Post aus Neapel

"Der Widerstand wird nicht angerührt!"

Von Gabriella Vitiello
19.04.2005. Am 25. April feiert Italien den sechzigsten Jahrestag der Befreiung vom Faschismus durch die Resistenza. Doch die Freude ist getrübt, denn der Historiker Alberto Cavaglion behauptet jetzt in einem Buch: Der Faschismus ist von allein gefallen, den Krieg haben die Alliierten gewonnen, die Resistenza hätte Italien niemals aus eigener Kraft befreien können.
Da stimmt doch was nicht, sagte sich Stefano Salis, Redakteur der sonntäglichen Kulturbeilage vom Wirtschaftsblatt Il sole 24 ore. Anfang des Monats hatte er im neuen Programm des Turiner Verlags Einaudi geblättert, der ein Sachbuch von Alberto Cavaglion ankündigte: "La resistenza per chi non sa la storia di ieri" (Die Resistenza für diejenigen, welche die Geschichte von gestern nicht kennen). Der Titel geht auf ein Zitat von Italo Calvino zurück. Der bekannte italienische Schriftsteller war einst selbst Lektor in dem berühmten Turiner Verlag, den Giulio Einaudi 1933 gegründet hatte. In der Nachkriegszeit zählte Einaudi Schriftsteller wie Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, Primo Levi (hier sein Essay "La zona grigia" und hier Interview-Ausschnitte mit Levi in der Rai) und eben Calvino zu seinen Autoren und war damit über Jahrzehnte hinweg ein intellektuelles Zentrum Italiens.

Was Salis entdeckte, erinnert an eine Parodie auf den Literaturbetrieb, wie sie vielleicht nur Italo Calvino hätte schreiben können (hier ein Calvino-Special zum Hören). Auf dem Schreibtisch des Literaturredakteurs war eine Pressemittelung aus dem neapolitanischen Verlag l'ancora del mediterraneo gelandet, der ebenfalls auf eine Neuerscheinung anlässlich des 25. Aprils hinwies: "La resistenza spiegata a mia figlia" (Die Resistenza meiner Tochter erklärt). Autor: Alberto Cavaglion (hier sein Aufsatz zur Giornata della Memoria am 27. Januar). Salis erkundigte sich bei den jeweiligen Verlegern und erfuhr, dass der Einaudi-Titel nurmehr ein Phantom-Titel sei, der vermutlich aus Zeitgründen nicht mehr aus dem neuen Katalog gestrichen wurde.

Der Verlag hatte bei Cavaglion zwar ein Buch über die Resistenza in Auftrag gegeben, entschloss sich nach der Lektüre des Textes aber, den Titel nicht mehr zu drucken. Das Manuskript passte angeblich nicht in die Taschenbuchreihe: "Wir legen Wert auf allgemeinverständliche Bücher für ein breites Publikum, aber die Arbeit von Cavaglion ging darüber hinaus, sie war weit wertvoller", rechtfertigte der verantwortliche Einaudi-Lektor Andrea Bosco den Verzicht. Er lobte Cavaglion als seriösen Forscher und beteuerte gegenüber Salis, dass weder eine politische noch eine polemische Auseinandersetzung um das Buch stattgefunden habe. Ihre Zusammenarbeit sei vielmehr immer transparent gewesen. Statt Caviglion hat Einaudi nun einen Erzählband über die Resistenza im Programm.

Für Alberto Cavaglion, Historiker des Istituto piemontese per la storia della resistenza e la societa contemporanea und versierter Forscher über das italienische Judentum, stellt sich die Situation nicht so glasklar dar: "Die Gründe, die zur Ablehnung meines Buchs führten, liegen für mich im Dunkeln." Einaudi hatte Cavaglion zur Kürzung aller "problematischer Stellen" aufgefordert. "Wäre ich dieser Anweisung gefolgt, hätte ich nur noch die reine Aufzählung der Fakten in den Händen behalten", erklärt der Autor seinen Schritt, das Buch l'ancora del mediterraneo anzubieten und damit einen Text zu retten, der seiner Meinung nach nichts Skandalöses hat.

