Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von A.J. Liebling: Zwischen den Gängen. Teil 2

16.08.2007.
Nach der Forelle aßen Mirande und ich zwei Fleischgänge, da wir uns nicht im voraus entscheiden konnten, was wir vorziehen würden. Wir speisten eine prächtige daube provencale, weil wir treu der cuisine bourgeoise anhingen, und dann Pintadous - junge Perlhühner, einfach und zart gebraten, mit dem ersten Spargel des Jahres, um unsere Treue zur cuisine classique zu beweisen. Zu beiden Gängen tranken wir Roten, einen Petrus zur daube, einen Cheval Blanc zu den Perlhühnern. Mirande sagte, von Burgundern habe ihm sein Arzt abgeraten. Es war das erste Mal im Lauf unserer Bekanntschaft, daß er eingeräumt hatte, einen Arzt aufzusuchen, aber ich war wieder beruhigt, als er nach dem Essen anderthalb Flaschen Krug trank. Wir tranken zusammen drei - eine auf unsere Liebsten, eine auf unsere Nationen, eine aus Gründen der Symmetrie, und diese letzte ging aufs Haus.

Mirande war ein kleiner alerter Mann mit dem Gesicht eines Scotch-Terriers - weit vorkragende Augenbrauen und eine hohe Stupsnase. Er sah aus wie eine intelligente Version von Lloyd George. In jenem Sommer wollte er mit Madame B., seiner Theater-Protegee, ein neues Stück von Sartre herausbringen. Mit einem durch Madame B.s Theater junggehaltenen Verstand, mit einem von Madame G.s Restaurant behüteten Stoffwechsel schien Mirande auf mindestens zwanzig weitere Jahre gegen alle Eventualitäten gefeit. Dann würde er möglicherweise neue Protegees anwerben müssen. Am Sonntag nach unserer Wiederbegegnung traf ich ihn in Longchamp - auf einem Rennplatz, heißt das, wo die Fenster des Restaurants nicht auf die Bahn schauen und die Gäste sich auf das Wesentliche konzentrieren können. Da saß er, strahlend, umringt von Berühmtheiten und Champagnerkübeln, und entsandte immer wieder Stafetten von Dienstmännern, die auf die Tips setzten, welche ihm begeisterte Rennstallbesitzer nur zu gerne zwischen den Läufen zuraunten. Er war die Verkörperung eines glücklichen Menschen. (Ich selbst landete einen sehr schönen Coup, 27 zu 1.)

