Post aus New York

Celebrity-Boxen und Militainment

Von Ute Thon
19.03.2002. Ein halbes Jahr nach dem Attentat genießen die amerikanischen Fernsehzuschauer wieder die Wonnen der Seichtheit - und zwar schlimmer denn je.
Sechs Monate sind seit den September-Attentaten vergangen. Das traurige Halbjahresjubiläum war Anlass für tränenreichen Erinnerungszeremonien. In New York wurden unter massiven Medieneinsatz am Montag zwei temporäre Gedenkstätten eingeweiht, in Washington Kränze vorm Pentagon niedergelegt. Im Fernsehen liefen Rückblicke. CBS sendete einen beklemmenden, zweistündigen Dokumentarfilm ("9/11") von zwei französischen Filmemachern, Gedeon und Jules Naudet, die sich am Unglückstag zufällig in der Nähe des World Trade Centers befanden und die Katastrophe auf Video festhielten. Das ganze lief aus Pietätsgründen sogar ohne Werbeunterbrechungen - wie seinerzeit im September, als alle Kanäle nonstop und ohne Werbung über die größte Krise Amerikas berichteten.

Stille Reflexion ist dieser Tage in Amerikas Fernsehalltag allerdings die Ausnahme. Zwar schworen nach dem 11. September in einem raren Anflug von kritischer Introspektion alle US-Medien einen radikalen Kurswechsel: weg vom geifernden Sensationalismus, seichtem Celebrity-Kult und der pubertären Obsession mit dem Sexualleben ihrer Politiker hin zum verantwortlichen, taktvollen Programm mit Tiefgang. Eilfertige Kulturkritiker riefen bereits das Ende des Zeitalters der Ironie aus. Hirnlose Reality-TV-Serien verloren Einschaltquoten und selbst auf den TV-Monitoren in L.A.s Fitness-Studios liefen nur noch Nachrichten. Für einen Moment schien es fast so, als würde Amerika, diese Nation der notorischen Dauerteenager, durch die traumatischen Ereignisse endlich erwachsen. Doch schlechte Angewohnheiten lassen sich schwerer ausrotten als gute Vorsätze. Was das Fernsehen angeht, ist ein halbes Jahr nach dem 11. September nicht nur alles "back to normal", sondern manches sogar schlimmer als je zuvor. Bereits vor Monaten startete eine Reihe neuer Hardcore-Game-Shows, unter anderem "Fear Factor", eine Sendung, die wegen ihres zynischen Titels (Angstfaktor) von NBC zunächst verschoben wurde und in der Teilnehmer Würmer und Kakerlaken über sich kriechen lassen oder sich vor laufender Kamera nackt ausziehen müssen. ABC lockt dagegen seit geraumer Zeit mit Ex-Tennis-Star John McEnroe als Moderator für "The Chair", eine populäre neue Spielshow, in der die Teilnehmer auf eine Art elektrischen Stuhl festgeschnallt werden und ihre Herzfrequenz unter Kontrolle halten müssen, während Flammen um sie züngeln oder ein riesiges Fallbeil auf sie zurast.

Den neuen Tiefpunkt amerikanischer Fernsehunterhaltung präsentierte ebenfalls Fox-TV, eine Filiale des Murdochs-Imperiums: "Celebrity Boxing" funktioniert auf dem untersten Level des Brot-und-Spiele-Prinzips. In der einstündigen Sendung hauen sich abgehalfterte Stars und halbseidene Lieblinge der Klatschpresse vor Live-Publikum und Millionen von TV-Zuschauern die Nasen blutig. Zur Premiere diese Woche schickten die Produzenten Paula Jones und Tonya Harding in den Boxring. Erstere brachte mit ihren Sexual Harassment-Anschuldigung gegen Bill Clinton seinerzeit den Monika-Lewinski-Skandal ins Rollen, während Eiskunstläuferin Harding vor etlichen Jahren zu trauriger Berühmtheit kam, weil sie vor einem Wettbewerb einer Konkurrentin, Nancy Kerrigan, von ein paar Freunden die Kniescheiben blutig schlagen ließ. Damals musste sie wegen Körperverletzung ins Gefängnis. Diesmal bejubelte das Publikum ihre kalkulierte Prügelei. Die durchtrainierte Eisprinzessin gewann wenig überraschend das Match, nachdem Paula Jones in der dritten Runde aufgab. Kommentatoren sagten hinterher, Jones habe Angst um ihre für 10.000 Dollar kosmetisch verkleinerte Nase gehabt. Amerika, wie es leibt und lebt.

