Post aus der Walachei

Ankunft in Bukarest

Von Hilke Gerdes
04.11.2003. Hilke Gerdes ist in die Walachei, genauer gesagt, nach Bukarest gezogen. Erste Eindrücke. Die Tomaten schmecken, die Taxifahrer sind nett, und es gibt nicht nur schnüffelnde Straßenkinder.
Walachei? Indonesien, Kirgisien, Neufundland, die Tuvalu-Inseln - alles erscheint den meisten Menschen interessanter als diese Region im Südosten Europas. Im deutschen Sprachgebrauch wird sie immer dann angeführt, wenn man einen Ort als besonders verlassen, rückständig und öde charakterisieren will. Und nennt man Rumänien, fallen zu 95 Prozent folgende Stichworte in ebendieser Reihenfolge: Diebesbanden, katastrophale Zustände in den Kinderheimen, unbeschreibliche Armut, Securitate, Ceausescu.

Und natürlich Dracula. Ich solle mir per Handy eine Pizza mit viel Knoblauch bestellen, wenn ich statt eines Taxis, eine "Kutsche mit sechs irre schnaubenden Rössern" vorfinde, die mich statt zur Touristen-Information in einen "unwegsamen, steinigen, von Wolfsgeheul erfüllten Wald" fährt. So der witzig gemeinte Ratschlag eines Satirikers.

Nun will dieses Dracula-Land in die EU. Was sollen wir davon halten?


Ankunft im unbekannten Land

Mit der Angst vor den uns angekündigten Meisterdieben und Trickbetrügern im Nacken betreten wir rumänischen Boden. Wir halten unser Gepäck gut fest. Wir sind auf alles gefasst. Doch was ist? Merkwürdig, keine Spur von Neppern und Schleppern zu sehen. Wir haben doch westliche Rucksäcke und Koffer. Wir sind doch reiche Deutsche. Keiner beachtet uns.Otopeni ist ein kleiner Flughafen, die Halle vielleicht halb so groß wie die in Tempelhof. Es geht ruhig zu.

Wir tauschen unser erstes Geld. Die Angst übers Ohr gehauen zu werden, sitzt tief. Misstrauisch schauen wir auf die Scheine: Ist dieses Plastikgeld wirklich richtiges Geld? Später wissen wir: Da die Münzen hier so gut wie keinen Wert haben, sind die Scheine permanent im Umlauf, weshalb man sich für dieses widerstandsfähigere Material entschieden hat. Riesige Zahlen, 1 Euro sind 38.000 Lei. Man hat ständig Bündel von Scheinen in der Tasche, zählt man nach, sind es gerade mal einige Euro. Und das Geld wird täglich weniger wert, da der Euro von Tag zu Tag zulegt. Reisen, Möbel, Immobilien und vieles mehr wird in Euro-Preisen angeboten.

Neben dem Plastikgeld sind auch noch Papierscheine im Umlauf. Als wir sie das erste Mal bekommen, ist sofort wieder unser Misstrauen geweckt, "der will uns alte Scheine unterjubeln". War aber nicht.

Man hatte uns vor den Bukarester Taxifahrern gewarnt. Vor dem Flughafen standen etwa 15, die uns auch gleich bestürmten, als wir signalisierten in die Stadt zu wollen. 20 Euro forderten sie, wir hatten uns vorher schon erkundigt, 15 ist die Schmerzgrenze, verhältnismäßig viel, aber noch nicht ganz Kategorie Nepp. Mit unserem zähen Beharren auf 15 Euro wurden wir von einem Fahrer zum anderen gereicht, bis sich schließlich einer bereit erklärte, er gab uns wiederum weiter an einen anderen. Der Grund blieb uns unklar. In Deutschland sind die Taxifahrer ja eher Konkurrenten als Partner.

Unser Fahrer entpuppt sich als äußerst angenehm, auf Italienisch gibt er Erklärungen zu den an uns vorbeiziehenden Bauten ab. Wir kommen ins Zentrum über die Champs Elysees von Bukarest, die Soseaua Kieseleff: von Bäumen gesäumt, mit alten Villen in den Seitenstraßen und einem Triumphbogen wie der in Paris. Bukarest - das Paris des Ostens, wie es jeder Reiseführer in Erinnerung an die früheren Zeiten anführt, ist also nicht nur eine Chimäre.

Was unter Ceausescu gebaut wurde, sieht in den zentralen Bereichen nicht nur nach uniformen Plattenbauten aus. Und dazwischen erinnert vieles an Art deco, Jugendstil und sogar Bauhaus. Wir sind überrascht, hatten wir doch erwartet, dass Ceausescus Bauwut so gut wie alles zerstört hätte. Und nur die herrenlosen Hunde übrig geblieben seien.

