21.12.2004. Die Herausgeberin mit dem Innenminister, der Chefredakteur mit der Kolumnistin, sein Vize mit der Empfangsdame - so streng wie die Leitartikel sind die Sitten beim Spectator schon lange nicht mehr. Die Affären des konservativen Blatts amüsieren die britische Öffentlichkeit. Doch das neue Beziehungsgeflecht zwischen Medien und Politik ist nicht nur amouröser Natur.
Erst der britische Oppositionssprecher für Kultur, dann der Innenminister: Kurz vor Weihnachten geht die britische Presse ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, Politiker mit Enthüllungen über ihr Privatleben zu stürzen. Doch die Fälle
David Blunkett und
Boris Johnson zeigen: die
Spielregeln verändern sich, während die Grenzen zwischen
Politik und Medien immer mehr verwischen.
Für die in Presse, Rundfunk und Fernsehen im Moment inflationären Jahresrückblicke kam der Abgang von Innenminister
David Blunkett gerade recht: Der emotionale Rücktritt des blinden Labour-Politikers, der zuletzt sehr damit beschäftigt war, im Namen der
Terrorbekämpfung eine Grundfeste britischer Rechtstradition nach der anderen zu schleifen, bot einen bewegenden Schlusspunkt für ein bewegtes Jahr. Blunkett, 1947 in einfachen Verhältnissen geboren und als Halbwaise aufgewachsen, gab zuletzt oft den populistischen Hardliner der Regierung, obwohl er einst als extrem linker Stadtverordneter in Sheffield die
"Sozialistische Republik von Süd-Yorkshire" (mehr
hier) anführte. Passenderweise sieht sein Nachfolger,
Charles Clarke, dem
Weihnachtsmann nicht unähnlich.
Der Vorgang überschattete einen ähnlich gelagerten Rücktritt einen Monat zuvor, dem des Sprechers für Kulturangelegenheiten der oppositionellen Konservativen,
Boris Johnson. Delikaterweise sind beide Fälle verbunden. Boris Johnson, verheiratet und vierfacher Familienvater, ist
Chefredakteur des konservativen Magazins
The Spectator. Er stolperte über eine Affäre mit einer Kolumnistin des Blattes, Petronella Wyatt. Der geschiedene Ex-Innenminister Blunkett war mit der verheirateten
Herausgeberin des
Spectator, Kimberly Quinn, liiert und ist nun mit ihr verfeindet. Sein Stuhl begann zu wanken, als er sich mit seiner Ex-Geliebten vor Gericht um den Zugang zu Quinns zweijährigem Sohn stritt, der nach Blunketts Überzeugung auch seiner ist.
Was es genau ist, das das konservative Blatt mit seinen alterwürdigen, chaotischen Redaktionsstuben im Londoner Stadtteil
Bloomsbury in den letzen Monaten zum Gravitationszentrum landesweit beachteter Liebesaffären der politisch-medialen Elite gemacht hat, ist nicht leicht zu beantworten. Beim schon
"Sextator" geheißenen Magazin gab es in jüngster Zeit noch eine dritte, medial intensiv begleitete Liaison zwischen dem
stellvertretenden Chefredakteur Rod Liddle und einer jungen
Empfangsdame des Magazins, die zur Trennung Liddles von seiner ebenfalls als Journalisten arbeitenden Frau führte. "Irgendjemand sollte das
Leitungswasser in den Büroräumen des
Spectator abfüllen und teuer verkaufen", riet hilfsbereit der
Guardian, dessen satirischer Parlamentskommentator, Simon Hoggart, seit diesem Wochenende ebenfalls mit Frau Quinn in Verbindung gebracht wird.
Zwei
politische Skalps in zwei Monaten ist selbst für die rabiaten britischen Medien, wo sich zuletzt ein paar vorsichtige Zweifel am eigenen Tun regten, kein schlechter Schnitt und oberflächlich gesehen "business as usual". Doch bei näherer Betrachtung zeigen beide Fälle: In Großbritannien ist so etwas wie eine
leise Kulturrevolution im Gange. Die im Privatleben von Politikern stochernde Berichterstattung scheint sich insofern überlebt zu haben, als dass sich darüber kaum mehr jemand erregen mag. Auf der anderen Seite werfen die Vorgänge ein bezeichnendes Licht auf die britische Politik- und Medienlandschaft, die sich oft zur
großen Showbiz-Chose verbindet. Und schließlich spielen in beiden Fällen Bücher eine Rolle.
