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Die gesammelten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller.
Was hat das Heute mit dem Gestern zu tun? Warum wollen wir oft nichts von unserer Vergangenheit wissen, ohne die wir gar nicht die wären, die wir sind? Und wer waren unsere Eltern und Großeltern wirklich? Wer Maxim Billers Bücher kennt und liebt, weiß, dass ihm diese Fragen besonders wichtig sind, sie bilden den poetischen und auch sehr menschlichen Kern seiner Literatur. Dabei begegnen uns in seinem Werk bestimmte Figuren und Orte immer wieder in neuen, überraschenden Variationen: Gebrochene Väter, traurige Mütter und…mehr

Produktbeschreibung
Die gesammelten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller.

Was hat das Heute mit dem Gestern zu tun? Warum wollen wir oft nichts von unserer Vergangenheit wissen, ohne die wir gar nicht die wären, die wir sind? Und wer waren unsere Eltern und Großeltern wirklich? Wer Maxim Billers Bücher kennt und liebt, weiß, dass ihm diese Fragen besonders wichtig sind, sie bilden den poetischen und auch sehr menschlichen Kern seiner Literatur. Dabei begegnen uns in seinem Werk bestimmte Figuren und Orte immer wieder in neuen, überraschenden Variationen: Gebrochene Väter, traurige Mütter und stolze Söhne genauso wie Stalins düsteres Moskau, das wilde Prag von 1968, das flirrende Berlin der Nachwendezeit, das stille, melancholische Hamburg und natürlich auch Tel Aviv, die weiße Stadt am Meer, in der man als Jude wenigstens manchmal vergessen kann, wie blutig die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts war, ohne ihr ganz entkommen zu können. Sogar noch weniger als seiner fröhlichen, lauten, traumatisierten, komplizierten Verwandtschaft. Dieser Band versammelt das erste Mal die besten Familiengeschichten des großen Erzählers Maxim Biller: eine Lektüre, die süchtig macht.

Mit einem Nachwort von Helge Malchow
Autorenporträt
Maxim Biller , geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Wenn ich einmal reich und tot bin«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Sein Roman »Esra«, den die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch« lobte, wurde gerichtlich verboten und ist deshalb zurzeit nicht lieferbar. Seine Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte, und »Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten« (2020). Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Zuletzt erschien sein Roman »Der falsche Gruß« (2021).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2020