Der erste Umschwung von Mirandes Schicksalen betraf mich selbst so direkt, daß ich nicht sogleich bemerkte, wie ernst der Vorfall in sich war. Sechs Wochen später war ich wieder in Paris. (In diesem Jahr reiste ich häufig zwischen dort und London hin und her.) Am Abend der Rückkehr war ich allein und freute mich auf ein angenehmes Diner bei Madame G., deren Restaurant nur zweihundert Meter von dem Hotel am Square Louvois entfernt war, wo ich immer absteige. Madames Restaurant war weit mehr als ein Ort, wo man aß - obwohl man dies dort wunderbar tun konnte. Zuerst würde ich mich ein wenig mit der Besitzerin unterhalten, dann mit den Kellnerinnen Germaine und Lucienne, die das ursprüngliche Personal des Lokals darstellten. Als das Geschäft zu florieren begann, hatte man zusätzliche Kellner eingestellt, doch diese hatten keine vergleichbar ausgeprägten Persönlichkeiten. Madame war eine hochbusige Dame - beredt, mit dunklem, gelblichem Teint, großer Nase und glattem schwarzem Haar; sie ließ mich an eine Sarazenin denken. (Die Sarazenen erreichten die Gascogne im achten Jahrhundert.) Ihre Konversation war eine Chronik der Literatur und des Theaters - so gut wie ein Abonnement auf den Figaro litteraire, aber anspruchsvoller. Ihre Unterhaltung bewegte sich zwischen der Avantgarde und dem klassischen Geschmack, in Rufweite beider, und war angereichert mit den Namen all der Großen, die kürzlich dagewesen waren - Monsieur Cocteau, Gene Kelly, la Comtesse de Vogüe. Es war immer gut, den Eindruck zu erwecken, man höre dem allem genau zu, sonst könnte sie einem vielleicht eines Tages die letzte Portion Lerchen en brochette nicht mehr aufbewahren und sie stattdessen einem aufmerksameren Gast zuteilen. Mit Germaine und Lucienne - die ich schon gekannt hatte, als wir alle noch jünger waren, im Jahre 1939, zur Zeit des drole de guerre - flirtete ich nun lediglich pro forma ein wenig, aber die carte du jour war immer noch ein ernstes Thema: Wie hatte beispielsweise der dicke belgische Industrielle aus Tournai auf die caille vendangeuse reagiert - das Wachtel-Confit mit frischen Trauben? "Sie kennen den Herrn", sagte Germaine, "wenn es nicht ganz vorzüglich ist, nimmt er nur zwei Portionen. Aber wenn er dreimal nimmt, dann kann man sich wahrhaftig sagen ?" Sie und Lucienne sahen einander sehr ähnlich - kompakte kleine Frauen mit hohen Stirnen und Wangenknochen und strammen, muskulösen Beinen, die wie chasseurs a pied gingen, hundertdreißig Schritt die Minute. 1939 und wiederum 1944 war Germaine brünett gewesen und Lucienne blond, aber 1955 war auch Germaine zur Blondine geworden, und es fiel mir schwer, die beiden auseinanderzuhalten.

Unter meinen Mitgästen bei Madame G. stieß ich meistens auf irgendeinen Freund, den ich von früher kannte. Es ist riskant, sich für den ganzen Abend mit jemandem zu verabreden, den man jahrelang nicht gesehen hat. Das gilt besonders für das heutige Frankreich. Der fast peinlich amerikabegeisterte Bekannte aus der Zeit der Befreiung mag jetzt ein parteigehorsamer kommunistischer Schreiberling geworden sein, der idealistische junge Resistance-Journalist ein Leitartikler für das reaktionäre Tageblatt eines Textilmagnaten. Der Vichy-Apologet, dem man 1941 in Washington begegnet war, als er de Gaulle einen Verräter und eine Kreatur des britischen Geheimdiensts schimpfte, mag einem jetzt erzählen, daß der General der größte Glücksfall war, der Frankreich je zugestoßen sei - ein anderer, den man in London als Adjutant de Gaulles kannte, vergleicht diesen jetzt vielleicht mit Sulla, dem Zerstörer der Republik. Was die Frauen betrifft - wer will sagen, welche den Jahren widerstanden hat? Aber in einem guten Restaurant, das alle früher aufgesucht haben, kann man auch allen wiederbegegnen, denn so zahlreich sind die guten Restaurants nicht mehr, daß ein Franzose sich auf immer von einem verabschieden würde - falls er nicht pleite ist natürlich, und in diesem Fall würde es einen deprimieren, von seinen Mißgeschicken zu erfahren. Trifft man auf alte Freunde, die schon an ihren Tischen Platz genommen haben, hat man Gelegenheit, sie freundlich zu begrüßen und kurz prüfend zu mustern. Wenn sie einem immer noch gefallen, kann man sich weiter verabreden.

