Vorgeblättert

Julian Schütt: Max Frisch. Biografie eines Aufstiegs. Teil 3

21.02.2011.
WO ES MICH WÜRGT. Im März 1954 zog sich Frisch für einen Monat an den Genfersee zurück, um frei von Familienpflichten mit dem Stiller voranzukommen. Genauer: Er hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und in einem "sehr hotelmäßigen Hotelzimmer " in Territet bei Montreux Unterschlupf gesucht. Seine Mutter war über den wahren Fluchtgrund informiert und fragte etwas besorgt, ob eine Versöhnung nicht wertvoller wäre. Er wisse ja aber selber am besten, wie er sich zu verhalten habe, "ohne gegen Recht u. Anstand zu verstoßen". Sie wolle auch niemandem die Nebengründe der Flucht verraten.(144) Frisch mochte die Gegend, in der er den Stiller enden lässt; er arbeitete neun Stunden pro Tag ohne Störung, ging früh zu Bett, um anderntags wieder fit zu sein. Bei aller Vorsicht glaubte er, dass ihm vieles gelinge. "Die Frisch-Mängel werden nie fehlen, aber ich bin dort, wo es mich bewegt, und ich freue mich, dass vieles ein heiteres Gesicht bekommt. Oder täusche ich mich auch darin? Mich belustigt,was ich jetzt schreibe, gerade weil es nahe an der Zone ist, wo es mich würgt."(145) Nach seiner Rückkehr verreiste Trudy mit ihren Eltern in die Ferien nach Griechenland, und Frisch musste die Kinder hüten. Trotzdem hatte er schon Ende April eine Reinschrift von Stiller beisammen und übergab sie drei Freunden und wenig später Peter Suhrkamp zur Lektüre. Er war zuversichtlich, dass das Manuskript "in Anliegen und Komposition" stimmte und vor den "Frankfurter Richtern" bestehen konnte.(146) Im Juni zog er sich erneut zurück, diesmal nach Oberiberg im Kanton Schwyz. Er konnte dort in einer großen Bauernstube wohnen. Inzwischen hatte er ein Gespräch mit seinem Verleger über den Stiller und vor allem über den noch unbefriedigenden Schluss gehabt. Er brauche ja Anstoß, schrieb er Suhrkamp, "allein komme ich nie hindurch, nicht einmal zu dem mir möglichen Punkt. Das ist das Übel all meiner Arbeiten, Sie wissen?s, irgendwo vor dem erstrebten Gipfel lasse ich mich nieder, raste, vergesse, erspare mir den Rest. (Genau so, natürlich, im Menschlichen!)"(147) Suhrkamp störte, dass Stiller durch Selbstmord endet. Wie immer teilte er Frisch seine Kritik mit, wie immer, ohne Änderungen zu verlangen. Doch der Einwand überzeugte Frisch, und er schloss sich nochmals drei Wochen lang in eine Berghütte ein, um das "Nachwort des Staatsanwaltes" neu zu schreiben.(148) Nach dem Epilog nahmer sich die "Sibylle Story" vor, überarbeitete sie mehrmals. Mitte August schickte er auch diesen Part nach Frankfurt. "Jedenfalls ist es als Schriftstellerei besser, die Figur (hoffe ich) etwas persönlicher, gewichtiger als früher." (149) Dass er nun öfter eine Unterkunft suchte, lag wie gesagt nicht nur am Roman, an dem er in Ruhe arbeiten wollte. Oder lag es doch auch am Roman? Kam er, je mehr er sich mit dem Stiller beschäftigte, zur Einsicht, dass es mit Trudy tatsächlich kein Weiter gab und er die Familie verlassen musste? Jedenfalls stand für ihn im Sommer 1954 fest: Er würde von zu Hause ausziehen.(150) Weiterhin beharrte er darauf, sein Leben selber zu wählen (obschon Stiller alias Mister White mit demselben Ziel scheitert). Nur fand er noch nicht die Zeit, sich nach einer geeigneten Wohnung umzuschauen.

