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BJÖRK: »Niemand verbindet Herz und Verstand poetischer als SJÓN.«
Island 1918: Die Spanische Grippe versehrt das Land, Vulkan Katla verdunkelt den Himmel und Island erhält endlich seine Unabhängigkeit. Zeiten des Aufruhrs und Aufbruchs. Mittendrin Máni Steinn: ohne Eltern, ohne Arbeit und zu allem Übel kann er weder lesen noch schreiben. Schlechte Voraussetzungen für einen jungen Mann in dieser Zeit. Aber Máni liebt das Kino und findet Rettung bei den Stummfilmen - und bei der schönen Sóla. Auf ihrem Motorrad entführt sie ihn aus der Dunkelheit und zeigt ihm, dass sich der Kampf lohnt, wenn…mehr

Produktbeschreibung
BJÖRK: »Niemand verbindet Herz und Verstand poetischer als SJÓN.«

Island 1918: Die Spanische Grippe versehrt das Land, Vulkan Katla verdunkelt den Himmel und Island erhält endlich seine Unabhängigkeit. Zeiten des Aufruhrs und Aufbruchs. Mittendrin Máni Steinn: ohne Eltern, ohne Arbeit und zu allem Übel kann er weder lesen noch schreiben. Schlechte Voraussetzungen für einen jungen Mann in dieser Zeit. Aber Máni liebt das Kino und findet Rettung bei den Stummfilmen - und bei der schönen Sóla. Auf ihrem Motorrad entführt sie ihn aus der Dunkelheit und zeigt ihm, dass sich der Kampf lohnt, wenn man sich treu bleibt. In einer lyrischen, bildgewaltigen Sprache verwebt Sjón Historisches mit Phantastischem. Auch sein neuer Roman ist Weltliteratur.
Autorenporträt
Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers »Dancer in the Dark« wurden für den Oscar nominiert. Für »Schattenfuchs« erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Sein Roman »Der Junge, den es nicht gab« wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. FISCHER die Romonatrilogie »CoDex 1962« (2020).   Betty Wahl übersetzt aus dem Isländischen und ist freie Dozentin für Alt- und Neuisländisch. Sie hat Autoren wie u.a. Sjón, Gyrðir Eliasson oder Jón Gnarr übersetzt und war 2011 an der Neuübersetzung der Isländersagas beteiligt. Dabei verlagerte sie ihren Lebensmittelpunkt allmählich in Richtung Island; heute lebt und arbeitet sie abwechselnd in Reykjavík und Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2015

Infektiöse Leinwandträume

Der isländische Autor Sjón erzählt von einem homosexuellen Künstler in Reykjavík 1918: Sein Roman "Der Junge, den es nicht gab" ist eine expressionistische Miniatur über Unabhängigkeit und Emanzipation.

Der Winter 1918 ist einer der dunkelsten in der isländischen Geschichte. Die Eruptionen des Vulkans Katla werden zwar spürbar weniger, doch noch immer steht die Rauchsäule steil am Horizont. Eine Rußschicht bedeckt bei ungünstigen Windverhältnissen die Häuser von Reykjavík. "Noch um zehn Uhr vormittags war es in den Schlafzimmern der Stadt so finster wie in tiefster Nacht. Aus diesem Grund kamen viele von ihnen erst spät aus den Federn, und als der Junge gegen Mittag loszieht, tasten sich die Menschen gerade erst in die Wirklichkeit zurück."

Doch die Wirklichkeit unter der Asche ist nicht weniger düster als die Atmosphäre nach dem Vulkanausbruch. Die Spanische Grippe geht um. Die ersten Krankheitsfälle wurden zu Beginn des Monats registriert, nur wenige Tage später ist jeder dritte Bewohner Reykjavíks ernsthaft erkrankt. Den Verlauf der Pandemie erkennt der Junge, dessen Schicksal der schmale Roman des Isländers Sjón verfolgt, am Ausbleiben des Publikums in den Kinosälen. Es wird still im Stummfilm. Nun hat es auch die Musiker der Live-Kapellen erwischt. Das Kino wird hier wortwörtlich zur Ansteckungsanstalt umcodiert. Nur der Junge, ein unbeirrbar Cinephiler, lässt sich nicht abhalten vom sinnlichen Vergnügen. Das bisschen Geld, das er sich als Toyboy verwegener Männer in Reykjavíks Gassen verdient, trägt er sofort an die nächste Kinokasse. Es gibt keinen nach Island importierten Stummfilm, den er nicht gesehen hat. Bis auf eine Ausnahme, als er selbst von der Influenza geschüttelt wird.