Gleichwohl räumt Cavaglion ein, dass das Thema der Resistenza ein "stacheliges" ist. Etwa vierzig pieksende Textseiten wollte Einaudi streichen - als sollte ein Kaktus zu einem Gänseblümchen zurechtgestutzt werden. Dabei muss schließlich auch dem Verlag aufgefallen sein, dass das Buch in der gekürzten Form nicht mehr publizierbar war. Also verzichtete Einaudi lieber auf die Veröffentlichung. Wäre nicht der Eintrag des Titels im Katalog geblieben, vielleicht hätte niemand etwas gemerkt. So aber steht Einaudi dumm da, und italienische Literaturredakteure rufen "Zensur!" Außerdem erinnern sie ihre Leser an einen ähnlichen Fall von 1999.

Damals brachte Einaudi Warlam Schalamows "Geschichten aus Kolyma" heraus (hier Auszüge aus Radiolesungen der Rai, hier die Besprechung der französischen Ausgabe im Perlentaucher). Vorwort sollte ein Gespräch zwischen dem polnischen Schriftsteller Gustaw Herling, einem Überlebenden der stalinistischen Gulags, der in Neapel eine neue Heimat gefunden hatte, und dem Slawisten und Herling-Übersetzer Piero Sinatti sein. Indes verweigerte der Verlag die Veröffentlichung, weil Herling und Sinatti angeblich zu sehr die historischen Dimensionen Schalamows vertieften, statt sich mit seinen literarischen Qualitäten zu beschäftigen. Hinter dieser Ausrede verbarg sich vermutlich die Angst vor der Position Herlings, der stalinistische und nationalsozialistische Gräueltaten auf eine Stufe stellte. Aus Sicht der damaligen italienischen Linken war dies politisch nicht korrekt. Tief getroffen ging Herling zum ancora-Verlag, der das Vorwort als ein eigenständiges Bändchen veröffentlichte.

Auch Cavaglions Buch, als Brief an seine Tochter Elisa konzipiert, die am 24. April sechzehn Jahre alt wird, war schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin am 14. April ein "caso letterario" - ein literarischer Fall, der Polemiken auslöste, die Cavaglion lieber vermieden hätte: "Wir werden streitsüchtige Töne und Moralpredigten unterlassen. Jedesmal wenn von der Resistenza die Rede ist, kommt es unausweichlich zu Beleidigungen; wer sich gegen den 25. April richtet und ihn abschaffen will, erhält schwammige Gefühlsbekundungen als Antwort: 'Der Widerstand wird nicht angerührt!' Vor lauter Berührungsängsten weiß aber niemand mehr, was die Resistenza ist", schreibt Cavaglion in seinem Vorwort.

Das von Einaudi verschmähte Manuskript hatte er Anfang März an den ancora-Verlag in Neapel geschickt, wo ein Wettlauf gegen die Zeit begann, um das Buch noch pünktlich auf den Markt zu bringen. Der Verleger Stefano de Matteis freut sich über sein neues Produkt und die kostenlose Werbung in der Presse. Er unterstellt Einaudi eine "Tendenz zur ideologischen Zensur", räumt aber ein, dass ein kleiner, unabhängiger Verlag wie ancora die historischen Ereignisse leichter ohne den Schleier der Verzauberung betrachten könne als ein großes Verlagshaus: "Zumindest diesmal hat sich Einaudi für eine orthodoxe Position entschieden".

In Cavaglions Buch geht es um die Entzauberung eines Mythos. Seine Herangehensweise an das Thema Resistenza vergleicht er mit dem Ablösen der Verbände von einer einbalsamierten Mumie. Schicht um Schicht wickelt er die rhetorische Verpackung ab, um die dahinter verborgene Geschichte und die Geschichten zu erzählen, welche die "Einbalsamierer des Widerstands" nie heraufbeschwören wollten, und die von diskursiver "Übersättigung" geschluckt wurden: "Raue Geschichten, die nicht in das Schema irgendeiner Parteidisziplin passen; so anarchisch wie alle guten Resistenza-Geschichten, die ich sogar als 'verdammte' Geschichten bezeichnen würde, wegen des Leids, das die Protagonisten sich selbst und ihren Familien zugefügt haben". Cavaglions Geschichten beginnen bei den Menschen, bei undefinierbaren "Antihelden", die nicht als ideologisch kompakte Masse einen organisierten Widerstandkrieg führten: "Der Krieg in Banden (la guerra per bande) war das Werk weniger; nichts ist falscher, als anzunehmen, wie lange Zeit üblich, dass es ein Krieg der Bevölkerung (guerra del popolo) war."