Einmal mehr verschärfte sich seine finanzielle Situation, wieder war ein Hörspiel fällig. Im August 1954 schrieb er Eine Lanze für die Freiheit, eine Satire über das konservative Kulturklima der fünfziger Jahre. Er lässt einen neuen Don Quixote auferstehen: Der hat nicht zu viele Ritterromane gelesen, sondern zu viele Zeitungen, und schlimmer noch: Er glaubt alles, was darin steht.(151) Mit Zeitungsparolen kämpft er für Freiheit und christliches Abendland und gegen streikende Arbeiter, von denen er Solidarit ät mit dem Unternehmertum fordert, wofür er Prügel kassiert. Ein Generaldirektor verspricht Mittel für eine Kulturstiftung bereitzustellen, so wie das der Waffenfabrikant Bührle in der Schweiz tat, als er die Goethe-Stiftung ins Leben rief. Bedingung war, dass niemand auf die Idee kam, die vertretenen Kunstideale Wirklichkeit werden zu lassen. Der Generaldirektor im Hörspiel will nicht, dass man nur an Munition denkt, wenn man seinen Namen hört. Er will keinen Krieg, wie er sagt, nur kalten Krieg, Nervenkrieg, "ohne Nervenkrieg keine Rüstung, ohne Rüstung
keine Konjunktur, ohne Konjunktur keine Stiftungen, ohne Stiftungen keine Kultur".(152) Der Süddeutsche Rundfunk lehnte das Hörspiel ab, angeblich wegen dramaturgischer Bedenken. Frisch fragte sich, ob es nicht eher kulturpolitische Bedenken waren. Seine Lanze für die Freiheit sei kein Meisterwerk, das Hörspiel habe Unstimmigkeiten in der Anlage und irreparable "Dünnheiten wie etwa 70% aller Hörspiele" sie aufweisen. Andererseits habe es Dialogqualitäten, wie sie 70% der Hörspiele, die gesendet werden, nicht hätten. Die Kernaussage sei nicht abgründig, auch nicht unangebracht, "dass der Kulturbegriff, wie der industrielle Mäzen ihn haben möchte, des Spottes bedarf, darin dürften wir uns doch alle, die wir bei der Kultur angestellt sind, einig sein".(153) Doch auch wenn schließlich der Bayerische Rundfunk das Hörspiel sendete, war es für Frisch eine Brotarbeit, die er nicht in seine Werkausgabe aufnahm.


SPRUNG IN DIE NICHTIGKEIT. Er entwarf im Notizheft einen Klappentext zum Stiller, der aber unberücksichtigt blieb:

     Dieses Buch ist, obschon es sein Anliegen an der Krise zweier Ehen demonstriert, kein Ehe-Roman. Es ist auch, obschon es von Genua, von Spanien, von Pontresina, von New York, von Californien u. Texas, von Negern, von Mexico erzählt, kein Reise-Buch. Sein Motto ist ein zentrales Wort aus Kierkegaards Entweder-Oder: Wähle dich selbst. Der Schreiber dieser 'Aufzeichnungen im Gefängnis', der selbstverständlich nicht identisch mit dem Verfasser, sondern eine erfundene Figur ist, geht den Weg über die 3 Stufen von Freiheit: Selbsterkenntnis auch über sein bisheriges Leben, Annahme seiner selbst (wähle dich selbst), Verzicht darauf . . . Das Thema dieses Buches also ist die Freiheit der Persönlichkeit.(154)

Hätte Frisch bis zum Schluss an diesem Vorschlag festgehalten, wäre der Roman vielleicht als seine Chemins de la liberte, seine "Wege der Freiheit", gelesen worden. Der Entwurf des Klappentextes ist schon darum aufschlussreich, weil der Autor sich zwar gegen jede Identifikation mit Stiller verwahrt, aber auch nicht bloß Mister White oder den Staatsanwalt über Stiller reden lässt, sondern sich selber über ihn äußert und ihn immerhin drei Stufen der Freiheit erklimmen lässt.