Das Geheimnis meines Erfolgs
Eine Sammlung seiner Familiengeschichten zeigt Maxim Biller als außergewöhnlich liebesbegabten Autor
Wenn Maxim Biller schreibt, dann schreibt er von sich. Das ist in seinen Kolumnen, in denen ein jüdischer Schriftsteller um gute Ideen ringt, stets genauso gewesen wie in seinen Romanen und Erzählungen, die allesamt um Herkunft und Familie kreisen. Das Autobiografische ist der Boden, aus dem bei ihm alles hervorgeht. Das ist bei einer Emigrationsgeschichte mit russisch-jüdischen Eltern, die über Prag, wo Biller 1960 geboren wurde, 1970 weiter und ausgerechnet nach Deutschland auswanderten, auch nicht verwunderlich, denn sie bietet Stoff und innere Spannungen genug.
Billers Literatur bewegt sich auf dem schmalen Grat, wo das gelebte Leben sich unmerklich in Literatur verwandelt, in dieser Verwandlung aber auch dann autonom und fiktiv wird, wenn die geschilderten Ereignisse ganz und gar der sogenannten Realität gleichen. Dieses Schreiben aus dem Leben heraus liegt derzeit ja durchaus im Trend, wie die Erfolge von Karl Ove Knausgård oder Annie Ernaux belegen. 1990, als Billers erzählerisches Debüt „Wenn ich einmal reich und tot bin“ erschien, war das jedoch anders.
Insofern stimmt, was der Verleger Helge Malchow im Nachwort zu der jetzt neu herausgekommenen Sammlung „Sieben Versuche zu lieben“ schreibt: Der Blick auf Billers Gesamtwerk habe sich spätestens mit den autobiografischen Romanen „Sechs Koffer“ (2018) und „Biografie“ (2016) verändert. So hat der Verlag für diese dreizehn – und nicht sieben, wie der Titel vermuten ließe – Erzählungen dann auch gleich die Gattungsbezeichnung „Familiengeschichten“ erfunden.
All diese Texte erschienen bereits zwischen 1990 und 2007, sodass diese Neuklassifizierung als „Familiengeschichten“ schon aus verlegerischen Gründen notwendig ist. Alle sind zwischen Prag, Hamburg, München und Berlin angesiedelt, den Lebensstationen Billers, und führen in Familienverhältnisse, die denen des Autors ähneln. Wenn Malchow aber weiter schreibt, Familie erweise sich dabei als „sicherer Zufluchtsort, zumal für jüdische Emigranten“, erzählen Billers Geschichten doch etwas ganz anderes. All seine literarischen Familien sind zerrissen. Der Vater ist entweder vorausemigriert oder im Land zurückgeblieben oder die Eltern sind geschieden, sodass die Söhne zu Vatersuchern werden müssen, die mit den abwesenden Vätern auch nach der Wahrheit hinter all den Legenden zu suchen haben, mit denen sie aufgewachsen sind. Die jüdische Herkunft ist dann weniger Zufluchtsort als unentrinnbares Schicksal. Die Wahrheit bleibt auf der Strecke der Lebensläufe. Was hinterher erzählt wird, sind Verbesserungen und Verschönerungen, die dem Überleben dienen, ein Dickicht, das Billers nur leicht variierte Ich-Erzähler ein ums andere Mal zu durchdringen suchen.
Das mag in der Geschichte mit dem Titel „Warum starb Aurora“ noch harmlos sein, wo es um eine in der Dorfkindheit des Vaters getötete Ziege geht, und auch der Vater nicht weiß, ob er sie damals womöglich selbst getötet hat. Tragischer sind die Verhältnisse in „Ein trauriger Sohn für Pollok“, wo der Sohn, ein Journalist und Literat wie Biller, den Erzfeind der Familie aufsucht, einen im Exil stets erfolgreichen Großschriftsteller, der – so geht die Familienlegende – den Vater einst in der tschechischen Botschaft in Moskau denunzierte, sodass er für fünf Jahre im Lager landete und später im westdeutschen Exil. In der direkten Konfrontation zwischen dem zunächst selbstgerechten, bescheidwissenden Sohn und dem mutmaßlichen Verräter enthüllt Biller mit kurzen, knappen Strichen nach und nach eine ganz andere Version: eine Kriegskindheit, eine Dreiecksgeschichte um Liebe und Verrat, bei der die anfangs so klar verteilte Schuld allmählich problematisch wird.
„Warum werden die Dinge aus der historischen Rückschau heraus so lückenhaft und unterschiedlich?“, fragt sich dieser Erzähler. Mehr noch wundert er sich darüber, dass „das Moment der Verdunkelung seltsamerweise sogar noch zunimmt, wenn sich jemand der Aufgabe stellt, die Vergangenheit zu beleuchten.“ Damit enthüllt er das Grundprinzip des vergangenheitserkundenden Erzählens: Je tiefer er in die Geschichte vordringt, desto fragwürdiger werden die Ereignisse.
Dass es keine einfachen Antworten gibt und keine Eindeutigkeit, gehört sicher zum Erfolgsrezept Maxim Billers auf dem Feld der deutsch-jüdischen Geschichte, das er mit seiner eigenen Biografie repräsentiert. Das weiß er auch selbst, wenn er eine seiner Alter-Ego-Schriftstellerfiguren sagen lässt: „Ich war jemand gewesen, der sich ununterbrochen rechtfertigen und beweisen musste, und dass am Ende meine eigenen Leute bei mir noch viel mehr abbekommen hatten als die Deutschen, das war es dann wohl auch gewesen: das Geheimnis meines Erfolgs.“ Das aber sagt er als einer, dem nicht die Emigration, sondern Deutschland das Problem gewesen ist: „Denn erst hier in diesem stummen Land, wo man glaubt, dass Temperament aufdringlich ist und Intelligenz hinterhältig, wurde ich überheblich und schwach, schüchtern und starrsinnig. Dafür hasste ich Deutschland.“
Die vielleicht schönste Geschichte handelt von drei Jungs, die den Sommer 1968 in einem tschechischen Sanatorium verbringen, David, Neruda und der Deutsche, den sie, um ihn zu ärgern, „Hitler“ nennen. Biller beschreibt eine Freundschaft im Sommeridyll, während in Prag die Unruhe wächst. Das aber bleibt den Jungs fern, bis eines Tages auf der Landstraße die Panzer vorbeifahren. Meisterhaft, wie Biller Geschichte gewissermaßen im Vorbeigehen sichtbar macht, indem er einen stillgestellten Augenblick zeichnet und an einen schönen Freundschaftsmoment erinnert.
Biller sieht sich selbst als Nachfolger Heinrich Heines, dem Zugehörigkeit und der Status als „deutscher Schriftsteller“ ebenfalls problematisch gewesen sind. Der Hass, den Biller – etwa in der Kolumne mit dem Titel „100 Zeilen Hass“, die ihn einst bekannt gemacht hat – gerne vor sich herträgt, ist aber, wie seine „Familiengeschichten“ nahe legen, vielmehr ein getarntes Sentiment. Biller ist ein melancholischer Autor, der tatsächlich versucht, das zu lieben, was er hassen muss. Die „Sieben Versuche zu lieben“ tragen ihren Titel also durchaus zu Recht.
Biller ist darin – ganz entgegen seiner Migrationsgeschichte – als ein äußerst ortsfester Autor zu entdecken, der sein Thema und seinen Ton von Anfang an gefunden hat und im Lauf der knapp 20 Jahre, die diese Sammlung umfasst, keinerlei Wandlung durchlaufen zu haben scheint. Er ist ein Erzähler, der seiner Mittel sicher ist und nicht viele Worte braucht, um Atmosphäre zu erzeugen. Auch wenn einer seiner literarischen Widergänger mit dem „harten Ton“ und der „aufdringlichen Direktheit“ seines Schreibens hadert – für Biller selbst gilt das nur bedingt. All das notorische „Verhöhnen und Tönen“ wird als Maskerade eines Autors kenntlich, der lieben will, und dem das im Schreiben auch gelingt.
JÖRG MAGENAU
Maxim Biller: Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2020. 268 Seiten, 22 Euro
.
Je tiefer er in die Geschichte
vordringt, desto fragwürdiger
werden die Ereignisse
Der Erzähler bescheinigt sich
einen „harten Ton“, für
den Autor gilt das nur bedingt
Seine Literatur entsteht immer aus dem autobiografischen Erzählen: der Kolumnist und Schriftsteller Maxim Biller.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2020