An dem fürchterlichen Abend, von dem ich hier spreche - dem eines schönen Junitages -, nahm ich keine Veränderung an Madame G.s äußerlich unauffälligem Restaurant wahr. Der Name - irgend etwas wie Prosperia - war noch derselbe, und da die Fensterscheiben von Leinenbehängen verdeckt waren, konnte man nicht hineinsehen. Auch beim Betreten des Lokals fiel mir zunächst nichts auf. Die Theke, die Tische, die kunstlederbezogenen Sitzbänke, das einfache Dekor mit seinen Spiegeln und rosa Marmorflächen - sie waren wie immer. Das Lokal war einst eine Cafe-Bar für kleine Angestellte gewesen, ehe Madame G. es von einer langen Reihe namenloser Besitzer übernahm und zu einem illustren Ort machte. Sie hatte das Essen und die Kundschaft ausgewechselt, nicht aber die Räumlichkeiten verändert. Es gibt in Paris Hunderte von identischen Fassaden und Inneneinrichtungen, von irgendeiner Firma Ende der zwanziger Jahre massenhaft hergestellt. Der Umstand, daß der Raum leer war, hätte mir zur Warnung dienen können, aber es war immerhin erst acht und draußen noch hell. Ich war ungewöhnlich früh gekommen, weil ich so hungrig war. Ein Mann, den ich nicht erkannte, trat händereibend auf mich zu und begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Ich dachte mir, es könne ein Kellner sein, der mich früher schon bedient hatte. (Die Kellner zählten, wie gesagt, nicht zu den einprägsamen Persönlichkeiten des Etablissements.) Er hatte mich an einen Tisch komplimentiert und ich hatte mich gesetzt, ehe ich die Falle ahnte.

"Madame geht es gut?" fragte ich höflich.

"Nein, Madame ist ein wenig krank", sagte er mit - wie mir nun klar ist - schuldbewußter Miene.

Er reichte mir eine carte du jour, die in der vertrauten lila Tinte auf dem vertrauten großen Bogen Papier mit Namen und Telephonnummer der Restaurants geschrieben war. Der Inhalt der Speisekarte jedoch hatte sich italianisiert, die Orthographie verschlechtert und die Preise hatten sich derart verringert, daß es ein Wunder gewesen wäre, wenn das Essen immer noch seinen außergewöhnlichen Charakter bewahrt hätte.

"Madame führt immer noch das Restaurant?" fragte ich scharf.

Ich sah nun, daß er ein Piemonteser von höchst ausweichendem Gebaren war. Er ging vom Reiben seiner Hände zu verstohlenem Ringen derselben über.

"Nicht ganz", sagte er, "aber wir machen dieselbe Küche."

Ich konnte in der verwischten Tintenschrift kaum etwas entziffern außer falsch geschriebenen Nudeln und sogenannten "escaloppinis" - Italiener, die Französisch nach Gehör schreiben, regredieren zu einer unbekannten Urform beider Sprachen.

"Versuchen Sie es mit uns", flehte der Mann, und törichterweise tat ich?s. Ich hatte Hunger. Vierzig Minuten später stampfte ich auf die Straße hinaus, dunkelpurpurn wie eine Aubergine vor Wut. Die Minestrone hatte aus Kohlfetzen in fettigem Wasser bestanden. Als ungefährlichstes Gericht in dem subalternen Katalog, in den sich das segensreiche Prosperia-Angebot unversehens verwandelt hatte, hatte ich mir cotes d'agneau ausgesucht. Diese stammten dann von einem ermatteten Bergziegenbock und waren in Maschinenöl abgesengt worden; die haricots verts der Beilage glichen den sich zersetzenden Strähnen eines falschen Bartes.

"Dieselbe Küche?" donnerte ich, als ich mein Geld auf die getürkte Rechnung schmiß, die zu überprüfen ich zu zornig war. "Sie halten mich wohl für einen Idioten!"

Ich bin mir sicher, daß der Schuft nickte, sobald ich ihm den Rücken gekehrt hatte. Das Restaurant hat seither mindestens noch einmal den Besitzer gewechselt.

Am anderen Morgen rief ich Mirande an. Er bestätigte mir, daß eine Katastrophe eingetreten war: Madame G. war erkrankt und hatte das Restaurant geschlossen. Schlimmer noch: Sie hatte es ganz und gar verkauft und sich für immer zurückgezogen.

"Was ist denn mit ihr?" fragte ich in dem Tonfall, der einer tödlichen Krankheit angemessen ist.

"Ich glaube, es war der Versuch, Simone de Beauvoir zu lesen", sagte er. "Das Herz."


Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages
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