Genauso wichtig wie die Geschichten der einzelnen Partisanen ist für Cavaglion die Literatur - Bücher über die Resistenza und Bücher, die von der Resistenza gerettet wurden; denn "ohne das Lesen der Bücher, kann man die Vergangenheit nicht verstehen", erklärt der Historiker seiner Tochter. Bücher sind für ihn wie "lebende Körper" und er fragt sich, warum noch niemand eine Topographie jener Literatur erstellt habe, welche nicht nur die italienischen, sondern auch französische oder deutsche Widerstandskämpfer in ihren Verstecken planten, entwarfen, skizzierten, schrieben, übersetzten oder heimlich ins Ausland zum Drucken schafften - eine Karte voller Romane, Erzählungen, Gedichte und Geschichtsbücher.

Im ersten Kapitel seines Buchs erzählt Cavaglion die Geschichte des Faschismus in Italien anhand von Thomas Manns Parabel "Mario und der Zauberer". Fast unbemerkt geraten der ahnungsloser Kellner Mario und das Publikum in den Bann des Magiers Cavalier Cipolla, der leicht als Mussolini zu erkennen ist. Als der Zauber nachlässt, endet die Vorstellung im Chaos. Mario erschießt den Cavalier Cipolla, das Publikum erwacht aus seiner Apathie und gerät in Panik: "Ein katastrophales Ende. Aber vor allem ein befreiendes Ende."

Das böse Erwachen kam in Italien sehr spät, bemerkt Cavaglion. Die Italiener entzauberten sich erst 1943, als die faschistischen Hierarchen nach zwanzigjähriger Herrschaft Mussolini absetzen: ohne dieses Manöver "wäre die Resistenza nicht entstanden", lautet eine der Thesen Cavaglions. Die historischen Tatsachen, wonach die Partisanen gegen Mussolinis norditalienische Republik von Salo und die ihn unterstützenden nationalsozialistischen Besatzer kämpften, präzisiert er so: "Der Faschismus ist von allein gefallen, den Krieg haben die Alliierten gewonnen und die Resistenza hätte Italien aus eigener Kraft niemals befreien können: grausame Wahrheiten, die nur schwer einzugestehen sind." Cavaglion vergisst auch nicht darauf hinzuweisen, dass einige gar nicht aus dem Alptraum erwachten, und dass der Zauber Mussolinis bis heute seine Wirkung nicht ganz verloren hat. Ohne Berlusconis Namen zu nennen, deutet der Historiker an, dass es der italienische Premier war, der vor zwei Jahren behauptete, Mussolini habe seine politischen Gegner nicht ins Exil, sondern in die Sommerfrische geschickt.

Cavaglion verweigert der Resistenza den Status einer Revolution, da eine solche geplant und durchdacht wird. Der Widerstand war jedoch ein spontaner "Übergang vom Bösen zum Guten; oder genauer gesagt, in unserem Land handelte es sich um einen Übergang vom Bösen zum Besseren". Die historische Größe der Resistenza liegt für Cavaglion in der Entscheidung der Protagonisten, die Verantwortung für ihr Land zu übernehmen und sich für Freiheit und Demokratie einzusetzen. Die psychologische Härte dieses Kampfes beschreibt Cavaglion mit den Worten von Vittorio Foa: "Wir mussten den Faschismus unter uns bekämpfen, innerhalb der Italiener und auch in uns selbst". Noch eindringlicher formuliert es der Schriftsteller Luigi Meneghello: "Es war, als müssten wir das ganze Gewicht Italiens und des von ihm angerichteten Unheils tragen." Die symbolische Bürde entsprach einer konkreten physischen Last auf dem Rücken. Als Partisan trug Meneghello so viel wie nie wieder in seinem Leben, referiert Cavaglion: Munition, kleine Brandbomben, Sprengstoff, Mehl, ineinander gestapelte Kochtöpfe, Lebensmittel, Kordel, Regenschirme.

