Vom Nachttisch geräumt

Das Bild, das man von sich machen lässt

Von Arno Widmann
22.12.2016. Musa pensosa oder wie man von antiken Bildhauern lernen kann, wie man beim Denken auszusehen hat.
Wer beim Fotografen ist, der muss sich sagen lassen, dass für ein gutes Porträt der Kopf nicht genügt. Er muss seine Hand, seine Finger mit ins Spiel bringen. Zum Beispiel soll er, so sagt ihm der Profi, den Ellbogen aufstützen, das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen oder aber die Wange mit Daumen und Zeigefinger abstützen. Das sieht immer affig aus. Kein Mensch, der nicht posiert, sitzt so da. Ich mache mich seit Jahrzehnten lustig über Menschen, die sich von einem Fotografen in solche Positionen drängen lassen und ich beschimpfe die Fotografen. Ich habe autoerotische, also masturbatorische Leidenschaften sich darin darstellen sehen wollen. Erst jetzt habe ich entdeckt, gegen welche gewaltige abendländische Tradition ich da löcke. Vor mehr als zehn Jahren gab es im Colosseo in Rom eine Ausstellung, deren Katalog ich erst jetzt in die Hände bekam: "Musa pensosa - L'immagine dell'intellettuale nell'antichità". Ich kannte bisher nur ein paar sehr schöne Arbeiten über die notwendige Hässlichkeit des Intellektuellen, durchexerziert an den Sokrates-Darstellungen der Antike. Alt und verknautscht, betrunken wohl auch und nicht ganz reinlich - um mich zurückhaltend auszudrücken -: So sah die Antike den alten Intellektuellen.

Ganz anders aber die Musen. Entzückende junge Frauen. Nehmen Sie Polyhymnia. Sie ist die Muse der Hymnendichtung. Bei Wikipedia heißt es: "In der bildenden Kunst der Antike wird Polyhymnia als ernste und nachdenkliche Frau und meistens ohne Attribute dargestellt. Oft legt sie den Finger an den Mund oder stützt das Kinn in die Hand oder den Ellbogen auf einen Säulenstumpf." Bei dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag sieht man sie auch exakt so dargestellt auf einem Sarkophag des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts. Ich hätte es also längst wissen können. Aber oft dauert es bis zum Naheliegenden besonders lang. Im besagten Katalog finden sich neben den Musen auch Männer in der genannten Haltung. Besonders auffällig ist ein sitzender Schauspieler aus einem Fresko in Pompei der mit in die Hand gestütztem Kopf sein Gegenüber betrachtet, geradeso wie einer das heute macht, wenn er dabei fotografiert werden soll. Mit anderen Worten: Der Herr post (von posieren). Er tat das vor 2000 Jahren nicht anders als Sky DuMont es heute tut. Vielleicht nahm auch er das schon ironisch.



Ganz frei davon scheint die nachdenkliche Penelope auf einer Vasenmalerei, aus dem Etrurien des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Sie stützt ihre rechte Wange mit dem Rücken der rechten Hand und schaut unglücklich, freilich so jung, dass man sich fragt, ob sie überhaupt schon auf der Welt war, als Odysseus ihr das Ehebett zimmerte. Aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung gibt es einen Sarkophag, auf dem ein alter Mann, der einem jungen zuhört, Kinn und Bart berührt wie wir es auch heute noch tun sollen. Bei diesem Sarkophag streiten sich die Gelehrten, ob es ein junger Poet sei, der mit seiner kleinen Schriftrolle zwischen einer Muse und einem Philosophen steht, oder ob das der junge Jesus sei, der - ja wem? - die Schrift erklärt. Wer den Katalog liest, wird darüber aufgeklärt, dass es in der römischen Kunst das Motiv des "klugen Kindes" schon lange gab, bevor das Lukasevangelium und Apokryphen vom Auftritt des 12jährigen Heilands im Tempel erzählten.

Die Bildhauer konnten weitermachen. Die Bilder wurden jetzt anders interpretiert. Vielleicht ist die Lukasepisode selbst ja auch nichts anderes als die Übertragung eines antiken Topos in die Lebensgeschichte des christlichen Erlösers. Wir reden so viel vom Wechsel. Alles ändere sich, heißt es. Es ändere sich so schnell, dass es ganze Firmen gibt, die behaupten damit ihr Geld zu verdienen, dass sie andere Firmen beraten, wie sie den Wechsel organisieren sollen. Manches aber bleibt sich gleich, so sehr, dass das Medium, in dem und für das es stattfindet, gleichgültig zu sein scheint. Vielleicht musste aber der Schauspieler dem pompejianischen Maler gar nicht Modell sitzen. Vielleicht hat es nie einen wirklichen Schauspieler gegeben, der sich so hinsetzte. Bis man die Fotografie erfand. Von diesem Moment an müssen die Menschen als lebende Bilder funktionieren. Wir müssen jetzt die sein, für die die Künstler uns einst ausgegeben haben.

Musa pensosa - l'immagine dell'intelettuale nell'antichità, a cura die Angelo Bottini, Electa, Milano 2006, 256 zweispaltig bedruckte Seiten, etwa 150 Farb- und 50 Schwarzweiß-Abbildungen, antiquarisch ab 14 Euro.