Tagtigall

nach dem ausbruch der freiheit

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
18.04.2024. In den Lyrikempfehlungen 2024, die das Münchener Lyrikkabinett jedes Jahr gemeinsam mit der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und dem Berliner Haus für Poesie ausrichten, finden sich dieses Jahr drei slowenische Dichterinnen und Dichter vertreten. Was hat es damit auf sich?
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"Essay, on what I think about most" (Essay darüber, was mich am meisten umtreibt), heißt eines der Gedichte von Anne Carson. Und tatsächlich denkt die Kanadierin in diesem Essay-Gedicht über so einiges nach, vor allem darüber, dass das Leben aus Fehlern, Sprüngen und Irrtümern besteht, dass wir uns dafür meist schämen und womöglich Schuldgefühle haben, dass aber das Gedicht der Ort ist, an dem all das Unaufgelöste unseres Daseins Raum finden kann. Aristoteles zufolge sei es die Metapher, die dem Denken erlaube, "sich selbst dabei zuzusehen, wie es einen Fehler macht". Fehler machen sei gut. In der Poesie könne das Erwartbare  so lange mutmaßlich in die Irre gehen, bis das Unerwartbare sich zeige. Darin genau liegt ihre Freiheit begründet.

So auch die Freiheit der Poesie Sloweniens. Slowenien hat 2 Millionen Einwohner. Von jedem Ort des Landes ist man in einer Autostunde über die Grenze, erzählt die Übersetzerin und Kulturvermittlerin Amalija Maček, die eine große Übersetzerin (Aichinger, Handke, Terézia Mora) und eine grandiose Vermittlerin slowenischer Lyrik ins Deutsche ist. Über Jahrhunderte lebten die Slowenen unter fremder Herrschaft. Viele im Land sind mehrsprachig; geschrieben wird auf Slowenisch - eine Sprache, die auch in den Grenzregionen der Nachbarländer gesprochen wird: in Österreich, Ungarn und Italien. Einige Autoren von dort sind uns schon länger bekannt - darunter Maja Haderlap, Ana Marwan, Barbara Korun, Aleš Šteger und Tomaž Šalamun. Mit Anja Golob landete 2019 erstmals eine slowenische Stimme auf den jährlichen Lyrikempfehlungen, dieses Jahr jedoch waren es 3 Bände zugleich. Daniela Strigl empfiehlt Srečko Kosovel, den "Hoffnungsträger der literarischen Avantgarde", der 1926 mit nur 22 Jahren starb und doch ein großes Oeuvre hinterließ (siehe die Tagtigall vom letzten August). Nico Bleutge empfiehlt den Gedichtband "nicht fisch" der Dichterin Ana Pepelnik, und Joachim Sartorius den Sprachkünstler Tomaž Šalamun (1941-2014), der sich Velimir Chlebnikov, Lautréamont und John Ashbery verbunden wusste und seine Gedichte als "Steine aus dem Himmel" bezeichnete.

Kann es sein, fragte ich mich plötzlich, dass Slowenien weniger ein Land der Erzählung, als vielmehr ein Land der Dichtung ist? Und wenn ja, warum? Sind in diesem kleinen, vom Sprachmix geprägten Land die Grenzen poröser und die Sprünge und Irrtümer selbstverständlicher? Ist es das Licht? Ist es der Dual, der die Grammatik erweitert? Oder ist es der besondere Klang der Sprache: schließlich fand man hier die ältesten Flöten der Menschheitsgeschichte - aus Bärenknochen geschnitzt, stammen sie eventuell aus der Altsteinzeit.

Im letzten Sommer erschien, aus Anlass des Gastlandauftritts, eine umfangreiche Anthologie slowenischer Lyrik unter dem Titel "Mein Nachbar auf der Wolke". Die einzelnen Kapitel darin sind nach Gegensätzen geordnet: Wort & Schweigen, Stadt & Zuhause, Wasser & Erde, Grenze & Unterwegs ... Von den Verstrickungen der Menschen in die Geschichte (ob Habsburg, Nationalsozialisten oder Jugo-Sozialismus) erfährt man weniger. Doch die Dichterin Ifigenija Simonović (geb. 1953) erfindet ein lyrisches Ich, das sich den Fragen und Klagen und Todesängsten ihrer älter werdenden Nachbarin im neuen Slowenien aussetzt. An einer Stelle heißt es: ...

und ich war einverstanden.
dass man heute keine freude mehr hat.
nach dem ausbruch der freiheit.
nach dem ausbruch der freiheit.
(unzählige male wollte ich das schon schreiben
nach dem ausbruch
der freiheit)
nach dem ausbruch der freiheit
nach dem ausbruch der freiheit

Die insistierende Wiederholung ("nach dem ausbruch der freiheit") bezeugt noch einmal die lange Zeit der Unterdrückung, in der auch das lyrische Ich nichts so sehr ersehnte wie die Freiheit. Auch wenn nach 1990 Ernüchterung einsetzte, beschwört die Wiederholung, wie unkaputtbar diese Hoffnung ist. Bei aller Skepsis: die Freiheit, sie bleibt ausgebrochen.