Statt der Zähne fletschenden Rudel von Straßenhunden begegnen wir traurig blickenden Einzelgängern, die sich niederducken, wenn man vorbeigeht. Und wo sind die Scharen von Straßenkindern, die mit ihrer Bettelei über einen herfallen? Es ist alles anders als erwartet.

Es gibt Hunde, es gibt Straßenkinder, die in kleinen grauen Plastikbeuteln Klebstoff inhalieren, es gibt Krüppel ohne Unterleib, die sich auf kleinen Rollbrettchen fortbewegen. Es gibt die alten Frauen, die schweigend neben der Bäckerei sitzen, darauf hoffend, dass man ihnen ein Brot mitkauft. Doch das ist nicht alles und nicht das, was unsere Beobachtung dominiert.


In der sozialistischen Wohnsiedlung

Wir sind überrascht, dass Bukarest eine richtige Großstadt ist, mit mörderischem Verkehr, hektischer Bewegung, vielen Läden, Restaurants usw. Und wir sind erstaunt über das viele Grün. Auch zwischen den Wohnblocks der fünfziger und sechziger Jahre sind Schatten spendende struppige Gärten. Übergangsweise ziehen wir in eine kleine Zweizimmer-Wohnung dort, unweit des Botanischen Gartens. Gar nicht so schlecht. In der Nähe gibt es einen Markt mit Gemüse und Obst. Was nicht importiert wird, schmeckt am besten, und viel besser als in Deutschland. Besonders die Tomaten

Es gibt einen Schlachter, Fleisch kostet hier je nach Art zwischen drei und fünf Euro das Kilo. Für uns billig, für die Rumänen teuer, zwischen drei und fünf Stundenlöhne für einen ungelernten Arbeiter. Die meisten Läden sind ohne Selbstbedienung und haben noch das alte Zahlungssystem, wie wir es aus Estland kennen. Und von den italienischen Bars. Man bestellt seine Ware bei der Verkäuferin hinter der Theke. Die verschiedenen Warenarten kauft man an verschiedenen Tresen (einen für Milchprodukte, einen für Fleisch und Wurst, einen für Brot und einen für Tee, Kaffee, Nudeln usw.) Die jeweilige Verkäuferin sagt den Preis, den muss man sich merken, an der Kasse sagen, dann bezahlen und mit dem Bon zurück zur ihr gehen und schließlich erhält man die Ware. Schlecht, wenn man an allen Tresen etwas kauft und kein gutes Gedächtnis hat. Und natürlich auch schlecht, wenn man kein Rumänisch spricht, doisprezece de mii oder cincizeci de mii sind nicht nur Zungenbrecher, sondern wir haben sie auch nach dem zehnten Mal Hören nicht verstehen bzw. wiederholen können. Die Verkäuferinnen haben milde gelächelt und die Zahlen auf kleine Papierschnipsel geschrieben.

Der Anblick einer Bäckerei ist hier nicht so erfreulich. Wie in Italien gibt es hier: Weißbrot, Weißbrot und Weißbrot, in unterschiedlichen Formen bei mehr oder weniger gleichbleibender Konsistenz. Das einfachste, vielleicht am pappigsten, kostet 4500 Lei (ca. 13 Pfennig) und wird von den meisten Menschen gekauft. In Spezialläden findet man auch Croissants, Blätterteigtaschen und -stangen, die sehr gut schmecken. Wie es auch Torten und Kuchen gibt, über deren Qualität wir allerdings nichts sagen können, denn wir backen selbst. Vielleicht sollten wir uns aufs Brotbacken verlegen und die Kuchen kaufen ?

Die kleinen Läden mit ihrem sozialistische Zahlungssystem werden allmählich von den Filialen der Supermarktketten abgelöst; der französische Carrefour hat gerade sein zweites Einkaufszentrum hier in der Nähe eröffnet. Metro, Selgros und Praktiker sind vertreten. Überall findet man auch Hinweisschilder zur "Bukarest Mall", wir haben sie noch nicht gesehen. Tutto sommato: Konsumieren kann man hier en masse, wenn man das Geld dafür hat. Aber die Mehrheit hat es nicht.

