Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
14.06.2004. In der Lettre untersucht Daniel Accursi das höchste Stadium der Globalisierung - die Entfesselung der Religionen. Im Espresso beschreibt Andrzej Stasiuk die polnische Mafia. Im Jornal do Brasil erzählt ein Buchhalter, wie man in Rio spazieren geht. In der Kommune warnt Pascal Bruckner vor dem Sozialismus der Reichen. Atlantic Monthly fragt sich, warum die besten Wahlkampfspots nie gezeigt werden. Outlook India entdeckt indische Traditionen religiöser Toleranz. Die New York Times Book Review versteht James Joyce' neuen Wälzer nicht.

Lettre International (Deutschland), 01.07.2004

Der Philosoph, Pataphysiker (mehr dazu hier und hier in einem Interview mit Boris Vian) und ehemalige Gymnasiallehrer Daniel Accursi beschreibt in einem langen, auszugsweise ins Netz gestellten Essay das höchste Stadium der Globalisierung - die Entfesselung der Religionen: "Der Fall der Berliner Mauer bezeichnet nicht das Ende der Geschichte, sondern den Tod der politischen Ideologien. Diese Erschütterung verherrlicht den Triumph des Kapitalismus. Er brüllt wie ein Löwe am Sambesi und reißt sich los. Und der Wanst frohlockt. Aber was kommt nach der politischen Gehirnzermantschmaschine? Der religiöse Glaube, weiß Gott. Eilfertig füllt er die maßlose Leere aus und präsentiert sich als Retter. Er verkündigt die schreckenerregende Auferstehung der monotheistischen Götter. In der finsteren Nacht schneiden Allah, Jahwe und Gottvater einander die Gurgel durch. Warum? Weil jeder Gott danach trachtet, zum einzig einzigen Gott zu werden, indem er sich des Glaubensmarktes bemächtigt. Das höchste Stadium der Globalisierung."

Auch der Politologe Stephen Eric Bronner ("Sozialismus neu verstehen"versucht in einem auszugsweise veröffentlichten Essay den "neuen Antisemitismus" zu verstehen: ""Neu' ist am 'neuen Antisemitismus' nur, dass die Juden nicht mehr untereinander gespalten und nicht mehr wehrlose Opfer einer christlichen Welt sind. Die Juden haben heute ein mächtiges Heimatland, mächtige Lobby-Organisationen in allen westlichen demokratischen Staaten und mächtige Alliierte wie die USA."

Weitere Artikel: In einem trocken, aber sehr interessanten Text unter dem Titel "Das tägliche Öl" (hier ein Auszug) verfolgt Richard Manning die Nahrungskette bis zum Irak zurück. Der australische Autor David Malouf schreibt über europäisches Erbe und ozeanisches Lebensgefühl (Auszug). Und Claudia Schmölders denkt über "Europas Liebesneigung" nach (Auszug).

Espresso (Italien), 17.06.2004

In schneidendem Tonfall erklärt Andrzej Stasiuk (mehr), warum Polen in den Irakkrieg gezogen ist. Traditioneller Größenwahn, neue Unsicherheit und vor allem die Mentalität der regierenden Postkommunisten seien dafür verantwortlich. "Ihr Horizont ist nie weiter gewesen als die Interessen der eigenen Partei. Ihre Politik dient nur der Machterhaltung. Das Regieren haben sie im kommunistischen Staat gelernt, in Zeiten, in denen ihnen genereller Hass und Befremden entgegenschlug. Die ganze Welt war gegen sie. Psychologisch betrachtet ähnelten sie mehr einer Mafia als einer politischen Partei. All diese Gewohnheiten, Neigungen und Charakteristika haben sie ins demokratische System mitgenommen. Außerdem wohnt ihnen das unbedingte Bedürfnis inne, Partner zu suchen, die stärker sind als sie, die sie bei Bedarf schützen werden, offene Rechnungen begleichen können und das Tohuwabohu, das sie angerichtet haben, wieder in Ordnung bringen."

