Post aus der Walachei

Am Rande

Ein Rundgang durch das rumänische Iasi. Von Hilke Gerdes
04.07.2006. Am Randes des europäischen Randes liegt die rumänische Stadt Iasi. Sie ist nicht nur wunderschön, sondern kulturell eine der lebendigsten im Land.
Zuschreibungen

Der Moldauer gilt als ein bisschen langsam, begriffsstutzig und plumb. "Bauern eben", sagt der Nachbar und winkt ab.

Von den Menschen, die in langen Schlangen vor der deutschen, in dicken Trauben vor der italienischen und spanischen Botschaft auf ein Visum für einen der begehrten Saisonarbeitsverträge warten, kommen viele aus der Moldau, der nordöstlichen Region Rumäniens, durch die der namensgebende Fluss führt. Man erkennt sie sofort an ihren ländlichen Gesichtern und ihrer einfachen Kleidung, die so absticht von dem eleganten Stil, der im wohlhabenden Botschaftsviertel gepflegt wird.

Die landwirtschaftlich geprägte Moldau ist arm, auf den Feldern wird vorwiegend mit der Hand gearbeitet. Die berühmten Moldau-Klöster mit ihren einzigartigen Außenbemalungen sind genauso wie andere Attraktionen Rumäniens noch kein Ziel für den Massentourismus. Noch sind die meisten Besucher Inländer, Pilgergruppen in großen Reisebussen oder kunstsinnige Individualtouristen.

Preußen-Connection

Zeitweise war die Moldau ein großes Fürstentum, zu dem Orte gehörten, die heute wie Czernowitz in der Ukraine liegen oder wie Chisinau zur Republik Moldawien gehören. Keine halbe Stunde Autofahrt entfernt von dem postsozialistisch-vordemokratischen Moldawien, dessen Bevölkerung mit einer noch schwierigeren wirschaftlichen Situation als in Rumänien zu kämpfen hat, liegt eine der schönsten rumänischen Städte: Iasi (Jassy).

Die ungewöhnlich grüne Stadt ist in ihrem zentralen Bereich geprägt von den alten Bauten der 1860 gegründeten Universität und den großen Kirchen am Hauptboulevard, der direkt auf den neogotischen "Palatu Culturii" (Kulturpalast) führt. Bildung, Kultur und Glaube sind die sichtbaren Pfeiler der Stadt.

Früher war dies im deutschsprachigen Raum nicht unbekannt. 1714 wurde einer der Fürsten der Moldau, Dimitrie Cantemir, korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie. Als Sohn des Landesfürstes hatte er, entsprechend der üblichen Praxis der Osmanen die Kinder der tributpflichtigen Fürsten als lebendes Pfand für Loyalität zu gebrauchen, einige Jahre in Konstantinopel verbracht. Er wurde zum Kenner osmanischer Geschichte und Kultur, insbesondere der Musik. Als Fürst der Moldau versuchte er in Allianz mit Russland die osmanische Vorherrschaft zu beseitigen, was allerdings misslang. Seine Beschreibung der Moldau wurde bereits im 18. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt. Doch wen kümmert das noch? Bei der Nennung Rumäniens denken wohl die wenigsten an kluge Köpfe und Geistestradition.
Dass zu ändern ist der feste Wille des Institutul Cultural Roman, dessen neuer Direktor Horia-Roman Patapievici schon vor Monaten vom "Rebranding Romania" sprach. Rebranding durch Kultur und Kunst. Um sie im Ausland zu promoten, hat das Institut just ein Cantemir-Programm ins Leben gerufen. Anträge auf Förderung konnten bis Ende Juni gestellt werden.

Glaube


An lauen Abenden wird der Hauptboulevard Laufsteg der liebeshungrigen Jugend und Spazierweg für Paare, Familien und Rentner. An orthodoxen Feiertagen eilen junge wie alte Menschen zur orthodoxen Kathedrale am Hauptboulevard, Sitz des Metropoliten der Region Moldau. In langen Schlangen warten sie, um für die Lebenden und die Toten eine Kerze anzuzünden. Oder sie besuchen die benachbarte Drei-Hierarchien-Kirche, die mit ihren reichen Steinmetzarbeiten an der Außenfassade zu den kunsthistorischen Highlights der Stadt gehört. Das angegliederte Kloster hatte bereits im 17. Jahrhundert eine eigene Druckerei und Schule. Mehrere Klöster umgeben die Stadt auf den umliegenden Hügeln.