Exakt in der Zeitspanne, in der Stiller verschollen ist, in der er gefasst wird, seine Freiheit verliert (es sind die Jahre 1946 bis 1952), tritt Frisch immer prägnanter in Erscheinung, macht international Karriere, während sein Stiller eher verächtlich von "Karriere" spricht. Dessen Verschwinden als Kontrastprogramm zur künstlerischen und intellektuellen Präsenz seines Urhebers. Stiller ist aber nicht Frisch - der Roman zeigt vielmehr, wie es in Frischs eigenem Leben hätte gehen können. Stillers Weg ist keinesfalls die schlimmstmögliche Wendung, oft genug fragte sich Frisch ja, warum man nicht seinem Gefälle zum Meer folgt und verschwindet. In seinen Augen ging Stiller einen Weg in die Freiheit. Und er hätte kaum das Buch geschrieben, wenn ihn dieses Untertauchen und Verschollensein, diese Art von Freiheitssuche bei aller Angst nicht auch fasziniert hätte. Freisein wovon? Von der eigenen Identität. Wie das? Man wäre dann darauf angewiesen, dass die Leere einen trägt, wie White/Stiller am Schluss des ersten Heftes sagt. Da bleibt nur der "Sprung in die Nichtigkeit, in ein nie gelebtes Leben, in die Schuld durch Versäumnis, in die Leere als das Einzigwirkliche, was zu mir gehört,was mich tragen kann . . ." (155) Doch nicht einmal so wird Stiller das Ich der Freunde, das Ich der Öffentlichkeit, der Medien, der Kreise, zu denen er gezählt wird, los. Es bleibt die für Frisch schwer zu akzeptierende Tatsache, dass man von anderen und durch das Leben mit den anderen gemacht wird. Das führt mitten in die Identitätsproblematik hinein, und gemacht wurde Frisch ja vor allem auch zum Autor des Identitätsproblems. Es gibt kein intimes Ich, auf das Verlass ist. Das Ich ist ein Arrangement des Denkens der anderen (der junge Sartre zieht daraus den Schluss, dass es Identität als Zustand, als Substanz nicht gibt, und auch Subjektivität gibt es einzig durch die Dinge, an die sie sich entäußert; es gelingt dem Ich nicht, "mit sich selbst zu koinzidieren ").(156) Darum aber ginge es, lässt Frisch seine Hauptfigur sagen, dass "einer mit sich identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen." Nie gewesen? Stiller ist der Roman eines Un-Ichs, eines unbeschriebenen Blattes namens Mister White, in welchem seine Freunde und die ganze kunstinteressierte Gesellschaft einen der Ihren, nämlich den verschollenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, wiedererkennen. Ihren Heimholungsversuchen, mit denen sie die alte Intimität herstellen wollen, trotzt Mister White lange. Lieber hat er keine Identität als diejenige Stillers. Doch man bedrängt ihn mit Stillers Vergangenheit, konfrontiert ihn mit dessen Frau, dessen Atelier, dessen Marotten. Dieser Vergangenheit hat er oft nichts entgegenzusetzen als seine Geschichten, die ihm aber die wenigsten glauben. Schon bald muss er einsehen: Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben. Diese Unmöglichkeit ist es, die "uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen - nur um sagen zu können: 'Ich kenne dich.'"(157)


ÖFFENTLICHKEIT ALS PARTNER. Als Stiller im Herbst 1954 erschien, hielt Frisch die Ruhe vor den Rezensionen kaum aus. Zwei Vorabdrucke im September blieben noch ohne Echo. Die ersten hoffnungsvollen Signale kamen aus dem Verlag. Peter Suhrkamp entwarf ein Essay, in dem er Stiller als "Exempel für die ungeschwächte Produktivität der Romanform" lobte. Er arbeitete besonders das Fluchtmotiv heraus, das im Leben aller Figuren wiederkehre.(158) Sein junger Mitarbeiter Siegfried Unseld publizierte im Morgenblatt für Freunde der Literatur eine erste Analyse des neuen Romans. "Es kann nicht Aufgabe des Dichters sein, die Aporien der Gegenwart zu lösen", schreibt Unseld, "aber es kann ihm aufgegeben sein, auf sie durch die Gestaltung einer stringenten Figur hinzuweisen. Dies ist Max Frisch mit dem Roman Stiller geglückt."(159)

Als einer der ersten verlagsexternen Leser meldete sich Emil Staiger, der das Buch voll Bewunderung verschlungen hatte. "Ich bin überzeugt, dass Dir hier ein Meisterwerk hohen Ranges geglückt ist", schrieb er Frisch.

     Eines Deiner zentralen privaten Probleme - genauer, ein Problem, dass ich bisher nur als ein privates anzuerkennen vermochte - das 'schlechte Gewissen', das Leiden am Ich, die Unmöglichkeit, sich zu gewöhnen und in einer stetigen Folge zu leben: dieses Problem ist im Stiller zu einer Bedeutung gediehen, die weit über Deine Person hinausreicht und für ein ganzes zeitgenössisches Schicksal symbolischen Sinn gewinnt.

