Post aus Neapel

Chinatown Cofferati

Von Gabriella Vitiello
19.07.2002. Gott vergibt - Berlusconi nie. Da staunt selbst Italiens Linke: ein Mann wagt es immer noch, sich offen gegen Berlusconi zu stellen. Sergio Cofferati, Sekretär der Cgil, der größten italienischen Gewerkschaft, ist der einzige Mann in Italien, den der Premier noch fürchten muss.
Um das politische und soziale Klima in Italien darzustellen, hat der Schriftsteller Stefano Benni die aktuellen Ereignisse um die italienische Opposition in eine ironische Westernparodie verwandelt und unter dem Titel "Dort unten im nahen Westen" in der Tageszeitung il manifesto veröffentlicht. Hauptdarsteller ist El Nano Silvio, der "kleine größenwahnsinnige Boss" des 52. US-Staates namens Italien, dessen nunmehr einzig geltendes Gesetz das des Stärkeren ist:

El Nano, dem alle Telegraphenmasten der Umgebung gehören, trifft sich jeden Abend mit seinen Politiker-Kumpanen im Saloon "Las Reformas", dem ehemaligen Bordell der Christdemokraten, das notdürftig modernisiert wurde. Anwesend sind auch die Führer der Opposition, der Sekretär der Linksdemokraten und deren Präsident, im Western-Jargon Bennis: Fix Fassino und Max D’Alema. Sie spielen an einem Tisch in der Ecke Domino, hüsteln wohlerzogen und tun so, als hätten sie noch nie das Wort "Opposition" gehört, während El Nano überlegt, wie er die restliche Hälfte der Bevölkerung in Near West auch endlich dazu bringt, seinem Gesetz zu gehorchen. Zwei große Gewerkschaften hat er mit dem "Pakt für die Arbeit" schon auf seine Seite gezogen, bleibt nur noch "Er" übrig: "Chinatown Cofferati (Foto), der Apache mit schwarzem Gürtel, der Gewerkschafts-Politiker-Mestize, der Gesuchteste unter den Most Wanted. Der Mann, der Panik, Streik und Zerstörung säen will in der ruhigen, gesetzlosen Welt des Near West."

Wer ist Chinatown Cofferati? Gemeint ist Sergio Cofferati, der Sekretär der mit 5.400.000 Mitgliedern größten italienischen Gewerkschaft, der Cgil. Er gilt derzeit als der einzig ernstzunehmende Gegner Berlusconis. Während die Führungsgruppe der Linksdemokraten (Democratici di Sinistra) immer weiter in einem luftleeren, referenzlosen Raum zu versacken droht, sind Cofferati die Sympathien der Basis sicher. Er ist zudem der einzige, dem es derzeit gelingt, die unterschiedlichen linken Strömungen zu einer Bewegung zu vereinen. 3 Millionen Menschen waren im vergangenen März nach Rom gereist, um gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes zu demonstrieren. Die Linksintellektuellen debattieren nun über das Phänomen Cofferati, das einerseits zeigt, dass eine Opposition gegen Berlusconi möglich ist; andererseits aber auch das Paradox der linken Führungsspitze offen legt: trotz ihrer Misere gehen die Intellektuellen zu dem vermeintlich neuen Leader auf Distanz und schauen lieber nur zu, wie er alleine die sozialen Konflikte mit Berlusconi austrägt.

Enrico Deaglio (mehr hier) bescheinigt Cofferati in der aktuellen Ausgabe seines politischen Wochenmagazins Diario "Charisma und Ernsthaftigkeit". Außerdem hat Deaglio augenzwinkernd beobachtet, wie einige Erwachsene ihre Kinder dem 54-jährigen Gewerkschaftler zum Kuss hinhalten und fragt seine Leser rhetorisch: "Würden Sie ihren Nachwuchs von Francesco Rutelli oder Piero Fassino küssen lassen?" - was nicht eben für die Qualität der beiden Politiker spricht.

Deaglio glaubt - Dank Cofferatis - an einen demokratisch bewegten Herbst, dessen Protagonisten er folgendermaßen charakterisiert: "Auf der einen Seite haben wir den Premier, Silvio Berlusconi, der eine eigene Vorstellung von Italien hat, achtzehntausend Fernseher, ihm zujubelnde Mengen, ein Haufen Geld und einen ’Vertrag mit den Italienern’, den er früher oder später einhalten muss. Auf der anderen Seite haben wir die Parteien, welche die Wahl verloren haben und nun hoffen, dass die unvorhersehbaren Wendungen des Lebens (wie die amerikanische Wirtschaftkrise, ...) ihnen einen ehrenhaften Wiedereinstieg ermöglichen". Dieser Neubeginn der Verliererparteien geht für den Diario-Direktor allerdings einher mit einem ungebremsten Siegeszug Berlusconis, der sich vor Gerichtsstrafen rettet und schließlich den Präsidentenstuhl besteigen wird. Von dort aus kann er dann einerseits endlich seine Mama zufrieden stellen, andererseits die totale Amnestie in Anbetracht seiner großen Transformation ausrufen, die auf viel Geld und vielen Toten fußt, und den Weg ebnen für die Einzug der lieben alten Mafia in die Gesellschaft - so die dunkle Vision Deaglios, die unter Linksintellektuellen längst nicht mehr außergewöhnlich ist.