"Partisanen - ein bunter Haufen" lautete der Arbeitstitel des Buchs im ancora-Verlag. Cavaglion betont die unterschiedliche Zusammensetzung der Partisanen-Gruppen, die sich ideologisch nicht unter einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Gymnasialschüler und ihre Lehrer, junge Schriftsteller, Historiker und Philosophen, Kommunisten, Monarchisten, Republikaner und Liberale, Atheisten, Christen und Juden kämpften Seite an Seite mit ehemaligen Soldaten, nicht zu vergessen die zahlreichen Frauen. Es mangelte an militärischer Ausbildung und Grundkenntnissen. Waffen gab es nie genug oder sie funktionierten schlecht, dennoch sei der Widerstand ohne Waffen kein Widerstand, betont Cavaglion; denn Resistenza bedeute "Aktion, nicht aber Untätigkeit". Die von den Partisanen ausgeübte Gewalt, "war Gewalt und basta, sie war weder gut noch böse." Damit kritisiert Cavaglion die in Italien seit einigen Jahren beliebte Diskussion, ob die Gewaltanwendung der Partisanen immer rechtmäßig war. Cavaglion hat keine Zweifel: "Man darf die unversöhnliche Asymmetrie zwischen Demokratie und totalitären Systemen nicht aus den Augen verlieren."

Cavaglion will der Resistenza ihre reale Dimension zurück geben. Zur Verdeutlichung zitiert der Historiker aus dem Tagebuch von Emanuele Artom. Der Turiner Jude, der im April 1943 an den Folgen der nationalsozialistischen Folter starb, kämpfte in den Tälern des Piemont: "In ein paar Jahrzehnten soll keine neue patriotische oder pseudo-liberale Rhetorik uns zu reinen Helden verklären; wir sind, was wir sind: eine Zusammenstellung von Individuen, teils desinteressiert und guten Glaubens, teils politische Streber und teils versprengte Soldaten, die eine Deportation nach Deutschland fürchten."

Artom hatte geahnt, dass der Befreiungskampf politisch instrumentalisierbar war, und dass die Partisanen zu glorreichen Kämpfern überhöht werden könnten. Cavaglion wendet sich mit seinem Buch auch gegen den eingefahrenen Zeremonienzirkus am 25. April. Er will auf hundert Seiten vor allem der jungen Generation in Italien wieder den Blick auf das ermöglichen, was Resistenza wirklich war. Eine Art Definition überlässt er dem Partisanen Paragone, dessen bürgerlicher Name Giorgio Agosti war: "Einmal im Jahrhundert ereignet sich auch in diesem Land etwas Ernsthaftes und Ehrliches".

Das Beste, was die Italiener im vergangenen Jahrhundert zu Stande gebracht haben, sollte - so Cavaglion - nicht am 25. April zelebriert werden. Der Tag der Befreiung Mailands vom Faschismus ist kein wichtiges Symbole für die Resistenza, lautet die Provokation des Historikers, der den eingefahrenen Nationalfeiertag lieber durch den 10. Mai ersetzen würde. Dieser Tag habe für die Resistenza eine viel größere Bedeutung als der 25. April; denn am zehnten Mai kehrte der italienische Historiker Federico Chabod aus Frankreich, wohin er vor den Deutschen geflohen war, ins Aostatal zurück. Dort grub er in dem Ort Degioz aus einem Fleckchen Erde sein Vorwort zur "Geschichte der italienischen Außenpolitik von 1870 bis 1914" wieder aus. Das Manuskript, seine Notizen und seine Bücher hatte vor seiner Flucht versteckt.

Das "faszinierendste Geschichtsbuch, das ein italienischer Historiker je geschrieben hat", biete viel mehr, als der Titel vermuten lasse, erläutert Cavaglion den Wert des Buchs, das Chabod in den dreißiger Jahren konzipierte und 1951 veröffentlichte: "Es ist ein großes Geschichtsfresko des alten Kontinents, der Idee Europas und der Grenzen des Nationalismus." Die außergewöhnliche Bedeutung von Chabods Vorwort liegt für Cavaglion darin, dass während der Entstehung von 1943 bis 1944 sich allmählich der "Wertehorizont des Autors ändert". Chabods eigene Entzauberung vom Faschismus ist darin dokumentiert. Dieser Text und Chabods Aufzeichnungen sind für den Historiker Cavaglion "ergreifender als der zur Schau gestellte Leichnam Mussolinis" in Mailand. Das Ende der Resistenza fällt aus der Sicht Cavaglions zusammen mit dem Beginn der Geschichtsschreibung über sie.

Alberto Cavaglions Wunsch, dass nun endlich die Leser, fernab aller Polemik, sein wunderbar ehrliches und mutiges Buch über die Resistenza beurteilen, könnte in Erfüllung gehen. Was die Abschaffung des 25. Aprils betrifft, sind die Aussichten nicht halb so gut. Dieses Jahr hat sogar Berlusconi - erstmals in seiner Amtszeit - seine Teilnahme an den Feierlichkeiten in Mailand angekündigt.