Überall versucht man, politisch korrekt zu sein. In Italien versucht die politische Klasse derzeit eher, sich mit Beleidigungen zu überbieten, beobachtet Umberto Eco amüsiert in seiner Bustina. "Wenn unsere Politiker seinerzeit von einem Blatt ablasen und sagten: 'Es scheint offensichtlich, dass man in einer um Konvergenz bemühten und vielleicht sogar einer parallelen Politik eine asymmetrische Lösung bevorzugt, die auch einzelne Überschneidungen eliminiert' , bevorzugt man heute eher die Formulierung: 'Dialog? Zum Teufel mit diesen dreckigen Hurenböcken!'" Das Finale furioso des Artikels bilden etwa hundert Paradebeispiele der italienischen Schimpfwörterkultur, von spaccamerda bis furfantello, die leider nicht annähernd ins Deutsche zu übersetzen sind, aber schon beim bloßen Aussprechen Freude bringen.

Weitere Artikel: Wenn Bill Clintons Autobiografie am 30. Juni erscheint (Amazon hat sie schon früher), wird sie alle Rekorde brechen, prophezeit Enrico Pedemonte und beschreibt den Hype um die Erinnerungen des drittbeliebtesten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten. Alberto Dentice analysiert die neue Generation der weiblichen Popstars, die, sagen wir, sich wieder über ihr Geschlecht definieren. Monica Maggi freut sich über die Rückkehr der italienischen Nationalheldin Cicciolina, mittlerweile 52-jähriger Ex- und Wieder-Pornostar, aus der Politik.
Archiv: Espresso

The Atlantic (USA), 01.07.2004

Warum sind Wahlwerbespots immer so schlecht? Joshua Green wundert sich, warum sich seit den fünfziger Jahren weder die Texte noch der Ton verändert haben. Dabei gebe es durchaus Werbeleute, die neue Formate geschaffen hätten. Zum Beispiel John Brabender, dessen Spot "Ski Patrol" für eine Bush-Kampagne angedacht war, aber nie ausgestrahlt wurde. "Es beginnt mit einer Kameraeinstellung auf blauen Himmel und unverfälschte Alpenlandschaft. 'Howard Dean wurde ein Aufschub des Wehrdienstes gewährt, nachdem er in einem Musterungsbüro mit einer Röntgenaufnahme aufgetaucht war, die belegte, dass er einen schlimmen Rücken hatte', sagt der Erzähler mit der Gott-Stimme. Plötzlich schießt ein Skifahrer einen schneeigen Abhang hinunter und fährt meisterhaft im Slalom den Berg hinunter. 'Im selben Jahr fuhr Dean achtzigmal Ski - achtzigmal -, so dass er ein fabelhafter Skifahrer wurde und der perfekte Oberbefehlshaber ... für den Fall, dass wir gegen die Schweiz in den Krieg ziehen würden.'"

Weitere Artikel: "Wir wissen, dass wir viel töten, viel gefangennehmen und viele Waffen beschlagnahmen. Das Einzige, was wir nicht wissen, ist, ob das das Gleiche wie Gewinnen ist." Angesichts dieser (natürlich inoffiziellen) Aussage von US-Verteidigungssekretär Donald Rumsfeld macht Bruce Hoffmann klar, vor welchem Problem die US-Streitkräfte im Irak stehen. Was Marc Bowden an den Bildern von Abu Ghraib mehr als alles andere schockiert, ist die Vorstellung, Donald Rumsfeld habe George Bush nicht von der Existenz der Bilder informiert - obwohl er wusste, dass sie publik werden würden -, weil sie ihn nicht schockierten. Laura Secor empfiehlt den UN-Pragmatiker Lakhdar Brahimi als den Mann, der im Irak gebraucht wird. Joshua Micah Marshall mutmaßt, dass John Kerrys Außenpolitik der von George Bush Senior sehr ähneln würde.

Buchbesprechungen: Tom Carson stöhnt über Teenager-Studien, die weitaus dümmer (und propagandistischer) sind als die Teenager selbst. P. J. O'Rourke kann keine lärmenden konservative Talkshows mehr sehen und bemerkt dabei, dass es Mode geworden ist, zu schreien. In beste idealistische Laune fühlt sich Christopher Hitchens von Isaac Deutschers inspirierter - und dreibändiger - Trotzki-Biografie ("The Prophet Armed: Trotsky 1879-1921/ The Prophet Unarmed: Trotsky 1921-1929/ The Prophet Outcast: Trotsky 1929-1940) versetzt, und das nicht zuletzt, weil Trotzki hier als das erscheint, was er war: ein "prophetischer Moralist". Ebenfalls mit großem Interesse hat Robert Conquest Simon Sebag Montefiores Stalin-Biografie ("Stalin: The Court of the Red Tsar") gelesen, in der deutlich wird, welche "geistige Schwächung" mit dem Stalinismus einherging.