Um so erstaunlicher, dass so viele Autos fahren, so viele mit dem Handy am Gürtel herumlaufen. Und fast alle, wenn sie nicht gerade auf der Straße leben oder zu den Alten gehören, trinken hier Cola. Selbst die Dreijährigen. Seinem eigenen Kind ist das gar nicht so leicht zu erklären. "Cola ist doch ungesund!", wie es schon von allein und gut verinnerlicht ausruft.


Offizielles und Inoffizelles

Erstaunt bin ich über die Buchläden. Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hatte der rumänische Stand einen trostlosen Eindruck gemacht. Bücher mit schlechter Druckqualität und altbackener Gestaltung, präsentiert von einem verknitterten "profesor" in schlecht sitzendem Anzug und einer ältlichen Dame im Tailleur von 1970. Die Bücher hier sehen viel, viel moderner aus als die in Leipzig präsentierten. Es gibt ein reiches Angebot an rumänischer und übersetzter internationaler Literatur und an Sachbüchern. Man hat den Eindruck, dass vieles, was aus den Ministerien kommt, was von staatlicher Seite organisiert wird, unvollkommen und mit wenig Ambitionen betrieben wird. Ein Kapitel für sich sind die Rumänien-Broschüren, die vom Tourismusministerium herausgegeben werden. Ein Zitatenschatz an misslungenen Übersetzungen:

"Das Sutu Palast befindet sich im 0 km aus Bukarest, das Palast ist ein Teil einer harmonischen Verflechtung von Gebäuden vom Anfang des 19. Jahrhunderts"; verschiedene Bauten werden angeführt, wie zum Beispiel "die Kirsche Coltea".
Ja, es gibt noch eine Menge "Kirschen" in Bukarest, zumeist griechisch-orthodoxe. Im Gegensatz zu anderen kommunistischen Ländern wurde die Kirche - das heißt die griechisch-orthodoxe - in Rumänien nicht angefeindet oder unterdrückt, sondern von offizieller Seite anerkannt.

Noch besser, was die Übersetzung anbelangt, ist ein Abschnitt zu Ceausescus "Haus des Volkes": "Das Palast ist aus 21 Körper und 6.000 Zimmer gebildet, es umfängt hunderte Büreaus, zähnte Empfangssalons und Konferrenz Salons den wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Sitzungen bestimmt. Die Oberfläche jedes Saals ist zwischen 300 und 500 qm. Dieselben weiten Räume erstaunen auch im Falle der zwei Galerien vom zweiten Stock ? Entworfen und gebaut im ganzen von rumänischen Spezialisten das Gebäude zeichnet sich durch ihre Qualität und durch den Wert der Endverarbeitungen aus. Man hat Marmor aus den Karrieren von Ruschita, Moneasan und Gura Vaii verwendet, und die innere Wände sind mit Wandtäfelung aus Hazel- und Kirschenessenz gedeckt ? Seit 1994 schirmt das Gebäude auch das Internationale Konferrenzzenter."

Es ist natürlich nicht so, dass es hier keine guten Übersetzer geben würde. Aber wer weiß, wer da wem den ruhigen Posten auf Lebenszeit besorgt hat? Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Postbesuch in Rom vor gut 15 Jahren: Der Mensch hinter dem Schalter brauchte geschlagene fünf Minuten, um meinen Namen und meine Adresse in ein Formular einzutragen. Der Postamtsleiter war wohl ein Verwandter von ihm ? viel anders ist es hier heute auch nicht.

Ich habe gehört, dass man für gute Examina seinem Professoren kleine Aufmerksamkeiten in Form von Lei oder Euro zukommen lässt. Und in der Schule kann man seinen Lehrer durch gut bezahlte Nachhilfestunden gnädig stimmen. Empört von Vetternwirtschaft und Korruption zu sprechen, ist vielleicht berechtigt, aber auch einfach; die staatlichen Gehälter sind derart miserabel, dass die Extrazuwendungen geradezu notwendig sind, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Ein Lehrer zum Beispiel verdient hier zwischen 120 und 150 Euro.


Erklärungen

Die Männer, die unser Umzugsgut ausgeladen haben, verdienen 1 Euro pro Stunde. Sie waren vom Land, denn "die Bukarester arbeiten nicht gern", wie der Chef des Umzugsunternehmens, ein Holländer, erklärte.

Ein Berliner Polizist erklärte uns, die Rumänen seien die besten Einbrecher und Diebe der Welt und er müsse es ja schließlich wissen. Die Rumänen erklären uns, die Zigeuner seien alles Diebe, faul, grob und brutal und man solle sich vor ihnen in Acht nehmen. Also: Vorsicht vor den Straßenfegerinnen, die hier meistens Zigeunerinnen sind.