9punkt - Die Debattenrundschau

Ausschließlich Wirklichkeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2024. In der Welt fürchtet der Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui die Entstehung dschihadistischer Emirate in der Sahelzone. In Italien ist der Antisemitismus so stark geworden, dass man das Erinnern am Holocaust-Gedenktag lieber den Nichtjuden überlassen möchte, berichtet die FAZ. Der Tagesspiegel zählt die zerstörten Kulturstätten in Gaza. Der Dlf berichtet, wie bei den Corona-Hilfen in der Kulturbranche getrickst wurde. In der SZ konstatiert der Soziologe Hartmut Rosa eine Ablehnung der Leitmedien auch im akademischen Milieu.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.01.2024 finden Sie hier

Politik

In der Sahel-Zone braut sich die nächste geopolitische Katastrophe zusammen, warnt in der Welt der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui: "Mehr als eine halbe Milliarde Menschen leben in diesen Staaten, 150 bis 200 Millionen im Sahel selbst. Die riesigen Länder - der Tschad ist so groß wie Deutschland, Frankreich und Italien zusammen - gehören fast alle zu den ärmsten Staaten der Erde. Viele sind 'gescheiterte Staaten', die den Menschen außerhalb der Hauptstädte kaum soziale und gesundheitliche Versorgung und oft nicht einmal Sicherheit bieten. Den Regierungen ist es unmöglich, ihre riesigen Landesflächen zu kontrollieren. Die Grenzen wurden zumeist von den Kolonialmächten mit dem Lineal gezogen, ohne Rücksicht auf die dort lebenden Völker, die Tuareg, Fulbe, Hausa, Kanuri, Araber und Somalis. Die Menschen wurden in Dürrejahren über die Jahrhunderte immer wieder zu Opfern von Hungersnöten und marodierenden Banden, von Konflikten zwischen sesshaften Ackerbauern und viehzüchtenden Nomaden. Seit Jahren nehmen Drogen-, Waffen- und Menschenschmuggel zu. Heute überlagern weitere todbringende Bedrohungen bereits existierende Konflikte und nähren sich aus ihnen: rücksichtslose Regime und Dschihadisten, die in allen Ländern des Sahel Fuß gefasst haben. Es könnten, ähnlich wie im Irak oder in Afghanistan, fast unbemerkt dschihadistische Emirate entstehen und die ganze Region noch weiter ins Chaos stürzen."

Für die NZZ hat Birgit Schmid mit dem palästinensischen Arzt und Friedensaktivisten Izzeldin Abuelaish gesprochen, der bei einem Angriff Israels auf Gaza im Jahr 2009 drei Töchter verlor, sich aber weiterhin für Frieden im Nahostkonflikt einsetzt. Fünf mal war er für den Friedensnobelpreis nominiert. Besonders versöhnlich klingt er allerdings nicht: "So beschuldigt er Israel nicht nur, jedes Augenmaß verloren zu haben, sondern er unterstellt der Regierung von Benjamin Netanyahu, die Palästinenser vertreiben zu wollen. Er spricht von einem Genozid. Dass Israel Transporte mit Hilfsgütern in den Gazastreifen hineinlässt oder die Bevölkerung vor Angriffen auffordert, ein Gebiet zu verlassen, kümmert ihn nicht. Der Bemerkung, dass die Hamas die eigene Bevölkerung als Schutzschild missbrauche, widerspricht er vehement. Er wolle nicht über die Hamas sprechen, sagt er: 'Die Hamas repräsentiert nicht das palästinensische Volk.' Er warnt vor Verallgemeinerungen. Die Palästinenser seien Säkulare, der Konflikt betreffe nur die Hamas und Israel. Auf den Einwand, dass die Leute auf den Straßen in Gaza gejubelt hätten am 7. Oktober und also das Massaker guthießen, geht er nicht ein. Widersprüche spült er mit einem Redeschwall weg."
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Europa