Auf einem klosterfreien Hügel liegt der große jüdische Friedhof. Eine Reisegruppe aus Israel fährt in einem kleinen Reisebus vor. Einer von ihnen möchte seinen Vater besuchen. Er selbst lebt schon lange in Israel. Das Land hat viele Juden Rumänens während der kommunistischen Zeit freigekauft. In Iasi leben noch etwa 500 Juden, sagt der alte Mann, der das Grab seiner Frau besucht. Eigentlich sei es leer, seitdem er vor zwei Jahren ihren Leichnam nach Israel habe überführen lassen. Seine Tochter lebe dort. Aber er komme trotzdem hierher. Einmal im Jahr fahre er nach Israel. Er spricht lange mit dem leeren Grab.

Gleich daneben führt eine abgestufte Reihe von Steinplatten zu einer Gedenktafel, die an das Pogrom 1941 erinnert. Mindestens 13.000 Juden wurden damals in Iasi ermordet. Deportationen nach Transnistrien begannen. Damit war der Untergang der jüdischen Kultur eingeläutet, Von Iasi war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Impuls für das jüdische Theater ausgegangen. Der Verfasser von Operetten, Komödien und Dramen, Abraham Goldfaden, hatte hier 1876 ein jiddisch-sprachiges Theater gegründet, das als das erste weltweit gilt.

Formen ohne Gehalt

Einen beträchtlichen Einfluss auf die rumänische Literatur und das Geistesleben insgesamt hatte "Junimea" (Jugend), eine Vereinigung von Intellektuellen, die 1863 in Iasi entstand. Zu dieser Zeit war die Modernisierung des Landes unter der Regierung von Alexandru I. Cuza, ehemaliger Teilnehmer der 48er-Revolution, in vollem Gange. "Junimea" wandte sich gegen die bloße Nachahmung westlich-europäischer Kultur- und Gesellschaftsformen. Den "Formen ohne Gehalt", wie es Titu Maiorescu ausdrückte, sollte das genuin Eigene entgegengesetzt werden. Als solches entdeckten Schrifsteller wie Ion Creanga und Ioan Slavici die rumänische Volksdichtung, Sagen und Märchen, das bäuerliche Leben. Ihre Werke gehören bis heute zum Bildungskanon an den Schulen. Die berühmtesten Schriftsteller Rumäniens, der bis heute Kultstatus besitzende Dichter Mihai Eminescu und der politisch kritischere, satirische und dadurch weniger in den Himmel gelobte Ion L. Caragiale, gehörten zu "Junimea".

Die Diskussion um das Verhältnis zwischen westlicher Kultur und spezifisch rumänischer hat auch im 20. Jahrhundert nicht aufgehört und ist heute angesichts der nahenden EU-Mitgliedschaft aktueller denn je. Während in der Zwischenkriegszeit die Moderne internationaler beziehungsweise vornehmlich französischer Ausrichtung - Proust wird sehr früh und sehr intensiv rezipiert - von Bukarest aus die Szene beherrscht, rekurrierte man in kommunistischer Zeit wieder verstärkt auf die Junimea-Schriftsteller und machte aus ihnen - trotz deren Ablehnung des nationalen Pathos ­- die Heroen nationaler Kulturtradition. Wer fleißiger Hörer von Radio Romania Cultural ist, wird auch heute noch häufiger die Namen Eminescu oder Creanga hören als beispielsweise Max Blecher oder Camil Petrescu, zwei der wichtigen Zwischenkriegsautoren.