Dass die
britische Boulevardpresse Politiker mit Enthüllungen über ihr Privatleben vernichtet, ist nichts Neues. Die klassische Begründung, die schon 1963 in der Affäre von Verteidigungsminister
John Profumo und dem Callgirl
Christine Keeler zur Anwendung kam, ist, dass jemandem, der "Frau und Familie hintergehe",
Landesverrat quasi automatisch zuzutrauen sei. Bis vor kurzem war dieses Spielchen zwischen Politik und Medien, das den "tabloids" große Macht gab, allgemein akzeptiert. Noch vor ein paar Jahren konnte Blairs damaliger Sprecher und berüchtigter "spin doctor"
Alastair Campbell den damaligen Außenminister
Robin Cook auf dem Flughafen Heathrow zwischen Tür und Angel unter Druck setzen, sich sofort zwischen der Geliebten und der Ehefrau zu entscheiden, um schon vorab einer entsprechenden Enthüllung etwas Wind aus den Segeln zu nehmen.
Nun aber scheinen sich die Spielregeln zu ändern. Als das Sensationsblatt
News of the World im August die dann schon beendete Affäre zwischen Blunkett und Quinn publik machte, war die öffentliche Aufregung bemerkenswert gering. Die seriösen Blätter und Nachrichtensendungen ignorierten das Thema einfach. Erst als Blunkett seine
Rechte als Vater gerichtlich durchsetzen wollte, änderte sich die Dynamik. Beide Seiten benutzten die Medien - Quinn beispielsweise, um den Minister mit Amtsmissbrauchsvorwürfen unter Druck zu setzen. Die Protagonisten und ihre verlängerten Arme begannen selbst damit, ihr Privatleben in den Medien auszubreiten.
Den Ausschlag gab am Ende aber ein Buch: eine neue Biografie über David Blunkett, geschrieben von dem Journalisten Stephen Pollard. Für dieses Werk hatte Blunkett im Sommer ein Interview gewährt, in dem er im
Glanze der eigenen Vollkommenheit eine Reihe abfälliger Bemerkungen über Kabinettskollegen machte. Angesichts der schwelenden "Blunkett-Saga" beeilte sich der Verlag
Hodder Headline mit der Publikation. Der Parteichef der Konservativen,
Michael Howard, erhielt ein Vorabexemplar, aus dem er dann genüsslich Premierminister
Tony Blair vorlas und es am Ende gar auf dessen Parlamentspult warf. Das war mehr an Publizität, als sich ein politischer Biograf und sein Verlag allgemein zu erträumen wagen. Pollards Buch wurde schnell in einer für solche Publikationen ernormen Auflage von 30.000 Stück gedruckt und wird vermutlich unter einer Menge britischer Weihnachtsbäume liegen.
Blunketts Geringschätzung seiner Mitminister, insbesondere seines Vorgängers im Amt, dem heutigen Außenminister
Jack Straw, führte dazu, dass er den Rückhalt in der eigenen Partei verlor. Als schließlich eine E-mail auftauchte, die nahe legte, dass Blunkett tatsächlich bei der
beschleunigten Visavergabe für Quinns Kindermädchen die Finger im Spiel gehabt hatte, war sein Schicksal besiegelt.
Beim Abgang von
Alexander Boris de Pfeffel Johnson ging es noch etwas komplizierter zu. Der 1964 in New York geborene, in Brüssel aufgewachsene und in Eton und Oxford erzogene Politiker ist seit 2001 Abgeordneter des tiefblauen (auf deutsche Verhältnisse übertragen: "tiefschwarzen") Wahlkreises Henley-on-Thames. Neben seinem Chefredakteursposten beim
Spectator ist er außerdem Kolumnist bei Großbritanniens auflagenstärkster Qualitätszeitung
Daily Telegraph. Dass man beides ohne Probleme sein kann, hat Boris Johnson lange behauptet und so berühmte Vorgänger wie
Benjamin Disraeli und
Winston Churchill bemüht - beides Premierminister, wohlgemerkt.