Im Übrigen war es eine typische Staiger-Lektüre; gerne erinnerte er an "wunderbare Landschaftsschilderungen, wahre Meistergem älde", an "geistreichste humoristische Details", an die "Unerschöpflichkeit Deiner Phantasie und die Variabilität Deiner Sprache". Dagegen verdrossen ihn die "Sticheleien gegen die Schweiz", weil "ich nach wie vor meine, die Summe der Laster sei ungefähr bei den verschiedenen Nationen konstant". Dennoch lobte er überschwänglich den genialen Einfall des heimkehrenden Stiller, der sich verleugnet, die kompositorische Klugheit, die Richtigkeit des Tons und versprach, den Roman "gegen alle gewiss zu erwartenden Angriffe leidenschaftlich" zu verteidigen.(160) Das tat er dann in der NZZ. Er verteidigte Frisch darin sogar gegen dessen Bühnenstücke, die Staiger, dem Verehrer von Bin oder die Reise nach Peking, nie sonderlich behagten: "Es ist, als hätte sich das durch die Anforderungen der Bühne beirrte Talent nun plötzlich Bahn gebrochen und ströme in unaufhaltsamer Fülle dahin."(161) Politisches mied er, die Schweiz-Kritik gehörte für ihn zum "verwegenen Spiel", das der Autor treibe; noch deutlicher sprach Werner Weber im Radio von "Schlacken in einem bedeutenden Kunstwerk. Wir sagen Schlacken - nicht weil sie Kritik enthalten, sondern weil sie schlechte, oberflächliche Kritik enthalten." (162) Frisch, auf schlimmere Angriffe gefasst, dankte Staiger erleichtert:

     Ich weiß, dass es für mich eine wichtige Arbeit gewesen ist, komme mir übrigens völlig ausgeleert vor (nicht einmal fähig zum Geldverdienen, was so dringend nötig wäre!) und hatte, wie ich an der jetzigen Entspannung merke, doch richtig Angst - kaum vor der Öffentlichkeit, soweit sie sich in Zeitungen abspielt, aber vor dem wirklichen Partner; Angst davor, daß ich mit meinem eignen Gefühl (nämlich: dass dieses Buch eine Leistung darstelle, etwas, das ich nicht zu widerrufen brauche) gänzlich allein dastehen würde, und Du weißt es, ich bin solcher Situation nicht gewachsen; ich komme ja aus einem Morast von Ressentiment - eine Bewegung der Angst, und ich bin wieder drin!(163)

Nachdem auch Dürrenmatt über das Telefon gemeldet hatte, seit langem habe ihn keine Lektüre mehr so sehr erregt, ihm selber wieder Lust gemacht, Schriftsteller zu sein, und nachdem Hermann Hesse (aus freiem Willen, hoffte Frisch) "seine milde Patriarchenhand " über Stiller hielt, konnte sich der Verfasser langsam zurücklehnen. Wiederum an Staiger: "So bin ich denn voll Dankbarkeit und zugleich etwas erschreckt. Bei gewissen Wendungen, wenn man sie auf Zeitungspapier liest, kommt man sich doch sehr ausgezogen vor. Das kommt aber wohl daher, dass ich mich selbst ausgezogen habe; es war mir bewusst, meinte ich, oder war?s mir doch nicht bewusst? Öffentlichkeit als Partner - es bleibt ungeheuerlich. Der Rest ist Scham." (164) Vor Verwechslungen mit Stiller war er selbst im Familienkreis nicht sicher. Der Bruder schrieb ihm, in den Genuss der Lektüre mische sich eine Traurigkeit, nämlich die Überzeugung, "dass auf lange Strecken dieser Stiller Du selbst bist". Wie schlecht es um Frischs Ehe stand, bedrückte Franz, und einmal mehr brachte er viel Verständnis für dessen Situation auf. Es sei furchtbar, dort zu Hause zu sein, wo man sich nicht heimisch fühlt.(165)

Enthusiastisch feierten die großen deutschen Blätter den Roman, so dass Frisch zufrieden resümierte, das Buch könne verstanden werden, "wenn der Leser nicht allzu sehr Schweizer ist". Man lobte die Weltläufigkeit, in der Hauptfigur spiegele sich die "Selbstentfremdung des modernen Menschen", man verglich Stiller mit dem psychologischen Roman Dostojewskijs, sprach vom "Anti-Entwicklungsroman schlechthin" oder nannte das Buch schlicht ein Meisterwerk. Schon im Dezember erschien die dritte Auf lage - man erwähnte Frisch nun in einem Zug mit den besten Schriftstellern der Gegenwart. Und mehr noch: Topverlage erwarben die Übersetzungsrechte; bald erschienen eine französische, englische, amerikanische, italienische, spanische, holländische und schwedische Ausgabe; Frisch stieg zum Weltautor auf.

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Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(Copyright Suhrkamp Verlag)


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