Übertragung

Während im Kulturbereich die traditionalistische Fraktion immer noch sehr präsent ist, bemüht sich die Politik offiziell um Anpassung an die westlich-europäischen Normen. Holt man das kulturphilosophische Diktum von den "Formen ohne Gehalt" auf den Boden des Konkreten, ist man angesichts der Umsetzung so mancher westlicher Modelle versucht, "Junimea" recht zu geben. Ein kleines Beispiel dafür ist die erste "Lange Nacht des Museums" im Kulturpalast von Iasi. Sie zeigt deutlich, dass es mit der Übertragung der Idee aus dem Westen, die dort zu ungeahnter Popularität führte, nicht so einfach ist. Nur wenige Ausstellungsräume sind geöffnet. Das in den Palast integrierte Kunstmuseum, das Schätze an rumänischer Malerei beherbergt, bleiben den ganzen Abend geschlossen. Stattdessen können die etwa fünfzig Besucher Ölpressen aus gigantischen Holzstämmen, traurig-braungrüne Tonwaren, Teppiche und Trachten betrachten. Richtig befriedigend ist das nicht. Allerdings lässt sich die Angelegenheit gegen die heutigen Traditionalisten wenden, sie sind es, die die gut gemeinte Idee durch Desinteresse oder Unwillen erst zur "Form ohne Gehalt" machen.

Gegenrichtung

Im Literaturbereich hat die alte Garde immer noch die besseren Verbindungen, wenn es um die Verteilung der staatlichen Subventionen für Zeitschriften, Veranstaltungen und so weiter geht. Und dann wird eben das bereits Bekannte gefördert und nicht etwas, das frischen Wind in die Köpfe bringt.

Wer anderes sucht, muss sich außerhalb dieser Strukturen bewegen. In Iasi gibt es, ähnlich wie in Bukarest, neue Autoren und Autorenzirkel, die wie Dan Lungu und der Club 8 über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurden und sich eher dem Heute verpflichtet fühlen als dem Gestern. Gefördert vom Verlag Polirom, der in Iasi seinen Hauptsitz hat (siehe auch Post aus der Walachei vom 12. Oktober 2005).

Vernetzung

Initiativ zu werden, etwas für Kunst zu tun, die den Horizont der Traditionalisten übersteigt, war 1997 Antrieb für die Gründung von "Periferic". Das war im selben Jahr, als sich auch der Club 8 formierte. Aus dem anfänglichen Performance-Festival wurde schon bald eine Biennale für zeitgenössische Kunst mit internationalen Kuratoren, organisiert von der künstlerischen Vereinigung "Vector" unter der Leitung ihres Gründers Matei Bejenaru. Bejenaru, 42 Jahre alt, ist Kurator, Kunstvermittler und einer der bekanntesten Künstler Rumäniens im Bereich Performance, Video und Installationen. Der soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Kontext ist Ausgangspunkt seiner Arbeiten. Zu seinen jüngsten gehört ein "Travelling Guide", es ist kein Reiseführer für den üblichen Reisenden, sondern eine Art Ratgeber für illegale Arbeitsemigranten in den Westen. Bejenaru achtet streng darauf, künstlerisches Schaffen und Kunstmanagement voneinander zu trennen.

Zu einem großen Teil ist es seinem Engagement zu verdanken, dass "Periferic" dieses Jahr bereits zum siebten Mal stattfinden konnte. "Perferic" (peripher) - der Name lässt sich als Programm lesen. Man ist sich bewusst, die "Peripherie der Peripherie" zu sein, wie Bejenaru es ausdrückt, und nutzt sie produktiv. Iasi, von den westeuropäischen Zentren aus betrachtet am Rande gelegen, wird nach dem EU-Beitritt Rumäniens Grenzposten zum "EU-losen europäischen Rest" werden oder neutraler formuliert Schnittstelle zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der EU. In diesem Sinne ist auch die "Vector Art Data Bank" zu verstehen, die Informationen über künstlerische Initiativen und neue Kunstorte in Rumänien und seinen Nachbarländern, wie Moldawien, Ukraine, Bulgarien und Serbien, bereitstellt. Die von Bejenaru, Catalin Georghe und Vlad Morariu edierte Zeitschrift "Vector" soll ein Forum für die theoretische Auseinandersetzung mit regionalen wie internationalen Tendenzen bieten.

Über "Vector" laufen Kunstkontakte in verschiedene Richtungen Europas. Künstler kommen nach Iasi, nicht nur für eine kurze Ausstellungsdauer, sondern arbeiten über längere Zeiträume in der Stadt. Künstler von Iasi gehen woanders hin, wie demnächst Dan Acostioaei nach Vaasa, Finnland. Die Ränder brauchen die Kulturmetropolen nicht.