In Deutschland ist die Zahl der antisemitische Vorfälle seit dem 7. Oktober stark angestiegen, meldet die FAZ, nachdem der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein die Zahlen in Berlin vorgestellt hatte: "Über 2000-mal sei in Deutschland innerhalb von mehr als 100 Tagen ein Jude angegriffen, bedroht, beleidigt oder in Angst versetzt, sei öffentlich antisemitische Hetze verbreitet worden." Auch in Italien sieht es nicht besser aus, berichtet Karen Krüger, ebenfalls in der FAZ. "Noch nie wurde in Italien dem Holocaust-Gedenktag mit einer solchen Besorgnis entgegengeblickt wie in diesem Jahr. Nie hielt man das Risiko für antisemitische Vorfälle und antiisraelische Demonstrationen, die den Tag überschatten könnten, für größer. Die harte israelische Reaktion auf den 7. Oktober, die den Gazastreifen, wie der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, unlängst anprangerte, in eine 'von Kratern übersäte Mondlandschaft' verwandelt habe, hat auch in der italienischen Gesellschaft wieder die antijüdischen Stereotype vom rachsüchtigen Juden, der für das Leiden der anderen unempfänglich ist, an die Oberfläche gespült. Das Klima in Italien ist mittlerweile so vergiftet, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinde intern dazu aufforderten, nicht an den Feierlichkeiten zum 27. Januar teilzunehmen: Angesichts der Anfeindungen und anstatt sich weiterhin als Staffage für Gedenkveranstaltungen zur Verfügung zu stellen, solle man die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Erinnerung lieber Nichtjuden überlassen."

In der SZ denkt Julian Nida-Rümelin nicht nur über ein AfD-Verbot nach, sondern fordert die demokratischen Parteien auch auf, beim Thema "Migration" nicht länger wegzuschauen: "Der Zusammenhang zwischen einem Übermaß an illegaler und unregulierter Einwanderung und dem Erstarken des Rechtspopulismus liegt auf der Hand. Die AfD war dabei, als Partei zu sterben, als die Flüchtlingskrise 2015/16 eskalierte, begleitet von der mehr als fahrlässigen Behauptung der damaligen Bundeskanzlerin, man könne im 21. Jahrhundert staatliche Grenzen nicht mehr schützen. Der AfD hat diese Politik zu einem massiven Aufschwung verholfen. Die Tatsache, dass es seit 2015 bis in die Gegenwart dauerte, bis die Europäische Union begonnen hat, eine realistischere Migrationspolitik zu betreiben, ist ein politischer Skandal. Seit 2015/16 wusste man spätestens, welche Herausforderungen sich da für Europa auftürmen. Geschehen ist so gut wie nichts.
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Religion

Reinhard Bingener hat sich für die FAZ über die Studie des Verbundes ForuM zu sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche gebeugt. Die Zahlen sind weitaus niedriger als bei der katholischen Kirche, doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein, hält er fest: "Die Wissenschaftler des Verbundes ForuM, dem mehrere universitäre Forschungseinrichtungen angehören, sagten bei der Vorstellung ihrer Studie, dass sie nur die 'Spitze der Spitze des Eisbergs' identifiziert hätten. Sie beklagten sich über fehlende Zuarbeit der evangelischen Landeskirchen für die 3,6 Millionen Euro teure Studie, die von der EKD in Auftrag gegeben und aus Kirchenmitteln bezahlt wurde. Ihnen seien fast nur Disziplinarakten zur Verfügung gestellt worden, nicht wie zuvor vereinbart die Personalakten. ... Ein ForuM-Wissenschaftler sagte, hochgerechnet lägen die Zahlen der evangelischen Kirche vermutlich auf dem gleichen Niveau."

Der Betroffenenvertreter Detlev Zander kritisiert im Interview mit Spon nicht nur die schlechte Aktenlage, sondern fragt auch, wer die Angaben der Landeskirchen eigentlich kontrolliert hat. "Vertuschung wird in der Studie gar nicht thematisiert. Kein Verantwortlicher wird mit Namen genannt. Wer waren denn die Bischöfe zum Tatzeitpunkt? Stellt irgendwer sein Amt zur Verfügung? Es sind die Betroffenen, die gerade die Verantwortung übernehmen und im Beteiligungsforum versuchen, Reformen anzuschieben."
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Gesellschaft