Auf der anderen Seite aber sieht Deaglio den Störenfried Cgil, "bis vor kurzem eine Organisation, die sich um aus der Mode gekommene Metallarbeiter, um Eisenbahner und um frustrierte Lehrer kümmerte; und jetzt plötzlich in der Lage ist, die Karten neu zu mischen, indem ihr das Wunder gelingt, die Bevölkerung wieder aufleben zu lassen. Oder besser eine bestimmte Idee vom Volk." Nämlich ein Volk, das auf seinen Rechten beharrt und hofft, dass die "Kinder nicht das gleiche Hundeleben führen müssen wie die Eltern."

Von diesem Wunder - so glaubt der Journalist Giulietto Chiesa - hat sich die linke Führungsriege jedoch schon lange verabschiedet. In il manifesto liefert Chiesa eine düstere Bestandsaufnahme dieser "explodierenden Galaxie", die nicht mehr den Namen "Linke" verdiene, weil sie schon längst gestorben sei. Chiesa spricht lieber von "Democratici" und gibt damit den ersten gemeinsamen Referenzpunkt für das führerlose Raumschiff vor, das wahrscheinlich noch die Hälfte der italienischen Wählerschaft ausmacht: die italienische Konstitution. Diese werde nicht nur mit beeindruckender Regelmäßigkeit bedroht und beschädigt, sondern auch durch Coups der parlamentarischen Mehrheit und das TV-Plebiszit nach und nach abgeschafft. Eine letzte Chance gibt Chiesa dem untergehenden Mitte-Links-Bündnis Ulivo (hier das Forum zur Zukunft des Ulivo) noch, bevor es endgültig für eine ganze Dekade in der autoritären Dunkelheit zu versinken drohe. Statt auf einen Godot zu warten, der in den eigenen Reihen nicht zu finden ist, gelte es, sich auf fünf Kernthemen zu einigen, die ausreichen, um eine breite, stabile oppositionelle Plattform zu gründen. Drei der fünf Vorschläge richten sich direkt gegen Berlusconi, denn Chiesa fordert die uneingeschränkte und bereits erwähnte Verteidigung der Verfassung, die Verteidigung der Sozial- und Zivilrechte und eine Demokratie der Kommunikation und Information. Während das Mitte-Links-Bündnis damit beschäftig war, "sich den Mund mit ’Modernisierung’ zu füllen, hat es den Dschungel der wahren Modernität nicht erkannt: die Kommunikation und deren Kontrolle."

Ihre massenmediale Potenz stellte die Regierung Berlusconi besonders im Zusammenhang mit den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um Cofferati unter Beweis. Seit März versucht sie, Cofferati die moralische Verantwortung für den Mord am Regierungsberater und Wirtschaftsjuristen Marco Biagi anzuhängen, dem sie selbst den Polizeischutz entzogen hatte. Gianni Barbacetto gibt in Diario eine gute Zusammenfassung der Diffamierungskampagne gegen den Gewerkschaftsführer und stellt sie in den Kontext der Ermordung Biagis, der die Regierung vor seinem Tod monatelang vergeblich gebeten hatte, den Polizeischutz wiederherzustellen. Die Medien des Berlusconi-Imperiums bezeichneten Cofferati als "neuen Stalin" (Tageszeitung Libero), der einen neuen Extremismus auslöse. Welfare-Minister Maroni schloss sich dem Tenor an:"Worte sind Steine, und wer die größte Verantwortung trägt, sollte die explosive Wirkung bestimmter Aussagen abwägen".

Die Sprengkraft der Worte erfuhr schließlich Innenminister Claudio Scajola persönlich. Er hatte den toten Biagi einen Rompicoglione (wörtlich "Sackzerstörer") genannt, eine Nervensäge, die nur ihren Beratervertrag bei der Regierung verlängert haben wollte und kein Recht auf Polizeischutz habe (hier die Seite der Regierung für Biagi). Seinen eigenen Schutz ließ der damalige Innenminister jedoch verstärken, obwohl er angeblich der Ansicht war, dass die Polizei gegen Terroranschläge sowieso nichts ausrichten könnten. Nach diesem Ausfall konnte selbst Berlusconi den Rücktritt Scajolas nicht mehr verhindern. (Besonders lesenswert ist der Diario-Artikel von Deaglio, der den Rücktritt Scajolas im Zusammenhang mit dem Attentat auf Biagi analysiert und den Wirtschaftsjuristen als "perfektes Opfer" beschreibt).

