiker des Autors. So verführerisch es also sein mag, von diesem Text auf Handke selbst oder auf dessen Familie zu schließen, spätestens in jenem zweiten Teil werden die literarischen Verweise überdeutlich, und auch die Tradition der Himmelsreisen, in die Handke seinen Text stellt und aus der er erwächst, ist unabweisbar. Das schließt die genreüblich gedehnte Zeit mit ein: Der Reisende jedenfalls, der innerhalb der neugefundenen Gemeinschaft heiratet und Kinder großzieht, spricht von Jahren, die er dort verbringt, ungeachtet des Buchtitels, der ausdrücklich von dem einen "Tag im anderen Land" spricht.

Das ist kein Widerspruch, aber ein Hinweis darauf, dass mit dem Gemeinschaftsglück das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Tatsächlich lassen die wenigen Seiten des finalen dritten Teils die "Dämonengeschichte" noch einmal in neuem Licht erscheinen, geschickt vorbereitet durch die Schilderung leiser Zweifel, die den Familienvater befallen und nach seinem "Naturwesen" fragen lassen, nach dem "Widerständigen" von einst.

Was also hat der Obstgärtner erlebt in Fleisch und Blut, was in Gedanken, und in welchem Zustand das, was ihm im Finale begegnet? Der Reichtum der "Dämonengeschichte" besteht in der Kunstfertigkeit, mit der diese Fragen gestellt und offengelassen werden, bis über das Ende hinaus. Dass am Schluss einer Pilgerreise ins Jenseits, sei sie nun auf das himmlische Jerusalem, Dschinnistan, Asgard oder die keltische Anderswelt gerichtet, die künftige Orientierung auf eine dieser Welten oder eben diejenige steht, von der aus man aufgebrochen ist, gehört zum Genre. Handkes Obstgärtner aber ist außerstande dazu, und die Selbstumarmung in der letzten Szene, die von einem gleitenden Übergang zwischen den Welten bestimmt ist, verweigert diese Entscheidung ebenfalls.

Seine Rettung findet der Obstgärtner im Aufschreiben seiner Erlebnisse. Darin, "daß sich ein die Worte akzentuierender Rhythmus, fürs erste zumindest, eingestellt hat". Es ist die Form, die Erlösung verspricht, von der Besessenheit durch die Dämonen ebenso wie von der Machtlosigkeit beim Erleben einer Vision: "Solch Schreiben hat mich unversehens geweckt."

TILMAN SPRECKELSEN

Peter Handke: "Mein Tag im anderen Land". Eine Dämonengeschichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 93 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.03.2021