Der
Blondschopf mit dem lausbübischen Äußeren ist ein seltenes, aussterbendes Wesen: ein über die Parteigrenzen hinweg
beliebter Tory. Kein Politiker sonst, noch dazu unter den Konservativen, die sich seit dem Machtverlust von 1997 in der politischen Wüste herumirren, kann einen
eigenen Fanclub vorweisen, der auf einer
Website aufgeregt jeden Schritt des Helden verfolgt. Johnson pflegt das Image des
"toffs", was Wörterbücher eher hilflos mit "feiner Pinkel" übersetzen, als leicht
spleeniges, zerstreutes Mitglied der
englischen Oberschicht. Sein Charme ist unwiderstehlich, sein Talent, sich über sich selbst lustig zu machen, so ausgeprägt wie selten. Selbst die gestrenge Starinterviewerin des linksliberalen
Observer,
Lynn Barber, wurde schwach.
Kritiker dagegen verspotten ihn als
politisches Leichtgewicht. Sein "
Sechs-Punkte-Plan zur Rettung der
britischen Kultur", den er kurz nach der Ernennung zum Oppositionssprecher verkündete, zeigte dabei, wie gut er auf der medialen Klaviatur zu spielen vermag. Zu den Maßnahmen gehörten Ideen wie ein öffentliches Forum, auf dem Britart-Künstler wie
Damien Hirst und "der übrige
Saatchi-Mob" erklären sollten, worum es ihnen eigentlich gehe. Ein nationaler Dichter-Wettstreit sollte
Reim und Versmaß in die
englische Poetik zurückbringen. Der Gewinner sollte mit einem Schlauch Wein belohnt werden. Schluss sollte außerdem sein mit dem
"schlimmen, utilitaristischen Kulturverständnis" der Labour-Regierung.
Seinen Posten als Kultursprecher und Vizeparteivorsitzender verlor er im November, weil ihm zwei Boulevardzeitungen ein Verhältnis mit der
Spectator-Kolumnistin Petronella Wyatt nachwiesen. Das heißt, nach der Sprachregelung des Konservativen Parteivorstandes war das nicht der Grund, sondern, dass Johnson in dieser Angelegenheit "nicht ganz offen" war. Denn nach den ersten Enthüllungen hatte er Reportern gesagt, das Ganze sei "Blödsinn" (
"balderdash") und "eine auf dem Kopf stehende Pyramide aus Quatsch" (
"an inverted pyramid of piffle" - alles für Johnson typische, unmodische Worte, die auch manche Engländer im Lexikon nachschlagen müssen). Damit habe er die Unwahrheit gesagt und sei als Schattenminister nicht länger tragbar. Der Angeschuldigte stritt dies ab und wollte nicht still gehen. Mit dem Parteichef habe er nur einmal gesprochen, und zwar in dem Telefonat, in dem dieser ihn zum Rücktritt aufforderte. Von Lügen könne deshalb keine Rede sein.
Boris Johnsons politischer Sturz verlief gewissermaßen in Zeitlupe. Im Oktober erschien im
Spectator ein namenloser Leitartikel, in dem der Stadt
Liverpool vorgeworfen wurde, sie bade geradezu in
Selbstmitleid. Der Aufschrei war groß, denn kurz zuvor war mit Kenneth Bigley ein Sohn der Stadt
im Irak als Geisel genommen und schließlich geköpft worden. Parteichef Howard befahl Johnson, der nicht der Autor war, aber als Chefredakteur verantwortlich zeichnete, daraufhin einen Gang nach Canossa, um vor Ort Abbitte zu leisten, eine Idee, die wiederum den Medien sehr gefiel. Johnsons Liverpool-Besuch geriet eher zu einer "avoid the people" - denn zu einer "meet the people"-Tour und zog viel Berichterstattung nach sich. Von dem Bruder des Ermordeten, Paul Bigley, musste sich Johnson in einer Anruf-Radiosendung sagen lassen, er sei ein
"selbstbezogener, aufgeblasener Trottel", der aus dem öffentlichen Leben verschwinden solle.