Die Schlagkraft des Premiers zeigt sich jedoch ungebrochen, solange er seine Monopolstellung in den Medien beibehalten kann. Weil Berlusconi die wachsende Beliebtheit Cofferatis zu fürchten scheint, lud er sich selbst in die Maurizio Costanzo-Show ein, eine Sendung aus seinem hauseigenen Mediaset-Paket. Offensiv und beharrlich lächelnd bezeichnete er Cofferati als "sympathisch und intelligent", gleichzeitig aber auch als einen ewigen Neinsager, den "Signor No", der sich an die Spitze "extremer Positionen" setzen wolle.

Während Berlusconi weiterhin jegliche Kritik an seiner Sozialpolitik durch seine Auftritte im Fernsehstudio zum Schweigen bringen will und damit die Meinungsfreiheit angreift, findet Cofferati immer mehr Anhänger auf der Piazza. Seine Beliebtheit beruht darauf - wie die Grande Dame der italienischen Linken, Rossana Rossanda, in il manifesto schreibt, dass die Gewerkschaft neue Protestformen in sich aufnimmt und damit "Kräfte miteinbezieht, die deutlich über die traditionelle Arbeitswelt hinausreichen, weil sie das zivile, soziale und intellektuelle Unbehagen ausdrücken, auf das weder die einzelnen Mitglieder des Mittel-Links-Bündnisses noch die linke Führungsspitze eine Antwort wissen."

Indem Cofferati den "Pakt für die Arbeit" ablehnt (hier dazu die Meinungsumfrage der Tageszeitung Repubblica), der für viele Beobachter gleichbedeutend ist mit einem beginnenden Abbau der sozialen Rechte, verweigert er der Regierung Berlusconi den bedingungslosen Gehorsam und lässt sich von den Spielregeln mit Allmachtsanspruch des Premiers - "Entweder mit mir oder gegen mich" - nicht einschüchtern. Die Cgil hat verstanden, bemerkt Rossanda in einem anderen Artikel, "dass der Angriff der Regierung auf sie der unmittelbare Ausdruck ihres Vorhabens ist, die Politik der Wirtschaft unterzuordnen; was deutlich über die Zerschlagung der gewerkschaftlichen Forderungen hinaus geht und die gesamte Gesellschaft umformt."

Viele Linksintellektuelle sind zu dem Schluss gekommen, dass die derzeitige Opposition die drohenden sozialen Umwälzungen nicht erkennt oder die Gefahren, die von der Regierung Berlusconi ausgehen, nicht wahrhaben will. Damit unterstützt sie den Premier jedoch beim Abbau der sozialen Rechte, löst sich immer weiter von der Basis und verkauft ihre Seele. Altkommunist und Schriftsteller Luigi Pintor hilft seinen Kollegen auf die Sprünge und erklärt ihnen die Maßlosigkeit der Regierung, die immer weiter auf das konstitutionellen Grundgerüst zugreifen werde: "Es ist keine moderate Regierung, sondern von ihrer Berufung her eine extremistische. Ihre Offensive gilt allen Bereichen. Die Reduktion der Erwerbsarbeit auf eine Ein-Weg-Ware oder die Aushöhlung der Gewerkschaften gehen einher mit der Monopolisierung und Gleichschaltung der Information".

Cgil und Cofferati haben dies durchschaut. Obwohl die Amtszeit des Gewerkschaftssekretärs im September ausläuft, wird die Mobilisierung des Widerstandes gegen die Regierung Berlusconi weitergehen. Ein neuer Generalstreik ist schon beschlossen. Darüber hinaus wird Chinatown Cofferati - wie Stefano Benni ihn nennt - ein so simples wie wirksames Mittel gegen El Nano Berlusconi einsetzen: die Konstitution. Der Chinese, so Cofferatis Spitzname aus alten Fabrikzeiten, plant eine gigantische Unterschriftensammlung, die in einem "Volksgesetz" (legge populare) münden soll. Diese basisdemokratische Möglichkeit eines Gesetzesentwurfs - in diesem Fall zur Verteidigung und Ausweitung (zum Beispiel auf sogenannte atypische Arbeitsverträge) des Arbeitsrechts - erlaubt die italienische Verfassung, wenn mindestens ein Parlamentarier die Aktion unterstützt und 50 000 Unterschriften gesammelt werden. Es könnten auch leicht acht Millionen werden, glaubt Enrico Deaglio - und was dann?

Stefano Benni hat sich schon mal vorgestellt, was passiert, wenn Chinatown Cofferati den Poncho mit "einem Sticker von Lenin, einem von der Callas und einem Knochen, vermutlich dem eines Industriellen" hebt, den Finger streckt und "Konstitution" ruft: "Feiges Mischblut! - sagte El Nano - wehe dir, wenn du noch einmal dieses Wort hier drin auszusprechen wagst!" Und da Chinatown Cofferati nicht so leicht zu kriegen ist, "muss ein Plan her, und zwar sofort - sagte El Nano - also als erstes brauchen wir ein paar Gestalten, die mehrere Farmen anzünden und jemanden umbringen, eventuell können sie auf alles den Stern der Be-Er malen, noch besser ist es, wenn sie ein paar Mitgliedsausweise der Cgil zurücklassen."