Nur im Print: Robert D. Kaplan hat die ersten Einheiten der Marines begleitet, die nach der Ermordung von vier Amerikanern Falludja stürmten.
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 21.06.2004

Ashis Nandy fügt der andauernden Debatte um das Für und Wider des Säkularismus in Indien eine bemerkenswerte Note hinzu: Ihm zufolge ist es nämlich gerade der Säkularismus (eine europäische Exportideologie, wie er ausführt), der Hindu-Nationalismus und christlichen Fundamentalismus befördert, weil er den Religionen keinen Rahmen geben kann. Dabei verfüge Indien über indigene, ländliche - und leider, bedauert er, als Aberglaube abgetane - Traditionen religiöser Toleranz, die es zu respektieren und aus denen es zu lernen gelte.

Die Titelgeschichte: Nachdem die Nachwahlwochen zunächst im Zeichen derer standen, die das Land nicht regieren (Sonia Gandhi, Ex-Premier Vajpayee), richtet Outlook jetzt die Aufmerksamkeit auf die gewählten Volksvertreter - und erschrickt sich: Nicht weniger als 100 Abgeordnete des indischen Parlaments, informiert Bhavdeep Kang, sind schon mal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen oder stehen sogar aktuell unter Anklage, unter anderem wegen Mordverdacht und Korruption. Sechs besetzen gar Ministerposten im neuen, von der Kongresspartei geführten Kabinett.

Weitere Artikel: Charubala Annuncio hat sich unter Indiens Yuppies gemischt und festgestellt, dass sie sich für dieselben Dinge interessieren wie Yuppies weltweit: Kokain und Alkohol. Namrati Joshi stellt den jungen Filmemacher Farhan Akhtar und dessen neuen Film "Lakshya" vor. Und Bhaichand Patel porträtiert Vir Sanghvi, Indiens besten Restaurantkritiker (hier seine aktuelle Kolumne aus der Hindustan Times.)

Nur im Netz: Aus Anlass des Todes von Ronald Reagan hat die Redaktion keinen Nachruf in Auftrag gegeben, sondern einen Auszug aus Noam Chomskys 1992er Buch "Deterring Democracy" auf die Seite gestellt. Darin heißt es, vernichtend und milde zugleich: "Reagans Pflicht bestand darin zu lächeln, mit angenehmer Stimme vom Teleprompter abzulesen, den einen oder anderen Witz zu erzählen und das Publikum bei Laune zu halten. (...) Er schien die Sache zur Zufriedenheit seiner Zahlmeister zu erledigen und Spaß daran zu haben."
Archiv: Outlook India

Jornal do Brasil (Brasilien), 13.06.2004

"Mit langen Schritten ist es möglich, die Avenida Rio Branco in einer halben Stunde von einem Ende zum anderen entlangzulaufen". Domingo, die Sonntagsbeilage der brasilianischen Tageszeitung Jornal do Brasil, wartet mit einer schönen Reportage über eine der Hauptschlagadern Rio de Janeiros auf. Autorin Fernanda Zambrotti hat sich dort, mitten im Zentrum der Millionenstadt, umgesehen und beispielsweise von einem Buchhalter beraten lassen, der sich gut auskennt: "Auf der linken Straßenseite gehe ich nicht, weil dort die Überfälle stattfinden. Auf der rechten Seite ist wegen der Straßenhändler alles viel konfuser, aber wenigstens gibt es dort keine Diebe. Zwischen 11.30 und 13.00 Uhr ist es ganz schlimm".

Außerdem stellt Domingo den Schriftsteller und Lastwagenfahrer Henrique Lessa vor. Der beschloss Anfang der siebziger Jahre seinen Job als Bankangestellter an den Nagel zu hängen, um einem Wunschtraum der großen brasilianischen Schriftstellerin Rachel de Queiroz zu folgen: "Wenn ich ein Mann wäre, würde ich alles auf eine Karte setzen, einen Lastwagen kaufen und mich auf den Weg machen". So romantisch, wie sich De Queiroz dieses Dassein darstellte, war es dann allerdings doch nicht, wie Lessa bald herausfand. Trotzdem blieb er dabei und sammelte Material für bislang vier Bücher, die dem mittlerweile 74-jährigen nicht nur einen Literaturpreis mit dem schönen Namen "Reife Talente" einbrachte, sondern auch eine enge Freundschaft mit ebenjener Rachel de Queiroz, die vergangenes Jahr starb.