Sjón, der ausbuchstabiert Sigurjón Birgir Sigurðsson heißt, hat sich in den achtziger Jahren als Mitglied der Surrealisten-Punk-Dada-Performance-Lyrikgruppe Medusa einen Namen als Verfasser traumwandlerischer Lyrik gemacht. Richtig bekannt geworden ist er dann durch Songtexte, die er für Björks Auftritt in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark" geschrieben hat. "Der Junge, den es nicht gab" ist sein vierter Roman. Sjón kehrt darin zu der reduzierten Bildsprache seiner frühen Prosa zurück, nachdem er vor vier Jahren einen neuzeitlichen Naturforscher etwas zu beherzt aus seinen Mistelzweigen hatte sprechen lassen. Der Junge, von dem Sjóns neuer Roman handelt, hat es nun weniger mit den Neigungen der Natur zu tun als mit der Natur der Neigungen. Ihn zieht es nicht nur ins die Vorstellungskraft mit Traumbildern infizierende Kino, sondern auch zu den Männern. Homosexualität kann im Island der erzählten Zeit nur im Verborgenen gelebt werden. "Der Junge, den es nicht gab" ist nicht nur aus diesem Grund die Geschichte eines Ortlosen. Schon als Kind von seiner Mutter, der traurigen Insassin einer Leprastation, getrennt, dann von einer Urgroßtante versorgt, verbringt Máni Steinn seine Zeit am liebsten an Orten, die es nur auf der Leinwand gibt oder eben dort, wo es sonst nur die Bettler und Gauner hinzieht.

Die einzige positive weibliche Figur ist die gleichaltrige Sóla Guob-, die ihn an eine Stummfilmdiva mit dem klingenden Namen Musidora erinnert. Sie fährt Motorrad und ist von einer Aura überindividueller Freiheit umweht, wie sie für den Jungen in seiner Lage unvorstellbar ist. "Wie er weiß, liegt es in der Natur solcher Frauen wie Sóla Guob- und Irma Vep, ihrer französischen Doppelgängerin aus ,Les Vampires' und dort von Musidora verkörpert, dass sie in jede erdenkliche Rolle schlüpfen und dabei zugleich ,Die Frau schlechthin' und ,Die einzig Wahre' sein können." Das "einzig Wahre" definiert sich für den Jungen in einer unerhörten Lust an der Überschreitung, wie sie Musidora in der Rolle der Gangsterbraut Irma Vep auskostet, indem sie in einem schwarzen Catsuit Hauswände und Dächer erklimmt. "Und all das tut sie mit der unbeschwerten Leidenschaft derer, die sich von den Gesetzen ihrer Mitbürger losgesagt haben."

Dem Jungen selbst gelingt es nicht, sich von den Gesetzen seiner Mitbürger loszusagen. Er wird in flagranti mit einem dänischen Matrosen erwischt und von der Insel entfernt, um sie erst viele Jahre später als Dolmetscher eines britischen Filmteams wieder zu betreten.

Sjón ist eine wunderbare expressionistische Miniatur über das Reykjavík kurz vor der Unabhängigkeit gelungen. Leitmotivisch wird die Erzählung vorangetrieben durch das Motiv der Ansteckung: infektiöse Leinwandträume, Infektionskrankheiten, deren Verbreitung in den Leprahäusern der Jahrhundertwende und später in den Theatersälen der Filmära ihren Lauf nimmt, und die Angst vor einem infektiösen Sittenverfall im Kino und in der Männerliebe. Am Ende erzählt Sjón auf nur hundertfünfzig Seiten auch die literarische Geschichte einer Befreiung zum Künstler. In einer ebenso klaren wie drastischen Sprache werden historische Ereignisse darin ebenso souverän verhandelt wie die großen emanzipatorischen Fragen der ersten Hälfte des vergangenen europäischen Jahrhunderts.

KATHARINA TEUTSCH

Sjón: "Der Junge, den es nicht gab". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 150 S., geb., 17,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Sjón ist eine wunderbare expressionistische Miniatur über das Reykjavic kurz vor der Unabhängigkeit gelungen. Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20150701