Es könnte alles ganz anders sein

Maxim Billers Familiengeschichten "Sieben Versuche zu lieben" und seine gesammelten Essays "Wer nichts glaubt, schreibt"

Von Eckhard Schumacher

Es ist schon etwas her, fast dreißig Jahre, dass man im "Spiegel" eine irritierende Besprechung von Maxim Billers zweitem Buch "Die Tempojahre" lesen konnte. Offensiv bewundernd, auch ein bisschen aufdringlich, näherte sich Rainald Goetz Maxim Biller an, stellte aber zugleich, ohne sie zu nutzen, nahezu alle Werkzeuge für einen grundlegenden Verriss zur Verfügung. Wenn man damals, Anfang der 1990er Jahre, von "Tempo" und Billers dort sehr regelmäßig publizierten "100 Zeilen Hass" eher gelangweilt war, konnte diese merkwürdige Ambivalenz den Blick auf überraschende Weise wieder öffnen. Bei allen Einwänden gegen "Tempo" und die "Tempojahre", geschuldet nicht zuletzt der Absehbarkeit der treff- und selbstsicheren Hass-Kolumnen, war es eben doch sehr interessant, dass Biller immer "auch noch ganz andere Sachen" gelesen hatte, und zwar, wie Goetz hinzufügt, "ganz anders als alle anderen". Und bemerkenswert war, was Goetz schon mit Blick auf Billers erstes Buch, den 1990 erschienenen Erzählungsband "Wenn ich einmal reich und tot bin", als dessen "Lebensthema" identifizierte - die gar nicht so selbstverständliche "Selbstverständlichkeit", mit der Biller immer wieder auf seine Herkunft und seine Familie zurückkommt und sich so, von München zurück über Hamburg, Prag und Moskau, immer wieder erneut in die "mörderische Mitte" des 20. Jahrhunderts leiten lässt.