Eine weitere Beilage der Zeitung, Caderno B, steht ganz im Zeichen des nahenden Geburtstages von Chico Buarque, einem der wichtigsten Songwriter Brasiliens, der mit seinen zärtlich-bösen Liedern in den sechziger und siebziger Jahren nicht nur der eigenen Militärdiktatur zusetzte, sondern auch das Lebensgefühl ganzer Intellektuellen-Generationen Lateinamerikas mitprägte. Jornal do Brasil hat so ziemlich alles zusammengetragen, was es über ihn zu wissen gibt. Indes wird in der Kulturbeilage Ideias der gerade in Brasilien weilende britische Agitator, Schriftsteller und Künstler Stewart Home interviewt. Der hat in den Neunzigern schon einmal, allerdings erfolglos, zu einem dreijährigen Kunststreik aufgerufen und ist weiterhin Befürworter des systematischen Plagiats. Außerdem hat er sich vorgenommen, "ein Buch zu schreiben, so gewalttätig wie die Bibel". In den Buchbesprechungen wird über den brasilianischen Tellerrand hinausgeschaut und der gesamte portugiesische Sprachraum erforscht, etwa in Rezensionen der neuen Werke des Portugiesen Rui Zink, des Angolaners Pepetela und der Mozambikanerin Pauline Chiziane.

Kommune (Deutschland), 01.06.2004

"Ökonomie ist auch eine der Möglichkeiten menschlicher Emanzipation", sagt der französische Essayist Pascal Bruckner im Gespräch mit Marko Martin und meint damit durchaus die kapitalistische, von der er ganz gern noch mehr durchgesetzt sehen würde, vor allem in den Chefetagen: "Was wir jetzt beobachten, und zwar weltweit, ist eine Art Sozialismus der Reichen, wo ab einer gewissen Gehaltsstufe eben jenes Konkurrenzprinzip außer Kraft gesetzt wird. Denkt man das zusammen mit George Bushs Steuergeschenken für die allerreichsten Amerikaner oder der französischen Tradition, den Absolventen der grandes ecoles den sofortigen Zugang zu allen möglichen Chefetagen zu garantieren, dann wird man Zeuge des Entstehens einer neuen Kaste, die für mich durchaus feudalistische Züge trägt... Es wäre beruhigend, könnte man sagen, dass sich all dies vor allem auf Frankreich beziehe, ein Land mit einer langen aristokratischen Tradition, die auch in der Republik fortgeführt wurde, aber nein: Selbst die angelsächsischen, angeblich so ultraliberalen Länder werden auf höchster Ebene von dieser Piraterie heimgesucht, von Deutschland ganz zu schweigen."

Interessantes auch in den weiteren Artikeln: Gleich zwei diskutieren den neu-alten Antisemitismus in Europa. Der Schriftsteller Richard Wagner liefert ein kleines dialektisches Lehrstück und erklärt den Antisemistismus als typische europäische "Denkfigur der Beschuldigung des Fremden". Schuld an seinem neuen Erstarken sind die Osteuropäer und die islamische Zuwanderung. Hermann Kuhn vermutet handfeste Gründe hinter dem europäischen Druck auf Israel: "Der islamische Fundamentalismus wird zu Recht als Gefahr angesehen; es lohnt sich vielleicht, ihm Verständnis für die 'Ursachen des Terrors' zu signalisieren, um nicht selbst ins Visier zu geraten." Der Schriftsteller Peter Mosler reist durch das geteilte, wenn nicht zerrissene Zypern. Der kosovarische Politikwissenschaftler Shkelzen Maliqi fordert die Entkolonialisierung des Kosovo. Dick Howard erklärt den Unterschied zwischen der republikanischen Demokratie der USA und den demokratischen Republiken in Europa, wozu er offenbar auch die Monarchien rechnet.
Archiv: Kommune