Für die SZ hat sich Jens-Christian Rabe zum epischen Interview mit den Soziologen Hartmut Rosa und Steffen Mau getroffen. Mau hatte im letzten Jahr das viel beachtete Buch "Triggerpunkte" veröffentlicht, in dem er die These vertrat, die deutsche Gesellschaft sei weitaus weniger gespalten als vermutet. Nach den jüngsten Demos ist Mau verhaltener, vor allem aber Rosa widerspricht: "Ich fürchte, dass wir nicht so weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt sind, wie wir es gerne hätten", glaubt er und fährt fort: "Ich glaube, die Spaltung liegt, wenn man so will, nicht auf der Einstellungsebene, ob man für oder gegen Umweltschutz ist. Sie liegt in dem Gefühl, die staatlichen Autoritäten seien viel zu aktiv, sie bedrohen meine Welt. Auf der anderen Seite dominiert das gegenteilige Gefühl, der Staat tue viel zu wenig, unser Alltag ist zutiefst umweltzerstörerisch, er ist homophob, er beruht noch immer auf kolonialer Ausbeutung. Die Spaltung liegt für mich also noch unterhalb der Weltbilder, es geht eher darum, welche Beziehung zur Welt und zur Politik man fühlt." Zudem mache sich auch im akademischen Milieu eine Ablehnung der Leitmedien breit, konstatiert Rosa. So höre er oft: "'Die Mainstream-Medien konsumiere ich nicht mehr, das ist Regierungspropaganda. Ich lese die SZ, die Zeit und den Spiegel nicht mehr, und ich sehe die Tagesschau und die Heute-Sendung nicht mehr an, weil die alle das Gleiche sagen.'"
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Stichwörter: Rosa, Hartmut, Mau, Steffen

Medien

Im Welt-Gespräch geht der Fotograf Manfred Klimek mit Blick auf die Medienkritik noch einen Schritt weiter als Hartmut Rosa. Im deutschen Journalismus würden derzeit "zwei Gefühlshaltungen immer relevanter", die dem Journalismus nicht zuträglich sind, meint er: "Die erste Haltung wird geradezu zwanghaft geprägt vom Hang zur moralischen Belehrung - und das betrifft nicht nur linksliberale, sondern auch rechtsliberale Medien." Zudem sei der Journalismus von Angst geprägt: "Die Angst, keinen Platz auf der gesellschaftlich, moralisch und politisch richtigen Seite zu besetzen. Und die Angst, durch Auffälligkeiten, auch durch Ambivalenz, die zum Menschen gehört, derart aufzufallen, dass die eigene Karriere darunter leiden könnte. Dass diese Angst überhaupt greift, haben auch die Sozialen-Medien zu verantworten, der dort herrschende Gerichtshof und die Medienkrise generell, die ihre Ursachen nicht nur in den sozialen Medien findet - aber eben auch. Wir leben nicht mehr nur in Zeiten eines Journalismus, der ausschließlich von Wirklichkeiten erzählt und der lediglich Fakten aufführt, wie es früher meist gang und gäbe war; wir leben nun in einem Journalismus, der von Klickraten stärker dominiert wird als von verkauften Exemplaren und einer harten Auflage."

Der NDR-Untersuchungsbericht zum Fall Hubert Seipel liegt vor, Steffen Klusmann, ehemaliger Spiegel-Chefredakteur, der den Bericht verfasst hat, kommt zu dem Schluss, sowohl der NDR als auch andere Medien hätte Seipels Arbeit zu wenig hinterfragt, resümiert Christian Meier in der Welt: "Gleichwohl entlastet der Bericht, an dem auch NDR-Justiziar Michael Kühn gearbeitet hat, die Mitarbeiter des Senders.  (…) Was bedeutet, dass der NDR keine Klagen gegen die Produktionsfirma oder gegen Seipel selbst anstrengen wird. Diese seien wenig aussichtsreich. Die Firma, eine indirekte Tochter des NDR, sei von den Zahlungen an Seipel nicht von diesem in Kenntnis gesetzt worden. Ein Verdacht, dass Seipel für seine Arbeit aus einer weiteren Quelle bezahlt worden sei, das zumindest hätten Gespräche mit namentlich nicht genannten Mitarbeitern ergeben, sei nicht geschöpft worden. Und ein direkter Einfluss des Kreml auf die Inhalte der Filme sei ebenfalls nicht nachzuweisen."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel versucht Rolf Brockschmidt einen Überblick über die in Gaza bislang zerstörten Kulturstätten zu geben: "Zu den schmerzlichen Verlusten gehört auch das völlig zerstörte Zentralarchiv von Gaza-Stadt mit seinen Plänen historischer Gebäude, bedeutenden Handschriften und Büchern, ebenso wie die Stadtbibliothek von Gaza, die als das kulturelle Gedächtnis von Gaza gilt. Der International Council on Archives (ICA) hat seine Sorge über die Zukunft des Archivgutes von Gaza ausgedrückt und alle Seiten aufgefordert, sich an die Haager Konvention von 1954 zu halten. Die arabische Regionalgruppe von ICOMOS (International Council of Monuments and Sites) äußerte sich alarmiert über das Ausmaß der Vernichtung des palästinensischen Kulturgutes. (...) Aus der Mamlukenzeit sind inzwischen der Qasr al-Bascha von 1260, der Qissariya-Souk von 1329, die Ibn Uthman-Moschee von 1394 und der einzige Hammam von Gaza aus dem 15. Jahrhundert schwer beschädigt. Auch für die Weitergabe des kulturellen Erbes wichtige Kultur- und Handwerkszentren wurden zerstört oder schwer beschädigt, so der Bericht der ICOMOS-Regionalgruppe. Sie fordert deshalb von der internationalen Staatengemeinschaft Unterstützung für den Erhalt."