Zwei Bücher erinnern jetzt an diese Anfänge, indem sie sie als Anfänge von etwas lesbar machen, das in den folgenden dreißig Jahren fortgesetzt werden sollte, in verschiedenen Formen und Formaten, in unterschiedlichen, häufig eng benachbarten, manchmal direkt ineinander greifenden Konstellationen. Dabei bestätigen "Sieben Versuche zu lieben", eine Zusammenstellung von Billers "Familiengeschichten" aus den Jahren 1990 bis 2007, wie auch "Wer nichts glaubt, schreibt", eine Auswahl von Essays und Reden aus den vergangenen dreißig Jahren, nicht zuletzt, wie wichtig Herkunft und Familie, wie wesentlich Emigrationserfahrungen, die eigenen wie die der Eltern, Großeltern und Verwandten, für Billers literarische und journalistische Texte sind. Sie machen aber nicht nur einmal mehr Billers "Lebensthema" sichtbar, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der er an ihm festhält.

Dazu gehört, das zeigen insbesondere die kaum gealterten, weiterhin extrem zugänglichen literarischen Texte, dass Biller die Koordinaten der verschiedenen Emigrationsgeschichten, die hier vor allem auf die Niederschlagung des Prager Frühlings zurückzuführen sind, immer wieder verschiebt, ineinander überblendet und nicht selten auch prinzipiell in Frage stellt. So verweisen die dreizehn Erzählungen, die in "Sieben Versuche zu lieben" zusammengeführt werden, auf Billers Anfänge als Schriftsteller, eröffnen zugleich aber auch einen neuen Blick auf seinen 2018 erschienenen Roman "Sechs Koffer", werden lesbar als dessen Vorgeschichte, als ein mehrteiliges Prequel, das sich, auch das wird im Detail sichtbar, in teilweise nur minimalen Variationen fortschreibt.

Immer wieder geht es in den Geschichten um die Suche nach Wahrheit, um die Aufklärung eines Geheimnisses, um ein Familiengeheimnis, das, wie das Ich in der Erzählung "Erinnerung, schweig" gegenüber seinem Vater fordert, "endlich gelöst werden muss" und dann "alles über uns offenbart". Aber so wie "Sechs Koffer" vor Augen führt, wie die Frage, welches Mitglied der russisch-jüdischen Familie den 1960 in Moskau verhafteten und hingerichteten Großvater des Erzählers verraten hat, auch in der Zusammenschau von sechs verschiedenen Perspektiven nicht eindeutig aufzulösen ist, zeigen auch die früheren Texte, dass es die eine, einzig gültige Geschichte nicht gibt. Verfügbar sind immer nur verschiedene Versionen. Als Leser rückt man dabei unversehens in die Position des Protagonisten der Erzählung "Warum starb Aurora", der auf der Spur eines Familiengeheimnisses um abweichende "Versionen der Berichte, die er von den Eltern gehört hatte", bittet, um sie zu vergleichen und so "die einzig gültige Geschichte seiner Familie herauszudestillieren, die definitive Wahrheit". Dass dies auch in diesem Fall geradezu strukturell misslingt, verdankt sich Billers spezifischer Auffassung von Wahrheit, vor allem aber seiner Erzählweise, die mit vergleichsweise konventionellen Mitteln ungewöhnliche Perspektiven eröffnet.