Times Literary Supplement (UK), 12.06.2004

Ja, es gibt sie, die australische Philosophie, allerdings hat David S. Oderberg dank James Franklins australischer Philosophiegeschichte "Corrupting the Youth" den "wahrscheinlich zutreffenden" Eindruck gewonnen, "dass die Geschichte der Philosophie in Australien eine Geschichte von aneinandergereihten Affären ist (im amourösen und politischen Sinne)". Doch über allen steht der Ex-Bolschewist, Ex-Trotzkist und schließlich Freidenker John Anderson, dem wir zwei Grundsätze verdanken: "Ein Theoretiker kann keinerlei Begrenzung der freien Rede und akademischen Freiheit anerkennen und hat das Recht, so blasphemisch, obszön und aufrührerisch zu sein wie er will". Und "Ich mag keine Studenten, die mir freche Antworten geben."

Weiteres: Schlichtweg einzigartig, berauschend und furchtlos findet Tim Flannery James und Margarita Bowens Geschichte des "Great Barrier Reef". Voll und ganz zufrieden ist Keith Miller mit Alan Bennetts neuem Stück "The History Boy", das im Lyttelton Theatre aufgeführt wurde. Allein David Nokes stöhnt über Raymond Stephansons Untersuchung zu männlicher Sexualität und Kreativität im 17. und 18. Jahrhundert "The Yard of Wit": Auf jeder Seite drohe das Buch "in die Diskussion über den transzendentalen Signifikanten des phallozentrischen Diskurses des Patriarchats" hinabzusteigen.

Economist (UK), 12.06.2004

Diese Ausgabe steht ganz im Zeichen von Ronald Reagan, dem "Überraschungs-Sieger des Kalten Krieges". Das mit dem Sieger jedoch, meint der Economist, ist so einfach nicht. Denn Reagan habe den Kommunismus nicht zu Fall gebracht, sondern lediglich dessen Ende beschleunigt. Wie aber hat er das gemacht? "Weil er sich grundlegend amerikanisch verhielt: lässig, stets zuversichtlich, zäh wie Schuhleder, wenn es darauf ankam. Weil er seine Zuhörer zu Tränen rührte, mit Reden, die für ihn geschrieben wurden von Redenschreibern, die wussten, welche Sätze ganz natürlich über seine Lippen kommen würden. Doch vor allem weil er wusste, dass bloße Vernunft, so wichtig sie auch sein mag, gerade mal die Hälfte von bedeutenden Entscheidungen ausmacht. Man braucht auch gutgeerdete Instinkte, Gefühle, oder wie auch immer man den anderen Teil des Geistes nennen will. 'Ich hab's im Urin', sagte Reagan wieder und wieder, wenn er überlegte, was zu tun und zu sagen war."

In einem weiteren Artikel erklärt der Economist, inwiefern Ronald Reagan eine neue Art von Konservativismus ins Leben gerufen hat. Aller guten Dinge sind drei. Darum: Wer diese Woche gestorben ist, muss sich hinten anstellen. Denn der Economist liefert einen vergleichsweise überraschenden Nachruf, in dem er Ronald Reagans Erfolg als Präsident auf sein Talent zum Schauspielern zurückführt: "Auf den D-Day- Stränden 1984 sprach er mit der Ergriffenheit eines alten Soldaten, obwohl er nie gekämpft hatte; als die Challenger 1986 explodierte, fand er genau die richtige Mischung aus Leid, Erschütterung und Trost. Und sein besonderes Gefühl fürs Radio verdankte er seiner jahrelangen Arbeit als Sportkommentator bei einem lokalen Radiosender in Iowa, wo er seine Zuhörer mit Spielberichten fesselte, die er aus einer handvoll Telegrammen zusammengeklaubt hatte, und von Spielen, die er niemals gesehen hatte."

Weitere Artikel: Das D-Day-Jubläum hat die Beziehungen zwischen Frankreich und den USA nur scheinbar aufgewärmt, befindet der Economist. Auf keinen Fall aber sollten Franzosen der Illusion eines Wunschpartners John Kerry aufsitzen. Die immer zahlreicheren Klagen wegen Diskriminierung von Frauen in Führungsetagen liest der Economist als Anzeichen dafür, dass die Gleichberechtigung wächst, warnt aber gleichzeitig vor zuviel - kontraproduktiver - political correctness. Gelobt wird Carl Honores Manifest für die Langsamkeit ("Praise of Slowness"). Gespottet wird über den irischen "Bloomsday"-Hype. Und schließlich rät der Economist dem Riesen Microsoft, was er mit seinem Geld (schlappe 56 Milliarden Dollar) machen soll.
Archiv: Economist