„Häßlich, häßlich,
verboten häßlich!“
Was für ein Publikum wünscht sich Peter Handke?
Wie war das noch mal 1966? Das wissen wir natürlich gar nicht mehr, wir Nachgeborenen, wir Internetsüchtlinge, wir Selbstvermarkter, wir Idioten des 21. Jahrhunderts. Das lesen wir uns an und gucken es auf Youtube: Wie der damals noch pausbäckige Österreicher Peter Handke beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton gegen die patriarchale Geisteselite wetterte: „keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur“. Und wie er im selben Jahr mit der Claus-Peymann-Aufführung seines ersten Stückes „Publikumsbeschimpfungen“ die Zuschauer aus ihrem Guckkastenschlaf weckte. Handkes Rede, „ihr Stiernacken, ihr Kriegstreiber, ihr Untermenschen“, war da auf vier Schauspieler verteilt. Noch heute ist erstaunlich, in der alten Fernsehaufnahme zu sehen, wie begeistert das Publikum sofort mitspielte.
55 Jahre später haben sich Handke und sein Publikum immer mal wieder und zunehmend humorlos beschimpft. Zuletzt, als er 2019 den Literaturnobelpreis bekam und noch mal seine Parteinahme für Serbien in den jugoslawischen Zerfallskriegen zur Debatte stand. „Ich bin nicht hier, für diesen Scheißdreck, auf diesen Scheißdreck zu antworten“, sagte er bei der Gelegenheit auf Journalistenfragen hin. Die erste nach diesem Fallout entstandene längere Prosa Handkes erscheint jetzt unter dem Titel „Mein Tag in einem anderen Land“, und es gibt darin einen Erzähler, der sich als Paria beschreibt, als Spinner seines Dorfes. Seine zentrale „Wahnperiode“ habe er zwar „in Fleisch und Blut“ erlebt, aber keine eigene Erinnerungen daran.
Von seiner Schwester, die in dieser Zeit seine Aufgaben als Obstgärtner übernommen habe, erfährt der Erzähler, dass er auf dem Friedhof gelebt habe und von dort aus leise vor sich hinsprechend, später brüllend durchs Dorf gezogen sei. Man beachte, wie Handke seine „Ortsdurchquerungssuada“ gendert: „Der oder die mit dem fliehenden Kinn ein gleiches Ärgernis wie die oder der mit dem vorstehenden, die Adlernasen genauso unschön wie die Stupsnasen, alle die kleinen Busen gleich schamlos wie die großen, Blondhaar ebenso alt aussehend wie schlohweißes. Häßlich, häßlich, verboten häßlich!“ Nicht nur Publikumsbeschimpfer, vielmehr Existenzbeschimpfer ist dieser Charakter: „Hassenswertes Blau des Himmels. Nieder mit der Schöpfung.“
Für Momente mag man glauben, dass Handke in der absurden Hybris dieser Figurenrede seinen jugendlichen Humor wiedergefunden hat. Man hofft zugleich, bitte, lass es keine Künstlerparabel werden. Diese Homo-sacer-Gestalt, von den Kindern gemieden, von den Erwachsenen zum warnenden Beispiel gemacht, die gefährlich ist und durch die Gegenwehr der Leute selber in Gefahr, wirkt als Dichter-Alter-Ego doch furchtbar melodramatisch, oder zumindest leise pubertär. Zumal in einer Zeit, in der jeder beliebige Bürger Anspruch auf seine Singularität erhebt, in dieser Literaturstipendiaten-Gegenwart, in der die Broker und Betrüger einsamer über die Masse erhoben sind als jeder Künstler.
Handke meint es aber bitter ernst mit dem Außenseiter-Topos: „Meine Schwester“, heißt es in „Mein Tag in einem anderen Land“, „mutmaßte seinerzeit, solche im übrigen episodischen und tags darauf verflüchtigten schlechten Meinungen zu meiner Person rührten daher, daß ich, noch als Junger, bald nach der Landwirtschaftsschule, ein Buch über den Obstbau geschrieben hatte, eine bloße Broschüre ,Über die drei Arten, Spalierbäume zu ziehen‘, wovon aber im Dorf das Gerücht namens ,Buch‘ in Umlauf war, als etwas für unsere Region Fremdes, gar Anmaßendes, wenn nicht Macht Behauptendes, und zwar eine falsche, eine gefälschte Macht. ,Der Obstgärtner im Machtwahn!‘“ Es wird nicht sein letztes Buch bleiben.
So ein Obstbaubuch hängt wirklich, weiß die Handke-Biografie von Malte Herwig, „im Herrgottswinkel seines Schreibzimmers“ in Chaville bei Paris. Handkes 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallener Onkel Gregor Siutz hat es geschrieben, nach dem Figuren in vielen seiner Bücher heißen, sein „schreibender Vorfahr“. In dieser Familienkonstellation betrachtet, entspräche die Schwester der neuen Novelle, die dem Erzähler seine Geschichte wiedergibt, wo er sich nicht selbst erinnern kann, Handkes Mutter. Die soll den verlorenen Bruder „das Beispiel eines Menschensohns“ genannt haben.