In Billers Geschichten erweisen sich einfache Gut-böse-Sortiermechanismen, die durchaus angeboten werden, als wenig tragfähig, rücken Fakten und Fiktionen gerade dann ununterscheidbar aneinander, wenn, wie eigentlich immer, der autobiographische Rahmen überdeutlich hervortritt, werden Stereotype und Klischees nicht nur entlarvt, sondern auch reproduziert, werden Figuren nur knapp skizziert, bleiben aber doch auf komplizierte Weise in sich widersprüchlich. Durchgehend sind die Geschichten so angelegt, dass sie nicht einfach aufgehen, selbst wenn überraschende Wendungen eben dies nahelegen. Sie rufen vielmehr immer wieder Gegengeschichten auf, die sich häufig als nur leicht verschobene Versionen erweisen, aber gerade deshalb deutlicher sichtbar machen, worum es geht, ohne es auf den - eben nicht verfügbaren - Punkt zu bringen.

Fast beiläufig entwirft und reflektiert Biller auf diese Weise in seinen Erzählverfahren ein dezidiert jüdisches Selbstverständnis, das er gleichermaßen aufbaut wie in sich zusammenfallen lässt. Es werden Unvereinbarkeiten, Paradoxien und Komplexitätszumutungen sichtbar, die mit der gängigen Bindestrichformel deutsch-jüdischer Identität kaum mehr erfasst werden können, sich aber in den Geschichten, die Biller selbst als "forschende Fiktionen" beschreibt, weitgehend frei entfalten können. Als Jude wisse man "absolut genau", erläutert Biller in seiner im Reclam-Band nachlesbaren Heidelberger Poetik-Vorlesung, dass es "keine letztgültige Wahrheit" gebe, da es immer auf die Perspektive und die Machtverhältnisse ankomme, in denen man lebt. Man wisse aber auch, fügt Biller hinzu, "dass man trotzdem nie aufgeben darf, nach der Wahrheit zu suchen". Was seine Texte "so jüdisch" mache, sei entsprechend nicht zuletzt die Einladung an jeden, der seine Erzählungen und Romane lese, zu denken, "es könnte auch alles ganz anders sein, als es dort steht".

Vor diesem Hintergrund ist gut nachvollziehbar, dass Biller mit der "110-Dezibel-Besserwisserei", die er vielen, vor allem aber den "Ur-68ern und ihren 70er-Jahre-Lehrlingen" vorwirft, wenig anfangen kann. Totalitäres Denken und autoritäres Auftreten sind zwei der Zielscheiben, auf die Biller seine Kritik ausrichtet, die er, was nach der Lektüre der Familiengeschichten kurzzeitig aus dem Blick geraten kann, allerdings auch nicht in Form feingliedriger Binnendifferenzierungen formuliert. Als "echtes Kind der 70er" hält Biller, wie er selbst feststellt, vielmehr "stur" an dem fest, was er anderen vorhält, "an diesem berauschenden Gut-oder-böse-Denken". Der Hass, dessen performatives, energetisches und poetisches Potential Biller auch nach den Tempojahren weiter in Anschlag bringt, verliert sich aber nicht notwendig in vermeintlichen Selbstwidersprüchen. Wenn er, wie Biller in Abgrenzung zur gegenwärtigen "Hass- und-Hetz-Atmosphäre im Internet" schreibt, als "radikale, aggressive, sorgfältig komponierte Polemik" angelegt ist, kann der Hass maßloses Schimpfen und stringentes Argumentieren tatsächlich hochgradig erkenntnisfördernd verbinden. Das gelingt häufig in Billers Essays, häufig aber auch nicht.

Liest man die Essays nacheinander, stellt sich zunehmend der Eindruck ein, dass hier ein Prinzip in Serie gegangen ist, das Goetz schon 1992 an den "Tempojahren" hervorgehoben hat: Biller rennt die "selbst schon aufgemachten Türen noch einmal mit Fanfare und Getöse ein". Das kann erhellend und auch erheiternd sein, verliert aber doch merklich an Kraft, wenn über die Jahre immer wieder nur festgestellt wird, wie blass und blutleer die deutsche Gegenwartsliteratur ist, wenn Biller seit der Gruppe 47 immer wieder nur "irrelevante Sprachexperimente" vorfindet, "bedeutungsleere Wortneuschöpfungen, weltabgewandte Akademismen und schwammige Pauschalgefühle", "sperrige, abweisende Ideen und Wortkonstrukte ohne Sinn für Dramaturgie", "lauwarme, wohltemperierte Geschichten". Der vielfach angeprangerte "kalte, leere Suhrkamp-Ton", das "bis zur romantischen Unentschlüsselbarkeit hermetische, antirealistische Suhrkampbuch" wird in den Wiederholungsschleifen der eingängigen Adjektivreihen zu einem zunehmend leeren Platzhalter, der nicht dadurch an argumentativer Kraft gewinnt, dass ihm eine vergleichsweise überschaubare Programmatik entgegengehalten wird, die sich aus den Schlagworten Mut, Leben, Wahrheit, Intensität, Sex und Unverschämtheit speist.