Haaretz (Israel), 11.06.2004

"Wenn Moshe Feldenkrais heute leben würde, würde man ihn als einen New Age Gott sehen", meint Aviva Lori. Diesen Sommer wäre der promovierte Physiker und Bewegungswissenschaftler hundert Jahre alt geworden. Mit 14 Jahren wanderte er aus der Ukraine nach Israel ein, wurde später der erste jüdische Judoka mit schwarzem Gürtel und machte als persönlicher Trainer den alternden Premier David Ben-Gurion fit. Selbst Telefonanrufe des amerikanischen Präsidenten Eisenhower konnten Ben-Gurion nicht von seinem Training abhalten, das später als eine nach dem Urheber benannte Trainingsmethode für Körper und Geist international bekannt wurde. Das Zentrum der Bewegung liegt heute in Amerika, 7000 Feldenkrais-Lehrer haben bei der "International Feldenkrais Federation" ein Lehrzertifikat erworben. Aber die Inhalte haben sich anscheinend weiterentwickelt: "Wenn Feldenkrais heute das Zertifikat erwerben wollte, könnte es sein dass er durchfallen und von der Vereinigung nicht akzeptiert würde", glaubt Lori.

Weitere Artikel: In der Titelgeschichte berichtet Tamar Rotem von alleinstehenden religiösen Frauen in Israel, die sich trotz aller Vorurteile und Widerstände in ihren Gemeinden für ein Kind durch eine künstliche Befruchtung entscheiden. Gideon Levy beschreibt den Wiederaufbau des zerstörten Jenin und fragt schockiert: "Gibt es ein anderes Stadtviertel im Universum, in dem sich die Straßen an die Größe von Panzern angepasst haben?" Shahar Smooha berichtet über das Mossawa Arab Rights Zentrum, das gegen anti-arabische Agitation auf israelischen Webseiten protestiert. Dania Karpel erzählt die Geschichte einer geheimnisvollen Villa in Tel Aviv. Im Familienporträt die Baruchs, die in dem Moshav Kelachim im Negev wohnen.
Archiv: Haaretz

Spiegel (Deutschland), 14.06.2004

Erich Follath hat drei Selbstmordattentäter in israelischen Gefängnissen besucht, deren Attentate gescheitert sind. Unter anderem den 16-jährigen Mahmud: "'Um gleich am Anfang eines klarzustellen: Ich schäme mich', sagt Mahmud mit seiner sanften, fast schüchternen Stimme. 'Ich schäme mich, dass ich noch am Leben bin und es mir nicht gelungen ist, Dutzende Juden in den Tod zu reißen.'" Ein anderer erklärt dem Reporter mit "der Bitte um Weiterleitung an die Gefängnisverwaltung: 'Seit letzter Woche haben wir einen neuen israelischen Koch', sagt der Geistliche. 'Er hat die Tomaten rationiert. Und es ist ganz und gar unerträglich, mit wie viel Pfeffer er würzt.'"

Außerdem: Alexander Osang begleitet den ehemaligen amerikanischen Diplomaten Joseph Wilson auf seiner Lesereise durch die USA. Wilson ist seit seiner Aufdeckung der Ente vom irakischen Urandeal, der anschließenden Enttarnung seiner Frau als CIA-Agentin und dem Erscheinen seines Buches "Politik der Wahrheit" (Leseprobe) die glamouröseste Symbolfiguren des Protestes gegen die Politik der Bush-Regierung. Zu lesen ist auch ein Interview mit Janet Jackson, die die Aufregung um ihren nackten Busen absurd findet.

Im Print diesmal: Matthias Matussek liefert einen Beitrag zum inzwischen hundertjährigen Dubliner Joyce-Kult. Ulrike Knöfel stellt die in Auschwitz ermordete Künstlerin Charlotte Salomon vor. Und Joachim Kronsbein porträtiert die Dirigentin und "heißeste Nummer der Barockmusik" Emmanuelle Haim.