Lokales Handeln

Die diesjährige Biennale trägt den Titel "Focussing Iasi". Der lokale Kontext ist den Ausstellungsmachern wichtig. Es gibt keine "individuellen Mythologien" in dieser Ausstellung, ausnahmslos alle befassen sich mit dem Kontext, dem gesellschaftlichen, historischen, soziopsychologischen und wirtschaftlichen.

Dan Perjovschi, der nach Köln im letzten Jahr (siehe Post aus der Walachei vom 20. Juni 2005) diesen Sommer im neuen Frankfurter Portikus zu sehen sein wird, hat die Wände der oberen Etage im ehemaligen Türkischen Bad mit seinen Zeichnungen überzogen; hier ist das in situ keine leere Formel, Türpfosten und Löcher werden in die Arbeit integriert, eine Raumfarbe kommentiert. Man sieht vor seinem geistigen Auge Perjovschi im Raum agieren, die Unmittelbarkeit weckt den rezeptiven Geist aus dem abstrakten Schlummer. Es sind auf wenige Striche reduzierte, schnelle Zeichnungen, manche funktionieren mit, manche ohne Wörter, manchmal werden Buchstaben zu Figurationen, wie das O im Wort Shop, in das die Strichmännchen stürzen. Es sind eindeutige Aussagen über die Konditionen des zeitgenössischen Lebens, der Politik, Kirche, der Perzeption durch den Westen, des Kommunismus und Kapitalismus. Komplexes ist auf seinen Kern reduziert.

Das Profil eines Kopfes zeigt als Hinterkopf ein weiteres Profil. Lange Traktate über Individualismus und Gesellschaft sind nicht notwendig, um eine Zeichnung zu verstehen, die einen großen Wohnblock zeigt, dessen Fenster als Striche angedeutet sind und dessen Bewohner, in Mengen auf ihn zustrebend, ebensolche Striche sind. Manchem mögen Aussagen wie diese banal erscheinen, aber ihre visuelle Umsetzung ist es nicht. Perjovschis Arbeit gehört zur Sektion "Soziale Prozesse", die Marius Babias, Kurator und Kunsttheoretiker, und Angelika Nollert, Siemens Arts Program, kuratiert haben.

Andere Künstler haben sich mit der Geschichte Rumäniens beschäftigt (Lia Perjovschis "Timeline"), mit Schülerinnen aus Iasi einen Porträt-Workshop veranstaltet (Christine und Irene Hohenbüchler), den öffentlichen Raum mit seinen überdimensionierten Billboards thematisiert (Luchezar Boyadiev), einen Film über Poesie, Widerstand und Alltag in Iasi gedreht (Laura Horelli), Mittagspausen-Fotos gemacht (John Miller), Plakate mit Fragen zur Kunst an verschiedenen Orten platziert (H'arta), ein Denkmal von Iasi zum Ausgangspunkt für die filmische Umsetzung der Frage nach kultureller Repräsentation gewählt (Boris Buden und Hito Steyerl), den eigenen rumänischen Background, rumänische und englische Sprache zu einer Installation kombiniert (Andrea Faciu) und ein Theaterstück über die Religion im Postkommunismus geschrieben und inszeniert (Nicoleta Esinescu).

Weitere Sektionen der Biennale waren "Strategien des Lernens", kuratiert von Florence Derieux (Musee cantonal des Beaux-Arts, Lausanne) und "Warum Kinder?", kuratiert von Attila Tordai-S., dem Herausgeber der rumänischen Kunstzeitschrift "IDEA arta + societate", Cluj. Themen, die angesichts der EU-Anwärterschaft und des Übergangs einer monolithischen Traditionsgesellschaft zum pluralistischen Staat, in dem diverse Wertesysteme miteinander konkurrieren, sozusagen auf der Straße liegen. Es wurde unter anderem Tischtennis gespielt, ein "Championat Ping Pang/Pong", das Pang hat Mircea Cantor erfunden: eine mittlere dritte Zone auf der Tischtennisplatte, markiert durch zwei Netze. Dadurch wird jedes Schmettern sinnlos.