Laut neusten Dlf-Recherchen soll bei den Corona-Hilfen in der Kulturbranche weit mehr getrickst worden sein als angenommen. Zudem war nicht gewährleistet, dass für die Vergabe Verantwortliche nicht selbst über eigene Anträge entscheiden konnten, wie etwa im Fall der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, resümiert Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Die Stiftung war … sowohl Geldgeber als auch Zahlungsempfänger. Für 16 bewilligte Anträge gingen insgesamt knapp sechs Millionen Euro an die Stiftung und angeschlossene Institutionen. Dazu kamen 20,1 Millionen Euro, um die durch die Pandemie verminderten Einnahmen und zusätzliche Ausgaben aufzufangen. Von den 16 Anträgen wurden jedoch 13 von Stellen bewilligt, die mit der Stiftung in Verbindung stehen: neunmal war es die Stiftung selbst; viermal die Deutsche Digitale Bibliothek, die mit der Stiftung organisatorisch und personell eng verflochten ist. Die SPK weist Kritik zurück: Bei den neun Anträgen seien Antragsteller und Entscheider an unterschiedlichen Stellen der Stiftung angesiedelt gewesen, 'sodass hier eine inhaltliche, organisatorische und personelle Trennung vorlag'."

Aber: "Schon zweimal gingen die Versuche der DLF-Journalisten, vermeintlichen Missbrauch bei den Corona-Hilfen nachzuweisen, ins Leere - und auch diesmal sucht man nach einer wirklichen 'Smoking Gun'", kommentiert Jörg Häntzschel in der SZ: "Das Problem liegt tiefer, und es ist Jahrzehnte alt: Die Corona-Hilfen sind nur ein weiteres Beispiel von staatlicher Kulturförderung, in der Förderer und Geförderte viel zu eng verwoben sind. In der das Geld reichlich fließt, ohne dass man immer genau wüsste, wohin."

In der FAZ ist Claudius Seidl vor allem aufgefallen, dass mehr als zwei Drittel der Corona-Gelder für die Kultur an Kultureinrichtungen und Unternehmen gingen. "Nur 28 Prozent wurden direkt an Künstler oder Künstlergruppen ausgezahlt. Das allerdings liegt wohl, wie auch die meisten anderen Fehler, Doppelbuchungen und Unstimmigkeiten, weniger an den bösen Absichten irgendwelcher Akteure. Sondern vielmehr an der für Einzelpersonen fast undurchdringlichen Kompliziertheit des Verfahrens, die wiederum ihre Ursache im deutschen Kulturföderalismus hatte. Die Kulturhoheit der Länder ist unantastbar; der Bund hätte geradezu verfassungsfeindlich gehandelt, wenn er seine Fördergelder direkt an die Künstler ausgezahlt hätte. Das Geld musste also weitergereicht werden, an mehr als vierzig Organisationen, die dann Anträge bearbeiteten und Mittel verteilten."
Archiv: Kulturpolitik