Der Titel füllt das offenbar beginnende Sommerloch so: "In einer abgelegenen Bucht vor Panama erforschen Unterwasserarchäologen das wohl älteste Wrack, das je in der Neuen Welt gefunden wurde. Es gibt Indizien, dass dies die 'Vizcaina' des Christoph Columbus gewesen sein könnte."
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 13.06.2004

"Einige wenige intuitive, sensible Visionäre mögen 'Ulysses', James Joyce' neuen Wälzer begreifen und verstehen, ohne einen Trainingskurs zu absolvieren, aber der durchschnittlich intelligente Leser wird wenig oder gar nichts herausbekommen - selbst bei genauer Lektüre, man möchte fast sagen Studium - außer Verwirrung und ein Gefühl von Ekel." Am 16. Juni jährt sich der Bloomsday zum hundertsten Mal, was die New York Times Book Review veranlasst, ihr stolzes Archiv zu bemühen und uns Joseph Collins' lesenswerte Orginalbesprechung des Klassikers von James Joyce aus dem Jahr 1922 zu präsentieren, gefolgt von Sean O'Faolains Gedanken zum Jubiläum 1954, um schließlich John Banville für die Gegenwart sprechen und Joyce unter anderem als Gründervater der irischen Tourismusindustrie würdigen zu lassen. Auch im Magazin ist Bloomsday: Jonathan Wilson porträtiert die jüdische Gemeinde Dublins, die wieder wächst, selbst wenn Leopold Blooms Welt langsam verblasst..

Der englische Literaturkritiker und frisch bestallte Oxford-Professor für Poesie Christopher Ricks hat sich den Dichter Bob Dylan vorgenommen und dessen Texte eingehend untersucht. Dabei herausgekommen ist, meint ein zu gleichen Teilen befremdeter und begeisterter Jonathan Lethem, "entweder die intimste rock-kritische Untersuchung, die je veröffentlicht wurde, oder die dümmste, oder beides..." Ricks' Methode nenne sich "Close Reading" und "wird bei näherer Betrachtung in Ricks' Händen zu einem lebhaften Sport, voller verführerischer Anspielungen, neckischer Exkursen, freiem philosophischen Sinnieren und Scherzen zum Aufstöhnen." Dazugestellt ist ein Artikel über Ricks von Charles McGrath, die Musikerin Lucinda Williams (mehr hier und hierwürdigt ihren Kollegen Dylan, und Ricks selbst spricht schließlich über die Musik seines Helden.

Weitere Besprechungen: Recht zufrieden ist David Gates mit "Moanin' at Midnight" (erstes Kapitel), James Segrests und Mark Hoffmans Biografie der flüchtigen Blues-Größe Howlin' Wolf. Auf "unterhaltsame" Weise, verspricht Joe Klein, beschäftigt sich Greg Kot mit dem Musiker Jeff Tweedy, der mit Wilco gegen den Mainstream zu schwimmen versucht. David L. Ulin schwärmt von der "unerwarteten Tiefe", die er in Geoff Nicholsons Satire "The Hollywood Dodo" (erstes Kapitel) entdeckt hat. David Frum schließlich ist Walter Russell Mead dankbar, obwohl der Bush in seinem Buch "Power, Terror, Peace and War" bescheinigt, bisher alles richtig gemacht zu haben. Denn damit zeigt Mead vor allem, notiert Frum, dass "es die Opposition bisher noch nicht fertig gebracht hat, eine kohärente und überzeugende Alternative zu präsentieren".

Im New York Times Magazine untersucht James Traub in einer dieser profunden Riesenreportagen die nukleare Bedrohung im Allgemeinen und die Probleme mit Irans Nuklearprogramm im Speziellen. Die USA glänzen mit einer recht ambivalenten Haltung. "Viele Staaten ohne Nuklearwaffen beschweren sich darüber, dass die USA neue Bestimmungen anstrebt, um andere daran zu hindern, überhaupt Atomenergie zu nutzen - aber zugleich selbst offen die Vereinbarung zur Abrüstung verletzt. Darüber hinaus hat die Bush-Regierung damit begonnen, eine neue Generation taktischer nuklearer Waffen zu entwickeln. Zeugt das nicht, wie die Iraner behaupten, von einer Doppelmoral?

Außerdem porträtiert Jonathan Mahler den Militäranwalt Charles Swift, der die Häftlinge in Guantamo besser verteidigt als das der Regierung lieb ist. Und Helen Epstein erklärt, warum der Kampf gegen Aids in Afrika nicht vorangeht.
Archiv: New York Times