Damit ist weder etwas gegen einen Realismus gesagt, der "die Realität zugleich einfasst und transzendiert", noch gegen Billers Forderung, dass "wir nichtdeutschen Schriftsteller deutscher Sprache endlich anfangen sollten, die Freiheit unserer Multilingualität und Fremdperspektive zu nutzen". Das passiert aber spätestens seit den 1990er Jahren weitaus häufiger, als Biller es nahelegt, so dass der "Luxus der wahrheitsspendenden Generalisierung" wie auch die "Kraft der polemischen, intellektuellen Übertreibung" manchmal selbst etwas blass erscheint. Das, was die gegenüber diesem Gestus in mehrfacher Hinsicht komplementär angelegten "Sieben Versuche zu lieben" so eindringlich machen, die nur minimale Verschiebung einer wiederkehrenden Ausgangsaufstellung, funktioniert in den Essays nur bedingt. Auch hier arbeitet Biller mit dem Prinzip der Variation durch Versionen, deren Abweichungen man aber weniger bemerkt, weil die Meinungsbekundungen so laut sind, so dass man auch dann irgendwann aufhört zuzuhören, wenn es, wie eigentlich immer, interessant ist.

Biller positioniert sich durchaus in dem Sinn bewusst als Außenseiter, in dem Hannah Arendt Franz Kafka, Rahel Varnhagen und Heinrich Heine als Parias begriffen hat. Die "Energie jener, die am Rand stehen", verbindet er aber offensiv mit dem Wunsch dazuzugehören. Er bleibt nicht nur "ein kommentierender, siebengescheiter Außenseiter", sondern verfolgt seit den 1970er Jahren durchaus erfolgreich das Projekt, "in diesem Land immer alles mitzumachen, was man mitmachen konnte". Seine Polemiken gegen Rechte, Linke und die bevorzugt angegriffenen "Linksrechtsdeutschen", gegen die "vollkommene Geschichtslosigkeit" und den "Provinzialismus" der Deutschen sind auch deshalb so aufschlussreich. Und sie gewinnen enorm, wenn man die beiden jetzt erschienenen Bücher, die literarischen und die journalistischen Texte nebeneinanderlegt, miteinander liest, gegeneinander hält.

Als Thea Dorn kürzlich das "Literarische Quartett" mit einem merkwürdig deplazierten Ernst-Jünger-Zitat eröffnete, um einen Gegenpol zum gängigen Corona-Diskurs zu markieren, wünschte man sich für einen Moment tatsächlich Maxim Biller ins Fernsehen zurück, der diesen Einstieg angemessen zu kommentieren gewusst hätte. Das war aber gar nicht nötig, Biller hatte seinen Kommentar schon geschrieben. Man konnte die ohnehin uninteressante Sendung abschalten, den Reclam-Band zur Hand nehmen, eine erstmals 1994 in "Tempo" veröffentlichte Reportage aufschlagen und Billers verblüffend aktuellen Kommentar zu der gegenwärtig nicht nur vom Literaturfernsehen wieder aufgeworfenen Frage "Warum Ernst Jünger?" lesen.

Maxim Biller: "Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten". Verlag Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 22 Euro. Maxim Biller: "Wer nichts glaubt, schreibt". Essays über Deutschland und die Literatur". Reclam Verlag, 272 Seiten, 9,80 Euro

Eckhard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald.

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»In seinem neu erschienen Erzählband Sieben Versuche zu lieben arbeitet sich Biller in stilistischer Präzision und einnehmender Tonalität nun an den Wahrheiten von Familiengeschichten ab.« Clemens Hermann Wagner literaturkritik.de 20200828