In ihrem zweiten Teil geht die Außenseiterparabel denn auch über in eine Umschrift der biblischen Wunderheilung Jesu an einem von Dämonen Besessenen. Dem, der im Markus-Evangelium zu Jesus sagt: „Legion heiße ich; denn wir sind viele“ – zitiert von Black Sabbath bis Tocotronic. Handkes Erzähler wird aber nicht von einem gewöhnlichen Heiland zu Verstand gebracht, sondern von den „Augen eines Mannes“, den er typisierend „der Gute Zuschauer“ nennt. Da horchen wir normalen, von Handke auch hier wie so oft für unser Banausentum geschmähten Leser natürlich sofort auf. Wie stellt er sich den vor? Jedenfalls soll er „anders als viele der aktuellen wie auch organisierten Zuschauerschaften“ nicht „im Interesse eines Markts oder, bewahre!, der Macht“ zuschauen.
Die Erlösung für den Künstler bringt ein „Zuschauen, ein rein mitgehendes, selbstlos teilnehmendes, freundschaftliches. Es wollte dabei auf keinen Fall gesehen werden. Und wurde doch gesehen.“ Es ist das interesselose Wohlgefallen der guten, alten Ästheten. Das müssen andere sein als die Zuschauer, die der junge Handke mit den „Publikumsbeschimpfungen“ frei machen wollte „wie die Kinder, die den Kasperl beim Kasperlespiel durch Schreien und Johlen vor dem Krokodil warnen können“.
Der erlöste Erzähler jedenfalls wird wie in der Bibel losgeschickt, um „in der Dekapolis“ von seiner Heilung zu künden. Eine Wanderung beginnt, hier als metaphorische Lebensreise, auf der verschollene Vorfahren und ungeborene Kinder auftauchen, rücksichtslose und dankbare Wegelagerer, eine „Frau, die später die meine wurde“, Leute, die ihm ihre Geschichten erzählen. Schattenhaft gleiten sie am Rande des Gesichtsfelds vorbei in diesem „anderen Land“, das aber vor allem verbaut ist und menschenleer: „Es war ein Werktag, an dem ich das mir unbekannte, oder unbekannt gewordene Land durchstreifte, und zugleich sah ich mich Schritt um Schritt in einem Feiertag.“
Dazu passend hat der Biograf Malte Herwig gerade in der Welt am Sonntag erzählt, wie es Peter Handke in der Corona-Pandemie so geht. In Frankreich, wo er lebt, gibt es eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 19 und sechs Uhr, man darf sich nicht weiter als zehn Kilometer von zu Hause entfernen. Für einen Schriftsteller, „der sich seine Bücher erwandert“, seien das unmögliche Bedingungen. Weshalb ihm sein französischer Verlag Gallimard ein Schreiben ausgestellt habe, hier arbeite einer „an einem großen Werk“. Damit geht er durch die verlassene Welt.
Herwig beschreibt, wie Handke nachts auf dem leeren Platz vor der Kathedrale Notre-Dame sitzt und die Rosette abzeichnet. Drei Polizisten treten auf und fragen, was er da tut. Als er seinen Passierschein vorzeigt, „hellten sich die Gendarmengesichter auf“, weil es ja eine Kulturnation ist. Hier lebt der Dichter das Emblem der einsam irrenden Lichtgestalt, das er in „Mein Tag in einem anderen Land“ noch einmal erschafft. Oder er findet jedenfalls immer wieder einen, der an dieser heiligen Legende mitschreibt.
Damit seine Rolle als Outcast irgendeinen Sinn ergibt, braucht er aber eben auch die unter uns dringend, die ihn für seine Künstlerpose auslachen und für seine Eitelkeit verachten. Ganz ist der alte Puppenspieler noch nicht hinter dem Mythos seiner selbst verschwunden. Als weitgereister Würdenträger blickt er in seinem neuen Buch „über die Schulter in eine Schwärze der Schwärzen“ und ruft: „Seid ihr alle da?“ – Ja, eh.
MARIE SCHMIDT
Er meint es leider furchtbar
ernst mit dem Topos vom
Künstler als Außenseiter
„Zuschauen, ein rein
mitgehendes,
selbstlos teilnehmendes“
Im Corona-Lockdown zieht der
Dichter mit Passierschein durchs
menschenleere Land
Peter Handke: Mein Tag in einem anderen Land. Eine Dämonengeschichte.
Suhrkamp, Berlin 2021.
93 Seiten, 16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Da steckt der ganze Handke drin. [Mein Tag im anderen Land] ist das Kondensat - und Resümee - eines Dichterlebens ...« Christine Dössel Süddeutsche Zeitung 20210717