Dass die Liverpooler zum
Jammern und Klagen neigen, ist allerdings ein Allgemeinplatz und war - wie die Satirezeitschrift
Private Eye schnell aufzeigte - quer durch alle Zeitungen, die nun so entrüstet taten, in den vergangenen Jahren zu finden. Medienbeobachter warfen derweil die Frage auf, ob "Liverpool in tiefer Trauer über Ken Bigley" nicht das Produkt der Medien selbst war, die ihre Reporter mit dem Auftrag aussandten, das Bild einer angeblich so grenzenlos trauernde Stadt einzufangen, und die es dann wie gewünscht ablieferten.
Johnsons Entlassung aus seinen politischen Ämtern zeichnete sich bald darauf bei der jährlichen Vergabe der
Spectator-Preise für den "Politiker des Jahres" ab. Schon seit Monaten kursierten Andeutungen über Johnsons Affäre mit der Kolumnistin in den Klatschspalten. Nun erging sich der sonst so zugeknöpfte Parteichef Howard in doppeldeutigen Anzüglichkeiten: Der
Spectator sei ganz offensichtlich
"politisches Viagra", man könne Boris nur wünschen:
"Keep it up!" Zwei Wochenenden später war Johnson wieder
Hinterbänkler. Zu den Merkwürdigkeiten der Angelegenheit zählt, dass bei dem Ganzen das Leben die Kunst kopiert zu haben scheint. Denn von einem etwas tollpatschigen Abgeordneten, der überlegt, wie er mit der Enthüllung einer Affäre umgehen sollte, handelte unter anderem Johnsons erster Roman
"Seventy-Two Virgins", der im Herbst erschienen war.
Aus den Fällen lassen sich unterschiedliche Lehren ziehen. Die
öffentliche Moral und die darauf fußenden
Medienmechanismen haben sich stark gewandelt. Die Reaktion auf Johnsons Entlassung war überwiegend negativ. Die Parteispitze der Konservativen tat sich schwer mit der Begründung und schoss nach Meinung vieler ein Eigentor. Bei Blunkett war das Echo geteilt - und die Tatsache der Liebesaffäre selbst war es nicht, die ihn zum Rücktritt zwang.
Zum anderen wird auf verschiedenen Ebenen die hierzulande
symbiotisch gewordene Beziehung zwischen
Politik und Medien deutlich. Johnsons Erfolg ist zumindest zum Teil ein Medienphänomen, befördert von einer "media class", die in ihm ihresgleichen erblickt. Es fiel eher am Rande auf, dass da ein Parteiführer den Chefredakteur eines Magazins zur Entschuldigungskur nach Liverpool gesandt hatte, mit
unguten Implikationen für die
Pressefreiheit in Großbritannien. Für die ist das Ende von Johnsons journalistisch-politischen Doppellebens ein Gewinn.
In Blunketts Fall hielt sich lange das Gerücht, der Minister oder seine Vertrauten hätten die Geschichte selbst in der Presse lanciert. Dass ist und bleibt wohl unbewiesen, aber die Freundschaften, die der Innenminister mit Chefredakteuren wie Paul Dacre von der konservativen
Mail oder Rebekah Wade von der
Sun pflegte, zahlten sich in der Berichterstattung insofern aus, dass sich deren Blätter zwar - den eigenen Instinkten folgend - an den Enthüllungen fleißig beteiligten, Blunkett aber trotzdem weiter lobten und priesen.
Beide werden zurückkommen. Blunketts Image als innenpolitischer Hardliner wird auch in einer zukünftigen Labour-Regierung nach den für Mai erwarteten Wahlen gebraucht, und auf Johnsons Medienstar-Qualitäten wird die Konservative Partei kaum auf Dauer verzichten wollen. Er ist, wie der
Guardian meinte, eine Rarität, "ein
natürlicher Blonder im Showbusiness". Der Rat seines Parteifreunds Michael Portillo, der nach gescheiterter politischer Karriere in die Medien wechselte, sich zwischen "Politik und Komödie" zu entscheiden, ist vom Ansatz her wohl falsch gedacht.