Bei ABC, dem Fernsehstudio des Disney-Konzerns, dachte man dieser Tage dagegen laut darüber nach, Ted Koppels preisgekröntes Magazin "Nightline" gegen eine Late-Night-Talkshow zu ersetzen. "Nightline" ist eines der wenigen anspruchsvollen Nachrichtenprogramme, die in dem zunehmend seichten Fernseheinerlei noch übriggeblieben sind, und hatte durch seine hintergründige Berichterstattung gerade nach dem 11. September wieder größeren Zulauf bekommen. Dennoch entschieden die ABC-Bosse, dass das "Nightline"-Publikum insgesamt zu alt und daher für Werbekunden nicht interessant genug sei. Hinter dem Rücken von "Nightline"-Chef Koppel boten sie David Letterman den Sendeplatz an. ABC wollte den Late-Night-Showmaster mit einem obszön hohen Honorarangebot (Gerüchte sprechen von 40 Millionen Dollar Jahresgehalt) von seinem Haussender CBS weglocken. Letterman nutzte das Angebot statt dessen als Druckmittel für mehr Geld von seinem alten Arbeitgeber. CBS schloss einen neuen Vertrag mit ihm über 31 Millionen Dollar pro Jahr. Ted Koppel blieb dagegen nichts anders übrig, als seine Disney-Bosse in einem offenen Brief in der New York Times für ihre Ignoranz zu geißeln. Im Stillen sorgt er sich hingegen um die Zukunft seines Magazins.

ABC hat nämlich noch mehr Entertainment-Asse im Ärmel. Derzeit produziert der Sender mit Jerry Bruckheimer, dem Hollywood-Produzenten von patriotischen Kriegsdramen wie "Pearl Harbor" und "Black Hawk Down", eine neue Reality-TV-Serie mit dem Titel "Profiles from the Frontline". Die Serie, die in diesem Sommer starten soll, präsentiert Heldengeschichten von echten US-Soldaten in Afghanistan, den Philippinen oder wo sich das amerikanische Militär sonst gerade einmischt. Ähnliche Projekte von "Militainment", wie das Time-Magazin den neuen Trend in der TV-Unterhaltung sarkastisch nennt, sind auch bei anderen Sendern bereits in der Mache. So produziert der Musikkanal VH1 eine Serie mit dem Arbeitstitel "Military Diaries" - Soldaten-Tagebücher im MTV-Stil. Der Sender will den GIs an der Front Videokameras in den Tornister packen, mit denen sie ihren Militäralltag filmen sollen. Und auf CBS startet Ende März "AFP: American Fighter Pilot", eine Serie über amerikanische Bomberpiloten im Einsatz, die von "Top Gun"-Regisseur Tony Scott und seinem Bruder Ridley-"The Gadiator"-Scott produziert wird. Alle erwähnten Programme bekamen grünes Licht von oberster Regierungsstelle.

Derweil beklagen seriöse Nachrichtendienste, dass ihnen der Zugang zur Front in Afghanistan oder Interviews mit Einsatztruppen systematisch verweigert werden. Im Falle des Kriegsgefangenenlagers auf dem US-Stützpunkt in Kuba führt Donald Rumsfelds rigide Informationspolitik sogar zu totaler Nachrichtenunterdrückung. Dass sich dort über zwanzig Gefangene seit 14 Tagen im Hungerstreik befinden, liest man höchstens in der Randspalte der New York Times. Und keiner regt sich auf. Die durch die September-Attentate ausgelöste mediale Wachsamkeit ist verpufft. Das Gros der Amerikaner lässt sich vorm Fernseher einlullen von haarsträubenden Gameshows und Celebrity-Schaukämpfen im Boxring. Alles wieder wie gehabt im Wohnzimmer der Weltnation.