Eine der größeren Entdeckungen ist für mich Ana Pepelnik (geb. 1979). Sie ist eine cross-over-Künstlerin: Sie hat bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht und im Land zahlreiche Preise erhalten. Außerdem übersetzt sie aus dem Englischen, unter anderem Elizabeth Bishop und Noelle Kocot. Sie ist Sängerin der Band "Boring Couple" und kombiniert Musik und Poesie in kollektiven Performances. Ihre Gedichte leben aus der Lust am Widerspruch. Und aus dem Sound.

In diesem Café kannst Du Schönheit trinken.
Fürchte dich nicht vor den Flussufern
beeile dich lieber und achte darauf nicht zu stolpern.

Knips das Licht an damit du nicht allein bist
Das ist deine Abkürzung zur Nähe.

Häng deine Weste an den Haken
und pass auf, dass Du nicht schauderst.
Ich weiß. Am Ende lügen wir alle.

Ein beschwörender Ton, der Bachmann-Sound "sei ohne Sorge" mit Rap verbindet, und so die Ängste ("damit du nicht allein bist") in Schach zu halten versucht. Pepelniks Texte sind Tore für Einfälle. Töne und Rhythmen wechseln. Prominent ihr Langgedicht "techno". Hier der Anfang:  
 
darüber wie ich mich nicht wundere
dass ich nichts fühle. über einen selbstmord.
der den meinen verhindert. über dankbarkeit.

darüber wie mir das leben einen freund
nahm. und fast mich. über das eine kind
zwei. beide aus diesem bauch geboren

unter diesem blatt und diesem stift.
dass sie keine mutter brauchen. keine mutter mich

Mit dem ersten Wort  ("darüber...) springt der Text mitten hinein in die Rastlosigkeit dieses Ichs. Und das Springen geht weiter. Alles Verstehen ist Fragment: Geht es um Selbstmord? Um einen Freund? Um ein Kind? Ums am Leben bleiben? "keine mutter mich". Egal, was es alles bedeutet, es geht einen an. Und weiter im Text:

was ist techno für dich. für mich ist techno die welt. herz.
urgrund .urgeschichte. als alles nur ein einziges
großes herzschlagen war. und wenn techno schlägt schlägt auch mein herz.

hoffnung ist techno. was ist hoffnung.  dass du während der beschissenen
depression auf techno wartest. dass du noch so viel
leben aushältst dass dir das wenigstens so viel bedeutet wie einst.

Ob "techno" ein Lebensgefühl meint oder aber das Dichten selbst (techne), bleibt offen. Lauter Realia tauchen auf: Flipflops, Fahrräder, Filmregale. Gasmasken; und hohe Absätze. Das Lied kulminiert in einem Zusammenprall von Bildern und Metaphern. Pepelnik gelingt es, sich und uns in jene Irre zu führen, wo laut Anne Carson Freiheit beginnt. Und so endet das Gedicht nicht von ungefähr mit sturzbächen, sternen, lavendel und erdrutschen und mit Vorsilben (ge, erd), die den Zusammenhalt stiften.

und wenn du gebierst, gebierst du die ganze welt. so fühlt sich das an. magma lava.
erdöl rosmarin sterne erdbeben lavendel sturzbach sintflug
erdrutsch salbei. Geruch geschmack gespür gehör. Die sicht.
Mein techno.

"Slowenien ist so /winzig, du könntest es glatt /verfehlen", dichtete einst Tomaž Šalamun. Seine Stimmen sollten wir nicht verfehlen.


***

Zum Weiterlesen und Weitersehen:

Das Gedicht "Essay on what I think about most" von Anne Carson ist nachzulesen zuletzt in Anne Carson, "Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte", dt. von Anja Utler, Rede zur Poesie, Wallstein Verlag, 2020 (https://www.wallstein-verlag.de/9783835336650-dreizehn-blickwinkel-auf-einige-worte-thirteen-ways-of-looking-at-a-short-talk.html)

Hier der Link zu den Lyrikempfehlungen 2024

Mein Nachbar auf der Wolke, Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts, beauftragt von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hg. von Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger, Hanser Verlag, 2023

Ana Pepelnik, nicht fisch, aus dem Slowenischen von Amalija Maček, Matthias Göritz, Adrian Kasnitz und Thomas Podhostnik, Parasitenpresse, 2023

Unter dem Titel Tweets from the Past fand sich in Frankfurt bis vor kurzem eine Ausstellung zur Archäologie Sloweniens in Klängen, Symbolen, Rhythmen und ältesten Schriftzeugnissen.